Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2003. In der SZ bewältigt Timothy Garton Ash schon mal die irakische Vergangenheit. In der FR warnt der malayische Politologe Farish A. Noor vor dem Skeptizismus der asiatischen Völker. In der NZZ unterstreicht der jordanische Publizist Fakhri Saleh die hohen Ansprüche arabischer Intellektueller an die Zivilgesellschaft. Die taz porträtiert Jeffrey Eugenides. Und alle finden: Jelinek nervt hinreißend.

SZ, 14.04.2003

Timothy Garton Ash macht Vorschläge, wie wir mit der versaddammten Vergangenheit des Irak umgehen sollen: mit Kriegsverbrecherprozessen vor einem Internationalen Strafgerichtshof und dem raschen Aufbau einer zivilen Verwaltung. "Man kann die Akten der irakischen Geheimpolizei zwar sehr schnell und effizient durchforsten, wenn man diesen Job einem ehemaligen Leiter der CIA übergibt - aber würden die Iraker das dann jemals als legitim akzeptieren? Und wird man dem Fernsehsender Al-Dschassira den gleichen Zugang zu den Archiven gewähren wie CNN? Und wer sollte in einer möglichen irakischen Wahrheitskommission sitzen? Wer sind die moralischen Autoritäten im Land selbst? Würde ein Kurde moralisch über Sunni, Shia oder über kurdische Exilanten richten können, und könnte ein Exilant über die richten, die geblieben sind und leiden mussten?" Hier das Original des Artikels aus dem Guardian.

Völlig aus dem Häuschen ist Helmut Schödel über die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Werk" in Wien. "Einen Regisseur für diesen Abend zu finden, war nicht einfach. Elfriede Jelinek hat das 'Werk' posthum Einar Schleef gewidmet und erinnert damit an den Mythos einer nicht überbietbaren Aufführung: Schleefs Inszenierung von Jelineks 'Sportstück' ... Das ist inzwischen ein Stück Theatergeschichte. Der sich trotzdem traute, war Nicolas Stemann, ein junger, mit großen Hoffnungen belasteter Regisseur, der dann in einem wahren Geniestreich den neuen Jelinek-Text in zwei Stunden aufrauschen ließ. Es ist eine wahre Theatersensation und der Bedeutung der Schleef?schen Arbeit vollkommen vergleichbar.

Weitere Artikel: Ira Mazzoni ist verzweifelt über die Plünderung des irakischen Nationalmuseums, ein Verbrechen an der Menschheit. (Mehr über das Museum erfahren Sie aus einem Beitrag mit Videotour von CNN zur Wiedereröffnung vor drei Jahren.) Dazu der Appell eines irakischen Archäologen an Präsident Bush. Dorothee Müller schlendert über die Mailänder Möbeldesign-Messe und kann sich eigentlich nur für die regenbogenfarbenen Pace-Fahnen begeistern, die draußen von den Balkonen hängen. Gottfried Knapp wägt die städtebaulichen Vor- und Nachteile ab, die eine olympiagerechte Gestaltung Leipzigs mit sich bringt. Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf Le Tigre, der schrottreife französische Flugzeuträger Clemenceau, der heute in Toulon versteigert wird. Andreas Bernard sinniert über die Latte Macchiatisierung seines Univiertels und das damit einhergehende Verschwinden des Heimeligen. Willi Winkler schreibt zum Tod der Sängerin "Little Eva" Narcissus Boyd (mehr hier). Außerdem gibt es eine kurze Meldung zum Tod des Kameramanns Jean-Yves Escoffier.

Auf der Medienseite klärt uns Christoph Maria Fröhder in seinem Tagebuch aus Bagdad über die journalistische Zwei-Klassengesellschaft auf - aus Bagdad darf berichten, wer Amerikaner ist. Gregor Gysi redet über das etwas plötzliche Ende seiner MDR-Karriere. Christian Zaschke kritisiert Journalisten, die sich für die Olympia-Bewerbung diverser Städte haben einspannen lassen. Und Michael Jürgs widmet sich in der Serie über Große Journalisten dem "Spiegel"-Mythos des Rudolf Augstein.

Besprochen werden der indische Kinoerfolg "Sometimes Happy, Sometimes Sad", ein pannenfreier Auftritt von "Lucky Luciano" Pavarotti in der Münchner Olympiahalle, die Uraufführung von Klaus Pohls "Seele des Dichters - Unheimliches Lokal" unter eigener Regie in Bochum, das Scheitern von Dirigent Simon Rattle und Regisseur Nikolaus Lehnhoff am "Fidelio" in Salzburg und viele Bücher, darunter Ludwig Fels' beeindruckender Roman "Krums Versuchung", zwei neue Studien über die Hypnose, sowie zwei Blitzbücher über Amerikas Blitzkrieg (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 14.04.2003

Fünf lange Jahre mussten Österreich und Barbara Villiger Heilig ohne neues Stück von Elfriede Jelinek darben, um so hingerissener ist Villiger Heilig jetzt vom neuen Stück "Das Werk": "Sie nervt, die beste lebende Dramatikerin Österreichs mit dem Ehrentitel der Nestbeschmutzerin, wenn sie unermüdlich den Zeigfinger auf die bekannten (aber egal) Schandflecken des Vater- oder besser Mutterlandes richtet und in ihrer wasserfallartigen Schmährede jegliche Wiedergutmachungsversuche einerseits, anderseits sich selbst gleich auch noch verspottet. Absolut hinreißend nervt sie, unter Mithilfe von Dichtern und Denkern und Werbeagenturen - wie üblich collagiert und verballhornt ihr Text Zitate von hier und dort -; doch das kann jeder für sich nachlesen auf den 160 absatzlos bedruckten Seiten. Was Nicolas Stemann aus dem dramatischen Unding macht, muss man hingegen sehen."

Der jordanische Publizist Fakhri Saleh fasst Stimmen arabischer Intellektueller zusammen, deren bekanntlich hohen Ansprüchen eine Zwangsdemokratisierung des Irak nicht genügen kann. "Intellektuelle und Schriftsteller, Geisteswissenschafter und politische Analytiker teilen zwar durchaus die Ansicht, dass eine derartige Veränderung dringend Not täte - gegenüber der amerikanischen 'Demokratie- Offensive' freilich überwiegt das Misstrauen. Kann eine Demokratie funktionieren, wenn sie von fremder Hand aufgezwungen wird? Ist es der Regierung Bush ernst mit ihrem Vorhaben, im Irak eine 'Zivilgesellschaft' zu schaffen - und wird sie einer Regierung zustimmen, die tatsächlich demokratisch gewählt ist und sich nicht lediglich aus von den USA handverlesenen Exponenten der irakischen Opposition rekrutiert?""

Zu einem EU-Beitritt der Türkei schickt der irische Schriftsteller Colm Toibin einige "Gedanken von der Peripherie". Rückständiger, als es das katholisch-repressive Irland  1973 war, ist die Türkei heute auch nicht: "Beispielsweise standen alle unsere weiterführenden Schulen unter kirchlicher Leitung; bis 1966 unterlagen Bücher einer drakonischen Zensur; bei unserem Eintritt in die EG sah das Gesetz für Kapitalverbrechen noch immer die Todesstrafe vor; es gab keine Scheidung; Verhütungsmittel waren verboten; Schwangerschaftsabbrüche waren (und sind immer noch) strafbar; Frauen konnten keine Geschworenen werden; homosexuelle Handlungen zwischen Männern waren verboten."

Besprochen werden Giordanos Oper "Andrea Chenier" in Bern, Chorkonzerte beim Lucerne Festival und eine Ausstellung von Wandbehängen des Jugendstils aus der Scherrebek-Webschule in Krefeld.

FR, 14.04.2003

Die asiatischen Staaten stehen vor einer Zerreißprobe, warnt Politikwissenschaftler Farish A. Noor vom Institute of Strategic and International Studies in Kuala Lumpur in seinem Kommentar. Denn während die Regierungen die USA aus wirtschaftlichen Gründen nicht verärgern wollen, gehen die Menschen in Indonesien, Thailand oder Malaysia auf die Straße. Selbst die Philippinen, einst wichtiger amerikanischer Vorposten gegen den Kommunismus, sind in Aufruhr. "Viele Menschen in Südostasien sind skeptisch und besorgt. Darunter finden sich nicht nur, wie es mitunter in den Medien dargestellt wurde, die in Malaysia und Indonesien lebenden Muslime. Nein, vielmehr protestieren ebenso Linke, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter, und zwar auch in Ländern wie Thailand und den Philippinen."

Weiteres: Mit "Bratwurst und Brezeln", weiß Petra Kohse, demonstriert der harte Kern der Friedensbewegung in Berlin weiter gegen den Krieg, obwohl der schon vorbei ist. In Times mager verteilt Jürgen Roth Pappnasenpunkte an den Blondinenforscher und Champagnerverehrer Theodor W. Adorno. Daniel Kothenschulte vergleicht den jungen deutschen Film mt seinem erfolgreichen japanischen Pendant. Meldungen berichten von einer geschäftlich erfolgreichen Kunstmesse in Köln und dem finanziell gefährdeten NS-Dokumentationszentrum in Berlin.

Auf der Medienseite stellt Bernd Ludermann die mutigen neuen privaten Zeitungen in Togo vor, hervorgegangen aus der demokratischen Protestbewegung und permanent am Rande des Ruins. Wie der Perlentaucher eben.

Besprechungen widmen sich Ari Folmans grimmiger Filmsatire "Made in Israel", Nicolas Stemanns Uraufführung von Elfriede Jelineks überraschend humorvollem "Werk" in Wien, der Ausstellung "Multiples" mit dem gleichnamigen Zyklus von Martin Kippenberger im Kunstverein Braunschweig sowie Barbara Morgensterns gelassen sympathische dritte CD "Nichts muss".

TAZ, 14.04.2003

Karsten Kredel hat den frischgebackenen Pulitzerpreisträger Jeffrey Eugenides getroffen, der gerade mit seinem Roman "Middlesex" den Pulitzerpreis gewonnen hat (dazu unser Link des Tages), davor aber lange nach seiner Erzählperspektive suchte. "Zwei Jahre lang schrieb Eugenides immer wieder die ersten fünfzig Seiten, dann hatte er ihn. Und ließ ihn abheben: Er fährt hoch über Zeiten und Orte, beweint die Zerstörung der Stadt Smyrna durch die Türken im Jahre 1922, reist über den Ozean, schlüpft durch das Nadelöhr von Ellis Island und nimmt den Zug nach Detroit, wo er an einer Wand Diego Riveras mythisches Panorama der Automobilindustrie entstehen sieht und selbst eines von Jahrzehnten amerikanischer Geschichte entwirft, von der Prohibition bis zum Ende des Vietnamkriegs."

Als Herr Wichmann von der CDU ist er der Star des gleichnamigen Dokumentarfilms (mehr) von Andreas Dresen. Auf der Tagesthemenseite spricht Henryk Wichmann nun darüber, ob er sich denunziert fühlt und - was die taz so wundert - warum er vor einem Kiosk "Einigkeit und Recht und Freiheit" gesungen hat. "Das mag ein bisschen skurril wirken und wars vermutlich auch. Aber ich hab mir das ja nicht ausgesucht: Der Imbissbudenbesitzer hat immer drum gebeten, dass ich unbedingt vor der Wahl noch einen Auftritt bei ihm mache. Wenn dann hinterher der Imbissbudenbesitzer sagt, er macht die Nationalhymne an, dann singe ich mit, da steh ich nicht dumm daneben."

Weitere Artikel: Selim Nassib berichtet in seinem Al-Dschasira-Tagebuch von der schrittweisen Wiederherstellung der Ordnung - durch spontane Initiativen von Bevölkerung und Geistlichkeit und nicht der Amerikaner. Auf der Medienseite freut sich Mareke Aden über die wachsende journalistische Sorgfalt bei der Kriegsberichterstattung. Allen voran der britische Guardian, der auf seiner Website eine sogenannte War Watch eingeführt hat. Dort werden alle Widersprüche aufgelistet, die der Vergleich der verschiedenen Nachrichtenquellen zum Irakkrieg zu Tage bringt.

Besprochen werden der etwas müde Auftritt Marylin Mansons in Berlin und die Aufführung "Le Dernier Caravanserail (Odyssees)" von Ariane Mnouchkines Kompanie im Theatre du Soleil.

Schließlich Tom.

FAZ, 14.04.2003

Auch wenn es begrüßenswert sei, dass Saddam gestürzt wurde, rechtfertigt dies noch nicht den Krieg - auch nicht im nachhinein, meint der Rechtsphilosoph Wolfgang Kersting: "Wenn das Recht nicht mehr die Grenzen zieht, innerhalb derer in der privaten, öffentlichen und internationalen Welt auf friedliche Weise nach der Verwirklichung des Besseren gestrebt wird, wenn vielmehr umgekehrt der Zweck sich absolut setzt und alle Handlungen nur noch daraufhin betrachtet werden, inwieweit sie ihm dienlich sind, verwandelt sich die Ordnung der Freiheit in eine Diktatur des Guten. Und diejenigen, die den völkerrechtlichen Legitimationsdiskurs aufgeben und ihn durch ein Legitimationsargument der guten Folgen ersetzen, machen sich zu Komplizen."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko kommentiert die "Heimsuchung des Nationalmuseums" in Bagdad. Auch Michael Siebler macht sich Sorgen um das historische Erbe im Irak. Siegfried Stadler freut sich über die Kür Leipzigs zum deutschen Olympiakandidaten. Eberhard Rathgeb verarbeitet die Niederlage Hamburgs. Die Genforscherin Lee Rowen macht darauf aufmerksam, dass "heute in Washington die Endversion der Humangenomsequenz vorgestellt wird" und bewertet dies als ein historisches Datum.

Auf der Medienseite wird eine von der FAZ in Auftrag gegebene Studie des Instituts Medientenor vorgestellt, in der die Kriegsberichterstattung der deutschen Sender mit BBC und ABC verglichen wird - unter anderem kommt sie zu dem Schluss, dass die deutschen Sender sich kaum für Saddams Terror interessierten. Für die letzte Seite besucht Paul Ingendaay spanische Gefallenendenkmäler. Susanne Klingenstein stellt den Schweizer Molekularbiologen Christoph von Arb vor, der in der Nähe des MIT und der Harvard Universität ein Schweizer Konsulat leitet, das sich allein dem Transfer neuer Technologien widmet. Und Kerstin Holm berichtet aus Moskau über eine neue Klage, mit der Putin-nahe Kreise den Schriftsteller Wladimir Sorokin ("Der himmelblaue Speck") mürbe machen wollen.

Besprochen werden Elfriede Jelineks Stück "Das Werk" im Wiener Akademietheater ("Ist denn eine so leichte, ranke Jelinek noch Jelinek?", fragt Erna Lackner), der Salzburger "Fidelio" unter Nikolaus Lehnhoff und Simon Rattle (für Gerhard Koch ein "seltsam matter Abend" in "seltsam sämigem Sound"), ein Jazzabend mit Paul Kuhn in Frankfurt, Klaus Pohls Stück "Seele des Dichters" in Bochum, eine "Traviata" an der Berliner Staatsoper unter Daniel Barenboim und Peter Mussbach, bei der einem Drittel des Publikums die Sicht auf die Bühne genommen war und Sachbücher, darunter Marcia Pallys "Lob der Kritik" (Leseprobe).