Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2003. In der FAZ attackiert Hans Magnus Enzensberger die "Mahner und Warner": Dies sei nicht ihre erste Blamage. In der NZZ erklärt der serbische Autor David Albahari, warum er nicht an den gerechten Krieg glaubt. Die SZ ist erleichtert: Die wichtigsten Museumsstücke des Irak blieben verschont - dank des Embargos. Die taz meint: Die Amerikaner ließen absichtlich plündern. Die FR meint: Die Amerikaner ließen aus Ignoranz plündern. Im Tagesspiegel definiert Peter Sloterdijk das Denktempo der Menschheit.

FAZ, 15.04.2003

Hans Magnus Enzensberger nutzt die Stunde zur Abrechnung mit der Friedensbewegung: "Es ist nicht die erste Blamage der Warner und Mahner; nicht zum ersten Mal haben sich die Sorgenfalten, welche die deutsche Stirn furchen, als voreilig erwiesen. Es ist noch nicht sehr lange her, da galt die DDR hierzulande als unerschütterlich; sie wurde für eine der erfolgreichsten Industrienationen der Welt gehalten; die Sozialdemokratie tat alles, um mit der SED ins einvernehmliche Gespräch zu kommen; die polnische Solidarnosc wurde dabei als gefährlicher Störenfried betrachtet. Stabilität war alles, die Sowjetunion ein unbesiegbarer Koloss, den nur die Amerikaner und andere kalte Krieger reizten, während die heroischen Belagerer von Mutlangen sich gegen die provozierende Nachrüstung der Vereinigten Staaten ins Zeug legten. Sonderbar und für viele Linke höchst ärgerlich, dass der Koloss auf tönernen Füßen stand!"

Weitere Artikel: Heinrich Wefing erinnert daran, dass der heutige Irak vor 750 Jahren schon mal erobert wurde, von den Mongolen nämlich, und damals gingen "die Eroberer in einer schier grenzenlosen Kultur beinahe so rückstandslos auf wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser. Das mag für alle, die jetzt eine brutale Verwestlichung des Irak befürchten, etwas Erfrischendes haben." Das County Musueum of Art in Los Angeles widmet dieser Episode eine Ausstellung. Kerstin Holm schickt ein sehr spöttisches Resümee vom "Kongress der Besiegten" Russland, Frankreich und Deutschland in Sankt Petersburg: "Von Europa lernen heißt für Russland, die Kunst erlernen, Niederlagen würdig zu ertragen." Matthias Oppermann berichtet von einem Kongress über Raymond Aron, wo man sich auch die Frage stellte, ob Aron den Krieg gegen den Irak befürwortet hätte (wahrscheinlich ja, meinte der ungarische Philosoph Sandor Csizmadia). Wolfgang Sandner hat die Estnischen Musiktage in Tallinn besucht. Paul Ingendaay meldet, dass Claudio Magris von Javier Marias, dem König der unbewohnten Karbikinsel Redonda, zum Fürsten von Redonda ernannt wurde. Wolfgang Schneider resümiert ein Berliner Symposion über Popliteratur. Gemeldet wird, dass die Unesco eine Polizeitruppe zum Schutz der Kulturgüter im Irak fordert.

Für die letzte Seite besucht Dieter Bartetzko einige baugeschichtliche Kleinode in den Neuen Ländern wie Naumburg und Weißenfels und findet neben vorbildlich restaurierten Monumenten auch solche in "grässlich verfallenem" Zustand. Gina Thomas meldet, dass die Briten mit ihrem Sinn fürs Komische den irakischen Informationsminister Muhammad Sajid al Sahaf ins Herz schlossen, schon weil er noch "leugnete, dass die Amerikaner Bagdad erreicht hatten, während ihm einige Marines auf der gegenüberliegenden Straßenseite zuhörten". Und Christoph Albrecht glossiert Naomi Kleins Glossen zum Irak-Krieg im Guardian. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Walter Rodgers, einem Kriegsreporter von CNN. Und Gina Thomas verfolgte einen Prozess von Michael Douglas und Catherine Zeta-Jones gegen Paparazzi, die heimliche Fotos von ihrer Hochzeit schossen. Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert Joachim Kalka anhand von Publikationen aus den letzten Jahren an Karl Kraus und seine Fackel. Joseph Hanimann schildert den erbärmlichen Zustand der französischen Literaturkritik, findet den Vorwurf der Korruption aber übertrieben.

Besprochen werden Theaterstücke von Federico Garcia Lorca und Andrej Tarkowskij in Hamburg, die Videoarbeit "Roundelay" des Schweizer Künstlers Ugo Rondinone im Centre Pompidou, der Film "After Life" von Hirokazu Kore-eda und Werner Schneyders Stück "Galanacht" in Berlin.

NZZ, 15.04.2003

Andreas Breitenstein spricht mit dem in Kanada lebenden serbischen Schriftsteller David Albahari über seine Poetik, den Irak-Krieg und die Parallelen zu Serbien: "Ich glaube nicht an einen 'gerechten Krieg'. Wenn es das Ziel war, das Morden in Kosovo zu stoppen, wozu wurde dann ein so großer Teil der serbischen Industrie zerstört? Was als Strafe gegen das Milosevic-Regime gedacht war, kehrte sich gegen das serbische Volk. Wenn immer man von einem 'gerechten Krieg' spricht, muss man gewahr sein, dass man sich auf einem schmalen Grat bewegt und leicht abstürzen kann."

Peter Schäfer berichtet über die Arbeit der israelischen Frauengruppe Machsom-Watch, die seit fast zwei Jahren die Vorgänge an den Militärposten rund um Ostjerusalem beobachten und dokumentieren. Dabei ist ihre Strategie ganz einfach: "Wir konfrontieren die Wachsoldaten mit ihrer Willkür", falls den "Wehrpflichtigen die Absurdität ihrer Handlung klar wird, geben sie nach".

Besprochen werden: Erich Wolfgang Korngolds "Die tote Stadt" am Opernhaus Zürich, zwei Kurzopern des Komponisten Pascal Dusapin in Lausanne, eine Ausstellung über sowjetische Dessous im Wiener Museum für Volkskunde ("Das Darunter ist kein Refugium des Privaten, sondern eine auf den Punkt gebrachte sozialistische Öffentlichkeit.") und Bücher, darunter eine "Geschichte einer afghanischen Familie" und Walter Kliers "Geschichte aus dem 20. Jahrhundert" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 15.04.2003

Brigitte Werneburg möchte hinter der Plünderung der Irakischen Museen nicht allein Ahnungslosigkeit der Alliierten erkennen, sondern Absicht: "Ein bisschen Plünderung, die - wie Herr Rumsfeld meint - eben zum Krieg gehört, war offensichtlich gewollt. Erfahrung hatte man ja schon aus dem Golfkrieg 1991, in dem einige Regionalmuseen ausgeraubt wurden. Von den 4.000 damals verlorenen Stücken sind bislang vier wieder aufgetaucht. Für viele der Stücke dürfte gelten, was ACCP-Gründer Ashton Hawkins im Art Newspaper zum Besten gab: 'Manchmal ist die Verstreuung von Kulturgütern ein Garant für deren Erhaltung.'" Der American Council for Cultural Policy ist ein Lobbygruppe, die bereits gefordert hatte, die Ausfuhrvorschriften für irakische Antiquitäten zu lockern. Den offenen Brief verschiedener archäologischer Institutionen gegen die Pläne des ACCP finden Sie im Guardian.

Der britische Archäologe Alex Hunt fürchtet im Interview, dass London zum vorrangigen Handelsplatz für gestohlene Kultugüter aus dem Irak werden könnte: "Wir haben hier bis heute weder eine strenge Import- noch eine rigide Exportgesetzgebung, was den Handel mit Antiquitäten angeht. Wir sind seit geraumer Zeit Komplizen im Handel mit illegalen Kulturgütern. Der Londoner Antiquitätenmarkt scheint ein ganz besonders lebhafter Platz für den Handel mit Kunstgegenständen aus dubiosen Quellen zu sein."

In seinem Tagebuch über über den Irakkrieg aus Sicht von al-Dschasira bemerkt Selim Nassib, dass der militärische Sieg der Amerikaner mit gesteigertem Misstrauen zur Kenntnis genommen wird.

Besprochen werden das Theaterprogramm des Berliner DisORIENTation-Festival, ein Konzert von Shakira in Berlin und Bücher, darunter Emmanuel Todd Nachruf auf die "Weltmacht USA", Edward Luttwaks Essay "Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden", Pawel Huelles Familienroman "Mercedes-Benz", Tristan Egolfs Roman "Ich und Louise" sowie "Der Weg zum Glück" des Dalai Lama auf CD (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 15.04.2003

Die Plünderungen in Bagdad sind auch das Thema der FR. Christian Thomas gibt der "kulturellen Ignoranz und politischen Arroganz" der US-Armee die Schuld und droht: "Der Vorwurf der Indolenz nicht zuletzt gegenüber den ersten Zeugnissen der Alten Welt wird den Amerikanern auf unmissverständliche Weise nachgehen. Nämlich wie ein neues Lauffeuer, mit dem sich weltweit ein weiterer Antiamerikanismus ausbreitet." Und der Berliner Archäologe Claus-Peter Haase ärgert sich im Interview über seine "Blauäugigkeit".

Matthias Dell erkennt im Film "Good Bye, Lenin" im sanften Helden den typischen Protagonisten des DDR-Films: "Der ostdeutsche Held erscheint nicht als kantiger Revoluzzer, sondern ist ein abwägender Vernunftsmensch, der zu seinen Mitteln Normalität und Pragmatismus gewählt hat. Wer in der DDR Opposition betrieb, musste nicht wie Rudi Dutschke oder Andreas Baader aussehen - es genügte der gesunde Menschenverstand, dessen Phänotyp die völlige Durchschnittlichkeit war, um der zur Fassade erstarrten Durchführung des Sozialismus die Stirn zu bieten."

Weitere Artikel: Andreas Fischer-Lescano wägt die völkerrechtlichen Konsequenzen des Irakkriegs ab und sieht das Problem vor allem im symbolischen Rechtsmissbrauch: "Alle Akteure berufen sich auf das Völkerrecht, und bloße Rechtsbehauptungen sind von der tatsächlichen Rechtsgeltung nur schwer zu trennen." Christian Schlüter berichtet von einer Rotterdamer Tagung zu Hegels Jenaer Schriften. In der Kolumne Times mager knöpft sich "P.I." die europäische Kulturhauptstadt Graz vor.

Besprochen werden die Berliner "La Traviata"-Inszenierung von Peter Mussbach und Daniel Barenboim, Günter Krämers Kölner Uraufführung dreier Operneinakter von Manfred Trojahn, die Vexierspiele "Das endlose Rätsel" im Düsseldorfer Museum Kunst Palast und Nick McDonells Roman "Zwölf" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 15.04.2003

Die SZ lässt Archäologen abschätzen, wie groß die Verluste und Schäden des Irak Museums (mehr hier) sind. Walter Sommerfeld, Professor für Altorientalistik an der Universität Marburg, fürchtet etwa, dass sich die Plünderung (mehr hier) als die "schlimmste Verwüstung seit dem Mongolensturm erweisen" könnte. "Dennoch sind die unersetzlichen Kostbarkeiten wie der Frauenkopf aus Uruk oder der assyrische Goldschatz von den Plünderungen wahrscheinlich nicht betroffen. Sie waren im Museum schon seit Jahren nicht zu sehen; an ihrer Stelle standen Nachbildungen oder Pappschilder in den Vitrinen. Denn aufgrund des Embargos durften die Iraker in ihrem Museum weder eine Alarmanlage einbauen noch eine Klimaanlage. Derartige Anlagen, so hieß es, seien auch militärisch nutzbar. So waren die Objekte im Bagdader Museum über Jahre Temperaturschwankungen von fast 50 Grad ausgesetzt. Texte erodierten, Metalle verwitterten, Kalkstatuetten wurden unkenntlich. Dieses Risiko wollte man für die wertvollsten Stücke nicht eingehen. Sie wurden in den Tresor der Zentralbank ausgelagert."

Weitere Artikel: Vor dem ökumenischen Kirchentag erklärt Walter Kardinal Kasper, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen (mehr hier), sein Verständnis von Ökumene und warum die Heiligen für Katholiken und Lutheraner "Modell der Einheit" sein können. Arno Orzessek berichtet von Historiker-Treffen "hist 2003", bei dem sich die Professoren eine Entgoogelung der Disziplin wünschten. Zum Siebzigsten gratuliert Oliver Fuchs dem Fotografen David Hamilton (mehr hier), für dessen Nymphen und Lolitas der Weichzeichner erfunden worden zu sein scheint.

Auf der Medienseite warnt Hans Leyendecker noch einmal vor den Desinformationskampagnen des Pentagons, ebenso wie vor irakischen Ingenieuren, die sich mit angeblichen Wunderwaffen dicke tun.

Besprochen werden Daniel Barenboims "La-Traviata"-Aufführung mit Christine Schäfer als Violetta - alles im Geiste Wagners und von höchstem Feinschliff, weiter Sebastian Hartmanns Tarkowskij-Adaption "Opfer" am Hamburger Schauspielhaus, Stephen Hereks Film "Life or something like it", eine Schau des plastischen Werks von Ernst Ludwig Kirchner in der Staatsgalerie Stuttgart und Bücher, darunter eine kritische Werkausgabe des Lyrikers Erich Arendt, Wolfgang Kriegers Band "Geheimdienste in der Weltgeschichte", Ulrike Kolbs Roman "Diese eine Nacht" und Albini Zöllners Erzählungen "Schokoladenkind" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 15.04.2003

Im Tagesspiegel unterhalten sich Thomas Eckert und Joachim Huber mit Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski über Philosophie im Fernsehen und ihr so prickelndes "Philosophisches Quartett": "Es gibt die romantische Vorstellung des vollkommen entgrenzten Diskurses", räsonniert Sloterdijk. "Aber die meisten Menschen denken nur alle zehn Jahre einen neuen Gedanken." Während Sloterdijk bekanntlich schon alle 800 Seiten so weit ist.