Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2003. In der SZ schreibt Gilles Kepel über das Wiedererstarken der Schiiten im Irak. Die NZZ polemisiert gegen das deutsche Feuilleton aus ausländischer Sicht. In der taz analysiert die israelische Historikerin Idith Zertal das fatale Verhältnis Israels zum Holocaust. Die FAZ sucht nach Kontinuitäten in der Politik der KP Chinas einst und heute.

SZ, 26.04.2003

Der Islam-Experte Gilles Kepel (mehr hier und hier) klärt uns im Interview auf, warum das Wiedererstarken der Schiiten im Irak so wichtig ist (noch ein Interview zum islamischen Fundamentalismus). "Die religiösen Zentren - Nadschaf, eine Art schiitischer Vatikan, und Kerbala, das man, um im Bild zu bleiben, als Jerusalem bezeichnen müsste, denn Hussein wurde hier im Kampf getötet - waren unzugänglich, eben weil sie all die Jahre im Herrschaftsgebiet von Saddam lagen. Durch die Befreiung des Irak entsteht plötzlich ein territoriales und symbolisches Kontinuum, das sich von Pakistan - wo allein 32 Millionen Schiiten leben - über Iran, den Irak, Kuwait und Bahrain bis nach Saudi-Arabien erstreckt. So kann sich der eine Pol des Islam, der bislang zersplittert war und nun, da er sein Zentrum wiedergefunden hat, über die größten Ölvorkommen der Welt verfügt, in Zukunft dem anderen, sunnitischen Pol entgegenstellen."

Weitere Artikel: Adrian Kreye beschreibt die USA als Imperium voller Selbstzweifel und Identitätsschwund. "bgr" macht uns auf eine amerikanische Denunzianten-Seite aufmerksam, wo sich Künstler und Schauspieler wiederfinden, die sich "offensiv" gegen Land und Präsidenten geäußert haben, also etwa über Frieden nachgedacht haben. Sonja Zekri berichtet über Einstellung des Pornografie-Prozesses gegen den russischen Schriftsteller Wladimir Sorokin, der allerdings bald wieder vor den Kadi muss. Wolfgang Eckart rekapituliert zum achtzigsten Jahrestag des Absinth-Verbots in Deutschland die Rolle der grünen Fee als Kultgetränk einer ganzen Epoche. Peter Jaspers kommentiert in der Reihe der Briefe aus dem 20. Jahrhundert ein Schreiben von Karl Jaspers an Hannah Arendt aus dem Jahr 1960. Willi Winkler versteht die ganze Aufregung um die geplante Rente mit 67 gar nicht. "jüb" schreibt von den Querelen, die zwischen Freiburg, Heidelberg und Heilbronn wegen der geplanten Ballettkooperation ausgebrochen sind. Michael Ott ist tief enttäuscht von Carl Lewis, der gedopten Leichtathletiklegende. Eine Meldung besagt, dass der Science-Fiction-Blockbuster X-Men2 mit rekordträchtigen 11000 Kopien in 80 Ländern anläuft.

Besprochen werden das Theaterprojekt zum Sterben der Gruppe Rimini Protokoll in Hamburg, "Phantom der Lust", eine grandiose Grazer Ausstellung zum Phänomen des Masochismus in der Kunst, Andrzej Bartkowiaks Kino- Coup Nr.3 "Born 2 Die", und Bücher, darunter Josef Beckers lückenlose Quellenedition zur Vorgeschichte des Krieges von 1870/71, Paul von Schells Fotoband "Hilde - Meine Liebeserklärung an Hildegard Knef" sowie Burkhard Spinnens beinahe mutige Geschichte eines schwäbischen Unternehmers, "Der schwarze Grat" (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite verrät uns Schauspielerin Veronica Ferres im Interview, dass man als Star nicht nur Erfolg haben, sondern auch ständig Schlagzeilen liefern muss. Claudia Tieschky offenbart, warum sich Springer und Burda mit verwechselbaren Frauenzeitschriften bekriegen. Gerhard Fischer empfiehlt eine Dokumentation (hier im Netz), die dem dänischen Regierungschef und Berlusconi-Freund Fogh Rasmussen angenehm nah auf die Pelle rückt.

In der SZ am Wochenende erlebt Thomas Lehr (Buch) seine Heimat, die Pfalz, indem er sie besteigt. Besser gesagt, den Asselstein, von dem auch der Dom zu Speyer seine Steine hat. "Das über 50 Millionen Jahre alte, gut 50 Meter hohe verwitterte Piratenschiff, auf dessen Sonnenbänken sich die Eidechsen tummeln, und das tausendjährige romanische Kirchenschiff mit seinen 70 Meter hohen Raketentürmen sind Brüder im Steine, sie bestehen aus dem gleichen Material. Zahllose Gebäude in der Pfalz sind aus ihm errichtet worden ... Hinzu kommt eine Legion von Gegenständen des täglichen Bedarfs wie Waschtröge, Schweinetränken, Open- Air-Kruzifixe, Brünnlein und Kanonenkugeln. Man bräuchte nur eine Zahnbürste oder eine Unterhose aus ihm zu machen, schon hätte man eine aussagekräftige künstlerische Karikatur des Landes. Denn der Buntsandstein bildet die Substanz der Pfalz, ihre Urmaterie, den Stoff, aus dem ihre nüchterne und zugleich poetische Wirklichkeit ist."

Außerdem: Willi Winkler räsoniert über Opferbilder von Lessing bis zu Rumsfeld und über unsere Unfähigkeit, wegzuschauen. Roman Pletter rollt den Fall Zurwehme noch einmal auf und besucht dazu die Kinder zweier Opfer des Freigängers. Claus Heinrich Meyer porträtiert Karl Heinz Schmitt, seines Zeichens ehemaliger oberster Parlamentsdiener des Deutschen Bundestages, als der noch in Bonn tagte. Und Robert Lücke plaudert mit dem besten Koch Deutschlands, Harald Wohlfahrt vom Hotel Traube Tonbach, über den Sinn von 28-Gänge-Menüs und den Unsinn des "Geiz ist geil"-Mantras.

NZZ, 26.04.2003

Martin Meyer polemisiert aus ausländischer Sicht gegen die Reaktionen des deutschen Feuilletons auf den Irakkrieg: "Weshalb dieser Furor? Diese oftmals sehr einseitig gegen Amerika orchestrierte Ästhetik des Entsetzens? Schwer zu sagen. Man dürfte vielleicht vermuten, dass hier noch immer eine 'maladie allemande' geistert, nämlich der geschichtlich lange Zeit vorherrschend gewesene Bruch zwischen Politik und Philosophie. Als Hellmuth Plessner sein Buch 'Die verspätete Nation' in erster Auflage 1935 vorlegte, diagnostizierte er für Deutschland die folgenreich verzögerte Bildung eines nationalen Selbstbewusstseins. Anderseits sei deshalb - und gleichsam kompensatorisch - die philosophisch ergiebige und zugleich weltferne Innerlichkeit der kritischen Spekulation in die Welt gesetzt worden. In der Tat zieht sich von Schopenhauer und Nietzsche über Heidegger bis zu Horkheimer und Adorno eine Spur von Anti-Politik durch die deutsche Geisteslandschaft. Sie führt mit sich den Theorie gewordenen Argwohn, dass jeder Politik zu misstrauen sei, vor allem aber jener, die sich - vorgeblich - an den Realitäten und an der Pragmatik des Handelns orientiere."

Besprochen wird die Ausstellung "3 Städte: Verlassene Stadt - Ersatzstadt - Ungebaute Stadt" in der Kunsthalle Düsseldorf, Armin Petras' Inszenierung von Hebbels "Maria Magdalena" in Frankfurt und die Ausstellung "Olafur Eliasson - Sonne statt Regen" im Kunstbau München (mehr über Eliasson hier).

In Literatur und Kunst zieht der Hallenser Archäologe Winfried Orthmann eine sehr ausführliche und tief bestürzte Bilanz der Plünderungen in Bagdad: " Das Irak-Museum mit seinen Schätzen aus allen Perioden der mesopotamischen Zivilisation war - insgesamt betrachtet - für die orientalische Archäologie und Geschichtswissenschaft von ähnlich einmaliger Bedeutung, wie es das ägyptische Museum in Kairo für die Ägyptologen ist", schließt er mit tragischer Nüchternheit. Die Redaktion gibt zwei sehr instruktive Links zum Bagdad Museum und zu einer reich illustrierten Schadensbilanz der Universität von Chicago.

Weitere Artikel: Jochen Greven wirft anhand zum Teil unveröffentlichter Briefe einen Blick auf Das Verhältnis zwischen Hermann Hesse und Robert Walser. Beatrice von Matt bespricht dazu zwei Walser-Neuerscheinungen. Außerdem setzt Literatur und Kunst einen China-Schwerpunkt. Matthias Messmer erinnert an die "Foreign Experts", nützliche Idioten des Regimes aus westlichen Ländern, die Messmer als "Charakterköpfe, die für ein Ideal lebten" ansieht. Urs Schoettli unterhält sich mit fünf jüngeren Schriftstellern und diagnostiziert bei ihnen ein "ausgesprochen individuell geprägtes Denken und Urteilen". Und Irmy Schweiger stellt Wolfgang Kubins neunbändige Geschichte der chinesischen Literatur vor.

TAZ, 26.04.2003

Opfer I: Die israelische Historikerin Idith Zertal (mehr hier) analysiert in einem langen Artikel Israels verhängnisvollen Umgang mit dem Holocaust. Das unablässige Beschwören einer drohenden erneuten Shoa wird nicht nur als Rechtfertigung für jeden neuen Krieg herangezogen, sie radikalisiert auch die Innenpolitik. "Ein Bürger Israels namens Jigal Amir, 'das Salz der Erde', ein leidenschaftlicher Zionist, Reservesoldat, hingebungsvoller und gebildeter Anhänger von Eretz Israel, nahm dies alles ernst und beschloss, das Heimatland vor einer zweiten Shoah zu retten, indem er Jitzhak Rabin ermordete: einen Premierminister, der es auf sich genommen hatte, den Konflikt zu historisieren, zu politisieren und eine rationale Lösung für ihn zu finden. War ihm, diesem fleißigen Studenten, nicht schließlich gesagt worden, dass derjenige, der auch nur einen Zoll der Erde Israels aufgibt, sein Volk verrät?"

Opfer II: Bernd Müllender befasst sich auf der Tagesthemenseite mit der Generation der deutschen Kriegskinder, von denen Psychologen wissen. "Sie ertragen Schmerzen sehr gut, sind extrem harmoniebedürftig, anpassungsfähig bis zur Selbstverleugnung, können gut Geschichten erzählen, aber wenig von sich. Sie sind konfliktscheu, dafür stets verlässlich. Bloß nichts tun, worüber andere reden könnten. Volle Deckung als Lebensprinzip - erst bei Fliegeralarm, dann im zivilen Leben." Dazu gibt es noch ein Interview mit der Familientherapeutin Irene Wielpütz über die seelischen Wunden der Kriegskinder und ihr Problem mit dem Irakkrieg.

Auf der Medienseite wundert sich Heiko Dilk über die angstfreie ZDF-Korrespondent-Maschine Ulrich Tilgner, die gerade aus Bagdad zurückgekehrt ist. "'Da sind eine Stunde nach einem Luftangriff 5.000 Menschen auf der Straße, 2 oder 3 davon trifft es vielleicht beim nächsten Angriff.' Sein Ergebnis: Gefahr gering." Silke Burmester sieht schon Welt-Redakteure mit der Zeitung durch Restaurants tingeln, um Auflage und Arbeitsplatz zu erhalten.

Besprochen werden das "Schreibstück", eine Partitur für Tanz und Theater von Thomas Lehmen, das europaweit in immer neuen Versionen auf die Bühne kommt, und György Palfis fast wortloser Film "Hukkle - Das Dorf".

Dorothee Wenner hat sich für das tazmag mit dem Exilkoreaner Du-Yul Song unterhalten. Der Philosoph organisiert seit acht Jahren informelle Treffen zwischen nord- und südkoreanischen Intellektuellen (Hintergrund) und spricht über sein Leben als Borderrider und die semantischen Aspekte der Trennung. "Nach fünf Jahrzehnten der Teilung sprechen Nord- und Südkorea einfach nicht mehr die gleiche Sprache. Geht es beispielsweise um die politische Führung, wendet der Süden stets den Plural, der Norden den Singular an: Solche Feinheiten gilt es genauestens zu beachten und gegebenenfalls zu ändern. Um als politischer Dolmetscher die Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden und Gespräche in Gang zu bringen, muss ich zudem entscheiden, welche Informationen ich weiterleiten kann und welche ich - noch - zurückhalten muss."

Weitere Artikel: Henning Kober widmet sich dem Amoklauf von Erfurt (aktuelle Entwicklungen in Erfurts Schullandschaft hier). Ein Jahr danach hat er sich mit drei Gutenbergschülern unterhalten. "Es stinkt. Emanuel, der neben Matthias steht, nimmt seinen Rucksack vom Rücken. Ein Projektil, abgefeuert aus einer von Steinhäusers Waffen, hat den Stoff zerrissen, den Malkasten darin in feinen Staub zerlegt." Florian Harms kann nur den Kopf schütteln über die Pläne russischer Geschäftsleute, Tschernobyl (17 Jahre danach) zu einer Touristenatteaktion zu machen. Und wir finden einen üppigen Vorabdruck aus Jenni Zylkas Buch "1000 neue Dinge, die man bei Schwerelosigkeit tun kann".

Schließlich Tom.

FR, 26.04.2003

"Ludwig Tieck ist gestorben. Der König der Romantik hat das Zepter niedergelegt und ist in jene geheimnisvolle Welt zurückgekehrt, die er ein Menschenleben hindurch zu entschleiern suchte." In Zeit und Bild zitiert Manfred Frank eingangs Hebbels, um dann ausführlich und hingerissen an den vor 150 Jahren gestorbenen Dichter und Literaturpapst zu erinnern. Abgedruckt ist außerdem ein Auszug aus den Memoiren Henrik Steffens, wo er das Schauspieltalent seines Freundes und Zeitgenossen hervorhebt. "Es ist mir nicht vergönnt, den Witz wiederzugeben, der mit der Leichtigkeit des Augenblicks hervortrat und die ganze Darstellung durchdrang. Unsre Lustspieldichter könnten sich glücklich schätzen, wenn es ihnen gegeben wäre, in einem ganzen Lustspiele einen solchen Reichtum des Witzes zu entfalten, wie sich hier in einem jeden Auftritt entwickelte."

Das Feuilleton: Europa ist größer geworden - und keiner freut sich. Klaus Bachmann ärgert sich über die fehlende Weitsicht und das voreilige Gejammere zur EU-Erweiterung. "Zur ersten Nato-Erweiterung gab Bill Clinton in Warschau ein Fest, das ganz auf das US-Publikum abgestimmt war - aber er gab es. Der künftige europäische Außenminister, wenn es ihn geben wird, braucht nicht nur die berühmte Telefonnummer, unter der ihn Henry Kissinger erreichen kann. Er braucht auch das Saxophon von Bill Clinton."

Weitere Artikel: Martin Altmeyer analysiert zum Jahrestag noch einmal Ursachen und Wirkungen des Amoklaufs von Erfurt. Dorothea Marcus zweifelt, ob das neue Tanztheaterdreieck, eine Kooperation der Theater Freiburg, Heidelberg und Heilbronn wirklich funktionieren wird. Renee Zucker attestiert Paul McCartney eine schwere Form von bhava tanha, dem Wunsch, etwas Besonderes sein zu wollen. Michael Tetzlaff unterhält sich mit Michael Rudolf über dessen Buch mit Botschaft, "Morgenbillich - Die Wahrheit über Holger Sudau". Rudolf mag seinen Protagonisten: "Einerseits der vielleicht intelligenteste Mensch der Welt, andererseits der größte Depp weit und breit." Gemeldet wird, dass der Prozess gegen den russischen Skandal-Schriftsteller Wladimir Sorokin wegen angeblicher Pornografie nun eingestellt wurde.

Auf der Medienseite berichtet Jenny Niederstadt von den Plänen der Ministerpräsidenten, Gewinnspiele im Fernsehen künftig zu verbieten - der Genickschuss für Sender a la Neun Live. Besprechungen widmen sich Hebbels "Maria Magdalena" in der Inszenierung von Armin Petras in Frankfurt, Tim Storys sympathischer kleiner HipHop-Komödie "Barber Shop", und Büchern, darunter ein paar Werke rund um das Jubiläum zur Entdeckung der DNA, Vladimir Jankelevitchs "Das Verzeihen", ein Essayband zur Moral- und Kulturphilosophie, sowie Bill Hensons wildromantisches Bildertheater "Lux et Nox".

Im Magazin, aber leider nicht online: das Gespräch mit Vojislav Kostunica, dem Ex-Präsidenten Jugoslawiens, über den Schock des Djindjic-Attentats, die Macht der Mafia und die Zukunft des Balkans.

Der Schriftsteller Martin Suter (Werke) erzählt vom alljährlichen verzweifelten Kampf, im Frühjahr dünner und fitter zu werden. "Er trägt einen Trainingsanzug, von dem er hofft, dass man ihm nicht von weitem ansieht, wie neu er ist. Er war der Anlass für einen Disput mit Kathrin gewesen, die behauptete, der uni Baumwolltrainer sei vom Trainermarkt verschwunden und durch Modelle aus hautfreundlichen, atmungsaktiven Synthetikmaterialien ersetzt worden. Das karibikblaue Modell mit dem neongrünen Diagonalstreifen und der Aufschrift "Iron Man" sei das unauffälligste gewesen. Wenigstens besitzt er zum optischen Ausgleich noch seine alten Turnschuhe aus der Zeit seiner letzten Fitnessphase vor elf Jahren. Die Füße nehmen ja praktisch nicht zu."

Außerdem: Philipp Kohlhofer hat sich im Royal Hospital in London umgesehen, ein Altenheim für müde Krieger, wo sie zwischen Schlachtengemälden und Kriegstrophäen ihre letzte Schlacht schlagen. Cornelia Kurth weiß, wie in Helmstedt Tiere zu Schauspielern werden. Und Ludwig Witzani schreibt aus dem kulturellen Niemandsland, der Touristenmetropole Agadir in Marokko.

FAZ, 26.04.2003

Mark Siemons fragt angesichts der SARS-Seuche nach der Kontinuität in der Politik der KP Chinas und findet sie im Begriff der Masse und im zwanghaften Verbreiten des Eindrucks, man habe sie unter Kontrolle. "Der Umgang mit der Seuche ruft nun in Erinnerung, dass die Partei die Opferzahlen von Katastrophen und eigenen Experimenten immer schon und bis heute als Staatsgeheimnis behandelte, selbst dann, wenn sie sich von der politischen Richtung der seinerzeit verantwortenden Führung längst distanziert hatte. Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Opfer die Kulturrevolution kostete, und noch weniger kennt man die genauen Daten des 'Großen Sprungs nach vorn', bei dem Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre Abermillionen Menschen bei dem Versuch verhungerten..."

Weitere Artikel: Patrick Bahners meditiert über Interviewäußerungen George Bushs über den Irak-Krieg. Vorgestellt wird die SWR-Bestenliste für Mai (im Netz finden wir nur die für April). Kerstin Holm meldet, dass das Pornographie-Verfahren Wladimir Sorokin nach zehn Monaten "absurden Theaters" eingestellt wurde. Verena Lueken liest amerikanische Zeitschriften, die sich mit dem neuen Buch von Susan Sontag über Kriegsfotografie auseinandersetzen und verweist auf einen Artikel aus der New York Review, einen Artikel aus der New York Times Book Review und einen Artikel aus der New Republic. In der "Vermisstenliste" aus den Museen von Bagdad stellt Ralf B. Wartke vom Vorderasiatischen Museum in Berlin die "Warka-Vase" vor, die "als eines der bedeutendsten Beispiele sumerischer Flachbildkunst" gelte. Heinrich Wefing meldet, dass reumütige Plünderer Kunstwerke an die Bagdader Museen zurückgegeben haben. Peter Körte hat im Internet eine "Celebrity Liberal Blacklist" mit den "üblichen Verdächtigen" (Robert Altman etc.) gefunden.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg über die Pläne des französischen Privatsenders TF 1 in Deutschland.

In den Ruinen von Bildern und Zeiten finden wir einen Vorabdruck aus dem Buch "Einspruch! Wider den organisierten Staatsbankrott" des Grünen-Politikers Oswald Metzger. Ein zumindest im Internet namenloser Luhmannianer greift in einem längeren Essay noch mal die jüngste Folterdebatte aus systemtheoretischer Sicht auf.

Besprochen werden Hebbels' "Maria Magdalena" im Schauspiel Frankfurt, eine Ausstellung mit europäischen Russland-Karikaturen in Halle, eine Ausstellung mit Serviettenskizzen im Münchner Architekturmuseum und natürlich Bücher, darunter Daniel Kehlmanns Roman "Ich und Kaminski", Anna Gavaldas Roman "Ich habe sie geliebt" und Andrew Millers Roman "Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens".

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um die neue CD von Madonna, um eine CD von Meat Loaf, um eine Werkschau des Penguin Cafe Orchestra, um eine CD mit unbekannten Material des Stax Labels (vertrieben vom Zyx Label), um neue Aufnahmen von Bach-Kantaten, um die Streichquartette des Norbert Burgmüller

In der Frankfurter Anthologie stellt Günter Kunert ein Gedicht von Paul Scherbart vor. Es trägt den schönen Titel "Kein Gedicht":

"Ich möchte so gern wie ein Vogel
Durch die Lüfte fliegen.
Ich möchte so gern wie ein Löwe
In der Wüste liegen..."