28.04.2003. In der SZ baut Timothy Garton Ash eine neue Brücke zwischen Europa und Amerika. Für die taz besucht Gabriele Goettle einen Müller, der eigentlich Plasmaphysiker gelernt hat. Die NZZ schildert das typische Dilemma des bulgarischen Intellektuellen. Die FAZ macht sich Sorgen um die Buchbranche.
SZ, 28.04.2003
Eine neue Brücke zwischen
Europa und Amerika möchte
Timothy Garton Ash schlagen. Den neuen Westen können die USA nicht alleine bauen,
stellt er in einem
ursprünglich im Magazin der
New York Times veröffentlichten Artikel fest. "Ich will
Schröder und Chirac hier nicht verteidigen. Jeder westliche Führer, einschließlich Bush und Blair, hat sich in der Irakfrage verschätzt, aber diese beiden waren besonders schlimm. Schröder hat opportunistisch in der
Glut des Pazifismus gestochert, um die Macht zu behalten. Chirac warf sich in Pose, um einen neo-gaullistischen Traum von einem Frankreich zu verfolgen, das die nicht-amerikanische Welt anführt. Das
Frankreich-Bashing in Washington aber ging zu weit. (...) Churchill hatte Recht: das Europa, das wir wollen, kann ohne Frankreich nicht gebildet werden. Ein
geteiltes Europa ist weder in unserem Interesse noch in Eurem."
Der Trierer
Sozialwissenschaftler und Dominikanerpater
Wolfgang Ockenfels fordert anlässlich des ersten
ökumenischen Kirchentags den Mut zum Unkonformen. Die Anpassung an den Zeitgeist verhindere den Untergang nicht - ganz im Gegenteil. "
Johannes Paul II. wird wohl als großer Nonkonformist in die Geschichte der Ökumene eingehen und gerade dadurch als ihr wahrer
Avantgardist. Aus seinen Botschaften lesen die ungeduldigen Kritiker, die jahrhundertealte Spaltungen und Entfremdungen in großen Sprüngen überwinden wollen, nur die
Stolpersteine heraus. Obwohl gerade das Stolpern zum Nach- und Vordenken anregt."
Weitere Artikel: Henning Klüver
schildert Italiens Debatte um die
Renaissance der lokalen Dialekte und Berlusconis Ernennung zum obersten Sprachhüter. Alexander Gorkow war beim Start der Deutschlandtournee von
Peter Gabriel (
homepage) und
outet sich als Fan, selbst wenn der Meister Leuchtmäntel trägt und so Sätze sagt wie
"Gott könnte ein Hamster sein". Tobias Kniebe hat sich mit dem Regisseur von "X-Men"
Bryan Singer unterhalten, der sich als politisch wacher Kopf entpuppt. Petra Hallmayer
wundert sich über das Verschwinden der
Hysterie, um flugs ihren zeitgemäßen Nachfolger zu küren: das
Borderline-Syndrom. Fritz Göttler
verabschiedet fast wehmütig
Charlton Heston als Präsidenten der
National Rifle Association. Alex Rühle
schreibt zum Tod der theologischen Schriftstellerin
Dorothee Sölle. Helmut Schödel
gratuliert dem Schauspieler
Walter Schmidinger zum Siebzigsten, und Stephan Thiele
wünscht dem Psychoanalytiker
Horst-Eberhard Richter alles Gute zum Achtzigsten.
Auf der
Medienseite bricht Stefan Fischer eine Lanze für die
experimentierfreudigen Hörspiele des Bayerischen Rundfunks (mehr
hier), die bei den Hörern beliebt, im Haus aber umstritten sind. Haug von Kuenheim
porträtiert in der Reihe der Großen Journalisten die Zeit-Ikone
Marion Gräfin Dönhoff. Klaus Ott
berichtet von den Querelen um
Thomas Gottschalks angestrebten Aufsichtsratsposten bei ProSieben-Sat1.
Besprochen werden
Ryan McGinleys Fotografien aus der Subkultur im New Yorker
Whitney Museum of American Art,
Tim Storys politisch unkorrekter
Film "Barbershop" mit
Ice Cube,
Armin Petras' Inszenierung der
"Maria Magdalena" am Frankfurter Schauspiel als Familiendrama im Ghetto, und Bücher über
Bücher, darunter
Elizabeth Bowens wiederentdeckter
Roman "Das Haus in Paris",
Mario Fortunatos recht sentimentale
Erzählung "Die Liebe bleibt" sowie
Martin Brookes' "Die Fliege", eine unterhaltsame
Erfolgsgeschichte der
Fruchtfliege Drosophila in der Wissenschaft (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FR, 28.04.2003
Die
FR scheint voll zu sein mit Anhängern
Neil Youngs. Thomas Wolff jedenfalls hat ihn in Oslo gesehen und
bemerkt, dass Young in diesem Jahr zu einem
Moritatensänger geworden ist. "Im Zentrum seines neuen
Programms steht eine Schauermär, die vom Schicksal einer typischen Kleinstadt-Familie erzählt. Familie
Green aus Greendale, USA, wird plötzlich von den Übeln der modernen Welt heimgesucht: Der Koks-Konsum macht aus dem Sohn einen
Cop-Killer; die Medien machen dem Opa, der doch nur seine Ruhe haben will, den Garaus; die Tochter schließlich begreift als Einzige die Moral von der Geschicht'. Sie legt
Anti-Kriegs-Zeichen aus Strohballen in die heimatlichen Matten, macht Stimmung gegen Regierung und Ölkonzerne, und rollt am Ende
gen Alaska, die Wildnis zu retten." Interessiert nur noch, welches Medium den Opa umgebracht hat. Hatte er ein FR-Abo?
Christian Thomas
flaniert ein wenig auf den Spuren
Robert Walsers und entdeckt dabei die relativ unbekannte Skizze
"Vom Zeitungslesen", in der Sätze stehen wie: "Die Regelmäßigkeit, mit der die Presse arbeitet, ist eine so kunstvoll ineinandergeschobene, dass man wohl sagen kann, sie stelle ein
Bild lebendigen Fleißes dar."
Weiteres: Hannelore Schlaffer
findet in
Times mager, die Stiftung Lesen hat sich mit dem Spektakel um das
schnellste Buch der Welt ein Kuckucksei gelegt. Iring Fetscher
gratuliert dem Psychoanalytiker und Humanisten
Horst-Eberhard Richter, "der vernünftiger lebt als viele seiner rauchenden Standesgenossen", zum Achtzigsten. Gemeldet wird,
dass der französische Regisseur
Patrice Chereau die Kunstform Theater in Frage stellt,
dass für Bundesbauminister Manfred Stolpe die Finanzierung des
Berliner Stadtschlosses noch nicht steht,
dass der
Musikrat hingegen weiterbesteht und
dass das
E.T.A. Hoffmann-Haus (die
Gesellschaft dahinter) in Bamberg wieder eröffnet wurde.
Eine Besprechung widmet sich dem
Theaterabend über das Sterben, inszeniert von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel alias
"Rimini Protokoll".
TAZ, 28.04.2003
Es ist wieder soweit:
G-Day in der taz.
Gabriele Göttle hat diesmal einen Müller besucht, der eigentlich
Plasmaphysiker gelernt hat. Nach der Lektüre der
1000 Zeilen Reportage glaubt man, den Mann, die Mühle und das Leben schon lange zu kennen. "Wir gehen um die Mühle herum zu den ruhenden Flügeln. Es herrscht Windstille. Hundegebell ist zu hören und ab und zu ein Hahnenschrei. Des
Müllers Nase tropft. Mit belegter Stimme erzählt er weiter: 'Hier sehen Sie die einzelnen Klappen der Flügel, die wie bei einem
Jalousienmechanismus untereinander verbunden sind und über eine Zugstange nach Bedarf verstellt werden können. Der Mechanismus führt oben durch die Welle nach innen, also genau durch den
Kreuzungspunkt der Flügel. Innen ist dann so ein entsprechender Umlenkmechanismus. Unten wird an einer Kette gezogen, das ist mit ein paar Handgriffen gemacht. Die Lamellen sind aus
Pappelholz, und der eigentlich Flügel ist aus Lärchenholz.' (...) Er trinkt schweigend in kleinen Schlucken seinen Kaffee und überreicht uns zum Abschied ein Roggenbrot, gebacken vom Bäcker im Nachbarort. Das Getreide wuchs auf den umliegenden Feldern und wurde in der Mühle gemahlen. Seit Wochen habe ich Lust, noch mal von diesem Brot zu essen, schaffe es aber nicht, donnerstags zur
Bäckerei nach Wilhelmshorst zu fahren."
Außerdem: Eric Chauvistre
spricht mit
Joseph Cirincione, einem
Rüstungskontrollexperten der Carnegie-Stiftung, über die Welle an weiteren Entwaffnungskriegen und die neue
globale Aufrüstung. Chauvistre
befürchtet in einem weiteren Artikel die zunehmende Verbreitung von
Atomwaffen. Reinhard Mawick
verabschiedet die gestern verstorbene evangelische Religionswissenschaftlerin
Dorothee Sölle (zum
Leben). Außerdem werden
Teile eines
taz-Artikels von Dorothee Sölle und dem Erziehungswissenschaftler
Fulbert Steffensky aus dem Jahr 2001 abgedruckt. Thema
Kirchentag. "Sie sind die lieblichen und
rotzigen Töchter der alten Dame Kirche, und sie verhelfen ihr zu weiten Sprüngen, die sie sich selbst kaum noch zutraut."
Schließlich
Tom.
NZZ, 28.04.2003
Wie halten es
Bulgariens Dichter mit ihren
Fürsten? Uwe Stolzmann
erzählt von drei Schriftstellern, von
Blaga Dimitrova,
Ljubomir Levcev und
Mirela Ivanova (mehr
hier), die vor dem typischen Dilemma des bulgarischen Intellektuellen, des
'homo balkanicus', stehen: zwischen
Machthunger und Machtverachtung. "Im Reagenzglas Balkan gärt es heftig. Und ungestümer als in manch müder Gesellschaft zentraleuropäischen Zuschnitts prallen in den 'jungen Demokratien' die Interessen von Macht und Kunst aufeinander. So auch in Bulgarien: ein Land am Kreuzweg, in hundert Jahren Eigenständigkeit von harter Hand regiert - erst durch geliehene Zaren aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha, dann durch die roten 'Zaren'. Nun herrscht wieder ein Herr
Sakskoburggotski. Und der Dichter bei Hofe ist, was er immer gewesen -
halb Narr und halb Rebell."
Weitere Artikel: Marina Rumjanzewa
stellt "eines der
unanständigsten und lustigsten lexikografischen Werke" vor, das "Große Wörterbuch der Mat-Sprache": "Mat - das sind die schlimmsten, die
unflätigsten Obszönitäten, die es in der russischen Sprache gibt...
Sieben Grundwörter sind es insgesamt, mit
Hunderten von Ableitungen und Nebenschöpfungen,
Tausenden von Redewendungen und Idiomen." Christoph Fellmann
staunt während der
Stanser Musiktage einmal mehr, "was der Weltmusikmarkt auch in einer
voralpinen, mit katholischen Denkmälern bestens bestückten Kleinstadt möglich macht". Uwe Justus Wenzel
verabschiedet Dorothee Sölle, "eine der verlässlichsten Protestantinnen der Bundesrepublik".
Besprochen werden
Peter Eötvös' Oper "Le Balcon" nach
Genet in Freiburg, eine
Werkschau des New Yorker Architektenduo
Diller & Scofidio im
Whitney Museum, die
Jubiläumstheaterreise des Jungen Theater Basel, ein
Konzert mit
Maurice Steger und dem Zürcher Kammerorchester sowie
Daniela Hättichs Prosa- und
Lyrikband "meine augen durch deine".
FAZ, 28.04.2003
Rainer Groothuis, Spezialist für das Marketing von Büchern, beklagt die Mutlosigkeit der
Buchbranche angesichts drastischer Umsatzrückgänge. Unter anderem macht er
phantasielose Hierarchien der großen Verlage dafür verantwortlich: "Zunehmend entscheidet nicht mehr der
Verleger, wie die Bücher aussehen, sondern immer größer werdende Gruppen aus
diversen Verlagsabteilungen. Zwar mag es richtig sein, die Betroffenen zu beteiligen, doch entsteht in diesen - natürlich konsenssuchenden - Gruppen vor allem jenes
ästhetische Mittelmaß, das in den Buchhandlungen dominiert. Je größer die Gruppe, desto unterschiedlicher die Themenkompetenz, desto
schauriger das Dröhnen des schalen Geschmacks und des siechen Mutes, Schritte aus dem 'Das-war-schon-immer-So' heraus zu wagen."
Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Schauspieler
Walter Schmidinger zum Siebzigsten. Zhou Derong sieht die neue Transparenz der chinesischen Informationspolitik über die Krankheit
SARS als einen Etappensieg des neuen Staatspräsidenten
Hu Jintao über seinen Vorgänger
Jiang Zemin. Martin Kämpchen schickt aus Indien einen Stimmungsbericht mit der überraschenden Unterzeile "Nach dem Irak-Krieg steht
Indien vor
eigenen Problemen", und das sind "der Bau eines
Tempels in der Pilgerstadt Ayodhya" und "ein Gesetzentwurf, der in ganz Indien das
Schlachten von Kühen verbietet". Lorenz Jäger meldet, dass die Theologin
Dorothee Sölle gestorben ist. Christian Schwägerl fragt in der Leitglosse angesichts der Pleiten im
Berliner Einzelhandel, ob "die Entleerung der Schaufenster wirklich einen Verlust darstellt und die
Entökonomisierung notwendig zur
Alltagstristesse führen" muss (schön dass wenigstens die verbliebenen Festangestellten noch einen
gelassenen Blick auf diese Welt zu werfen vermögen!) Und Günther Prechter erinnert daran, dass
Le Corbusier vor 50 Jahren das Kloster
La Tourette entwarf.
Auf der
letzten Seite erinnert Andreas Eckert an den Urvater der schwarzamerikanischen Intellektuellen
W.E.B. Du Bois, dessen bahnbrechendes Buch
"The Souls of Black Folk" vor hundert Jahren erschien. Margarete Huber porträtiert
Michael Matheus, den neuen Leiter des
Deutschen Historischen Instituts in Berlin. Und Jordan Mejias findet, dass
Madonna, die in der New Yorker Galerie Deitch Projects auf Arbeiten
Steven Kleins zu sehen ist (
Bilder), keine überzeugende Künstlerin sei. Auf der
Medienseite lässt sich Michael Hanfeld vom Sat 1-Chef
Martin Hoffmann auf den Stand der Dinge bei diesem Sender bringen.
Besprochen werden ein Konzert
Peter Gabriels in Hamburg,
Kaija Saariahos Oper "L'amour de loin" in Darmstadt, das Stück "Erde und Asche" des afghanischen Autors
Atiq Rahimi am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, eine an den Dicher Erich Arendt erinnernde Ausstellung in der
Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte Rheinsberg,
Ettore Scolas "Cosi fan tutte"-Inszenierung in Turin, die Urauffühung von
Michael Gielens Komposition "recycling der glocken" in Berlin, eine Retrospektive des Malers
Andre Derain in
Lausanne und einige
Sachbücher, darunter der von Lorenz Jäger besprochene Briefwechsel zwischen
Leo Löwenthal und
Siegfried Kracauer, in dem wir auch einiges über Kracauers Verhältnis zu
Adorno erfahren: "Ich war und bin sehr
traurig wegen Teddie", so zitiert Jäger aus einem Brief Kracauers an Löwenthal am 12. April 1924. "Weißt Du, ich glaube, dass ich eine
unnatürliche Leidenschaft für diesen Menschen empfinde, die ich mir nur so erklären kann, dass ich eben geistig doch homosexuell bin. Könnte ich sonst so an ihn denken und so unter ihm leiden wie ein Liebender an den
Geliebten?"