Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2003. In der FR hält Marcia Pally das Empire für eine klasse Idee, schließlich sei die Welt durch Tee und Kekse ein bisschen besser geworden. In der SZ findet Burkard Spinnen die Sozialdemokraten inzwischen so verbissen und verbiestert wie die Vertriebenen. In der FAZ plädiert Hussain Al-Mozany dafür, Saddam Hussein nicht zu vergessen. taz und NZZ gratulieren dem ungekämmten James Brown.

FR, 02.05.2003

Europa mag sich vor Abscheu winden, Marcia Pally erkennt durchaus auch Vorzüge in einem Empire: "Als England auf dem Planeten herumempierte, brachte es die Eisenbahn nach Barbados und die Fundamente der pluralistischen Demokratie nach Südafrika, und alles in allem haben Tee und Kekse die Welt verbessert. Dass mein Land aus der Idee geboren wurde, dass sich Demokratie und Wohlstand - und auch Tee - auf einem besseren Weg beschaffen ließen als unter dem imperialen Stiefel, macht ja nichts. In jenem historischen Augenblick, da wir das Zeug in den Hafen von Boston warfen, um die imperialen Steuern zu umgehen, entschlossen wir uns, die kleinen Trockenblättchen selbst zu besorgen. Auch war es nicht vornehmlich die Teesteuer, gegen die wir uns wehrten, sondern schwarzgebrannter Rum aus der Karibik, woran man erkennt, wie vernünftig wir waren, als uns noch die reine Habgier trieb und nicht die Vorstellung, ein Weltreich darstellen zu müssen. Aber egal, die USA freunden sich mit dem Empiregedanken an, und ich schnurre wie eine Katze im Rumtopf."

Frank Keil führt uns in die Psychologie des organisierten Tierschützers vom Schlage eines PETA-Aktivisten ein: "Wenig fürchtet der sich seiner moralischen Überlegenheit gewisse Tierschützer so sehr, als mit jenen in einen Topf geworfen zu werden, bei denen die Tierliebe regelmäßig aus dem Ruder läuft. Er will nichts zu tun haben mit jenen Kleinbürgern, wie sie mehrheitlich am Tag der offenen Tür ins nächste Tierheim pilgern. Ihn verbindet nichts mit jener Spezies des unbeschäftigten Hundeausführers, bei dessen Anblick auch ihm herausrutscht: Nichts Gescheites anzuziehen, aber einen Hund!"

Ina Hartwig gratuliert dem Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt ("Über die Flüsse") zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. Die Kolumne Times Mager versichert, dass sich auch Hamburger Familien angesichts von Jeff Koons geplantem Kunstwerk für die Reeperbahn wohlfühlen können, schließlich könnten diese Beine-breit-Beine auch ein Schnurrbart sein.

Besprochen werden Bryan Singers Übermenschenphantasie "X-Men 2", die Ausstellung "Rituale" in der Berliner Akademie der Künste, Jossi Wielers Inszenierung von Leonora Carringtons "Das Fest des Lamms" in München und Politische Bücher, darunter Götz Alys Nachforschungen zum deutschen Wesen "Rasse und Klasse" und Aufsätze zur Gewalt im Geschlechterverhältnis (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 02.05.2003

Burkhard Spinnen (mehr hier) fragt sich, ob dies wirklich noch Politik ist, was die Sozialdemokraten zur Zeit betreiben: "Oder sind es nicht eher Rituale einer ehemaligen Utopie, die unter der Fuchtel der ökonomischen und politischen Gegenwart ihr kulturelles Erbe zu sichern versucht, indem sie die alten Feste weiter feiert und die alten Lieder weiter singt, ohne Freude an der Sache, verbissen und verbiestert. Wie die Vertriebenen, die ihre Kinder die Volkstänze einstudieren lassen, die sie selbst als Kinder schon nicht mochten. Vielleicht ist es das; und ich erkläre es mir so: die Sozialdemokratie ist gebunden an den historischen Antagonismus von Arbeit und Besitz. Der Bürger ist flexibel. Ob er mit schwerem Stahl oder weichen Chips sein Geld verdient, ist ihm Hekuba, und abends geht er in die Oper. Aber die Sozialdemokratie ist ohne Maschinenpark und Ölgeruch, Stechuhr, Schrebergarten und 'Wir hier unten - ihr da oben' in ihrem Bestand gefährdet."

In Jordanien bahne sich derzeit eine diplomatische Katastrophe an, alarmiert Andrian Kreye, "mit der die Konflikte in Nahost doch noch zu einem handfesten Kampf der Kulturen eskalieren könnten". Was passiert ist? Die Wohltätigkeitsorganisation des Baptistenpredigers Franklin Graham "Samaritan's Purse", eines der aggressivsten Missionsunternehmen, ist zum humanitären Einsatz eingetroffen.

Weitere Artikel: Til Briegleb rümpft die Nase über die 110 Meter hohe Spielzeugerektion des Künstlers Jeff Koons, mit der Hamburgs Bausenator Mario Mettbach die Reeperbahn erregender gestalten will. Selbst beim Sparen scheint in Köln das Gaudi-Prinzip zu herrschen, stellt "dip" fest, nachdem die Stadt ihrer designierten Opernintendantin Barbara Mundel erklärt hat, sie werde nun doch nicht gebraucht. Für die Reihe "Deutschland extrem" besucht Julia einen letzten Hort des Kalten Kriegs im Schwarzwald, den Kulturbunker, offiziell: "Zentraler Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland" zum "Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten" (in den wirklich alles rein passen soll). Alexander Kissler berichtet, wie Hans-Ulrich Wehler und Mesut Yilmaz über die europäische Identität der Türkei in München stritten. Klaus Dermutz unterhält sich mit Regisseurin Andrea Breth über Lessing, die Liebe und ihre Emilia-Galotti-Inszenierung. Thomas Steinfeld beklagt Weimars Pläne, das Stadtmuseum zu schließen. "s.w." meldet, dass das Amsterdamer Rijksmuseum wegen Asbest geschlossen wurde.

Auf der Medienseite staunt Julia Encke, was sich die Erben des Literarischen Quartetts auf der Suche nach Erregung so alles einfallen lassen.

Besprochen werden Antony Rizzis Tanzperformance "Being Human Being" im Frankfurter Mousonturm, Jossi Wielers Inszenierung von Leonora Carringtons "Das Fest des Lamms" an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Olaf Müllers Roman "Schlesisches Wetter" und Gerhard Polts Gesammelte Werke (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 02.05.2003

Die Chefin des Berliner Theatertreffens Iris Laufenberg stellt im Interview ihre Pläne für diese Saison vor: "Die wichtigste Neuerung durch die Festivalleitung ist dieses Jahr die Öffnung des Stückemarktes, der bisher rein deutschsprachig war, für Europa. Wir arbeiten jetzt mit dem Internationalen Theaterinstitut und dem Berliner Uraufführungstheater zusammen, das der Dramatiker Oliver Bukowski 1998 gegründet hat."

Weitere Artikel: Jonathan Fischer gratuliert "Mr. Dynamite" James Brown zum morgigen siebzigsten Geburtstag. Und ein im Netz unbekannt bleibender Autor singt der Edition Suhrkampf zum Vierzigsten ein Ständchen. Besprochen werden Neil Youngs Konzert im Berliner Tempodrom, CDs von Martin Gore ("Counterfeit 2"), Autechre ("Draft 730") und V/VM ("HelpAphex Twin 4.0") und Burr Steers Regiedebüt "Igby".

Schließlich Tom.

NZZ, 02.05.2003

Adam Olschewski gratuliert dem "Godfather of Soul" James Brown (mehr hier) zum Siebzigsten: "Lange war er das Nonplusultra des Souls, knapp danach das Nonplusultra des Funks. Es gab sogar eine Zeit, da deckte er alles ab, was Pop und Rock ausmachte; er hatte die Härte und massierte die Herzen. Später hat ihn der Hip-Hop zum Helden aller Klassen erklärt, und die Discjockeys sogen aus seinen Stücken das Mark aus. Warum? Weil zwischen all den Shouts und den Verrenkungen des gedrungenen, athletischen Körpers das Ungekämmte durchdringt, das jeder DNA anhaftet, das Wilde, das Ding vor den Dingen; die Holzhütte."

Weitere Artikel: Cord Aschenbrenner besuchte in Wolgograd eine wissenschaftliche Konferenz deutscher und russischer Historiker zum Mythos Stalingrad 60 Jahre nach der Schlacht: Geschichte könne erst werden, "wenn persönliche Erinnerung nicht mehr gegenwärtig sei. Dann erst würden die differenzierten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft - dass Stalingrad nicht die Kriegswende war, dass es verlustreichere Schlachten für die Deutschen gab, dass die Soldaten nicht nur Opfer des 'Untergangs der 6. Armee', sondern auch Täter eines Weltanschauungs- und Vernichtungskrieges waren - stärker Allgemeingut werden. Der Mythos wird nur sehr langsam verblassen." Stephan Tempel war in Prag, ebenfalls auf einer Historikerkonferenz, jedoch zum Thema des Schauprozesses um Rudolf Slansk im Prager Pankrac-Gefängnis: "Sämtliche elf im Dezember 1952 Hingerichteten wurden rehabilitiert. Mit ihrer Asche hatten die Schergen damals die winterliche, spiegelglatte Fahrbahn zwischen Prag und Pilsen gestreut." Die fortschreitende "heimlichen Entmachtung des Denkmalschutzes" ist Thema bei Claudia Schwartz, die diesen auch bei dem drohenden Abriss des Berliner Admiralspalastes befürchtet. Paul Jandl berichtet über die katastrophale finanzielle Lage Wiener Museen.

Besprochen werden: das Ballet Frankfurt mit einer Uraufführung "Decreation" nach Texten von Anne Carson, die für diese im Jahre 1310 verbrannt wurde, die Uraufführung eines Oktetts des Komponisten Edu Haubensak, der Klanginstallationen baut um das Ohr zu sensibilisieren.

Auf der Medien- und Informatikseite warnt Wiebke Hollersen vor einem Angriff der "Telenovelas", dem "Herzstück der lateinamerikanischen Unterhaltungsindustrie". Bis jetzt ist der deutschsprachige Raum weitgehend Telenovelafreie Zone, aber wie ein mexikanischer Produzent meint, wohl nicht mehr lang: "Natürlich werden auch die Deutschen unsere Novelas lieben. Seit es Menschen gibt, lieben sie das Melodrama."

Auf der Filmseite bespricht Andreas Maurer den verzwickten Streifen "Adaption", ein "fiktionaler Film über die Filmadaption eines realen Buchs durch den Autor eben dieses Films" und Andrea Köhler stellt der New Yorker Autorin Susan Orlean die Frage "Wie ist das, wenn man sich selber plötzlich in einem Kinofilm sieht?"

FAZ, 02.05.2003

Auf der letzten Seite plädiert der irakische Übersetzer und Autor Hussain Al-Mozany ("Mansur oder Der Duft des Abendlandes") dafür, Saddam Hussein nicht zu vergessen: "Sollte nur ein Zehntel von dem stimmen, was über ihn geredet und geschrieben wird, so reicht es aus, um einem Volk den Garaus zu machen. Doch man vergleicht Saddam allzu leicht mit dunklen Gestalten der Geschichte wie Hitler oder Stalin. Größere Ähnlichkeit hat er mit Kim Il-sung und Pol Pot, zumindest, was den Personenkult, die ethnischen Säuberungen, die Aushungerungspolitik und die Exekutionen anbelangt." An die Adresse der Amerikaner und Briten gerichtet, erklärt Al-Mozany, wenn schon eine Intervention, dann "muss diese Intervention zu einem anderen Zeitpunkt erfolgen, solange die Großverbrecher und Massenmörder ihre Geschäfte weiterbetreiben".

Dietmar Polaczek berichtet aus Italien über den Prozess gegen Cesare Previti, der jetzt wegen Richterbestechung zu elf Jahren Haft verurteilt wurde - und das, obwohl er ein "Gefolgsmann des gegenwärtigen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, Parlamentsabgeordneter von Forza Italia seit 1994, Verteidigungsminister im Jahr 1994, Zivilanwalt, Vizepräsident der Fininvest Comunicazioni des Unternehmers Berlusconi, dessen Berater in wichtigen geschäftlichen Unternehmungen - mit einem Wort: einer der Mächtigen im Lande" ist. Mal abwarten, ob das Urteil in den nächsten zwei Instanzen bestätigt wird. Berlusconi spricht jedenfalls schon "von einem 'Staatsstreich' der Richter".

Siegfried Stadler war fasziniert von einer Lesung des (deutsch sprechenden!) australischen Dichters Les Murray (Bild und Hörprobe hier): "Im Polohemd und ausgebeulter Sommerhose saß er, die Hände über seiner mächtigen Leibesfülle verschränkt, auf dem Sperrholzpodium und nahm, die Lesebrille auf die Glatze geschoben, seine Zuhörerschaft in Augenschein." Einmal im Jahr, so Stadler, macht Murray eine "Leseweltreise, um sein Dichten auf der Farm zu finanzieren. Denn er kann zwar wunderbar über Kühe schreiben, aber sie nicht melken."

Weitere Artikel: In einer kurzen Meldung gibt aro. bekannt, dass die Stadt Köln der designierten Opernintendantin Barbara Mundel mitgeteilt hat, dass sie "'als Intendantin in Köln nicht mehr erwünscht'" sei. Schuld hat laut aro. der Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU), der sich "wie ein Elefant im Porzellanladen" benehme. Profiteur der Entscheidung ist der 39 Jahre alte Christoph Dammann, der seit Saisonbeginn als Operndirektor amtiert. Gina Thomas berichtet aus London, über eine Beratung führender vorderasiatischer Forscher aus aller Welt im British Museum, was aus den Trümmern des Irak gerettet werden kann. Henning Ritter war bei einem Vortrag des amerikanischen Publizisten David Rieff (mehr hier und hier), der in der American Academy in Berlin deutlich machte, "wie tief die jüngsten Erfahrungen mit einer menschenrechtlich orientierten und sich humanitär verstehenden Politik die Gewissheiten der westlichen Intellektuellen zu erschüttern vermögen." Eberhard Rathgeb stellt einen Plan von Jeff Koons für den Hamburger Spielbudenplatz vor: "Die Freude des Bausenators entzündete sich an zwei Kränen und an dem, was an ihnen hängt: die vier "Elemente Hafen, Reeperbahn, Spiel und Vergnügen". Paul Ingendaay meldet, dass der polnische Reporter Ryszard Kapuscinski und der peruanische Theologe Gustavo Gutierrez in diesem Jahr den Prinz-von-Asturien-Preis für Kommunikation und Geisteswissenschaften erhalten.

Auf der Medienseite schildert Petra Kolonko, dass die Seuche SARS in China selbst höchste Politiker vor den Fernseher zwingt. Auf der letzten Seite porträtiert Jochen Hieber Elisabeth Baronin von Ardenne, geborene Freiin und Edle von Plotho, das Vorbild für Fontanes "Effi Briest". Paul Ingendaay beschreibt die Reaktionen spanischer und lateinamerikanischer Schriftsteller auf die Dissidentenprozesse von Havanna.

Besprochen werden Ausstellungen von Neo Rauch im Kunstmuseum Wolfsburg und in der Münchener Pinakothek der Moderne, die Aufführung von Leonora Carringtons Spukstück "Das Fest des Lamms", inszeniert von Jossi Wieler an den Münchner Kammerspielen, Patrice Barts Handlungsballett "La petite danseuse de Degas" an der Pariser Oper und Roger Avarys Verfilmung des Romans "Die Regeln des Spiels".