Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2003. Die NZZ unterhält sich mit Jeffrey Eugenides über das "5-alpha-Reduktase-Mangel-Syndrom". Die FAZ verzeichnet eine erhebliche Beschleunigung auf der Keimbahn. In der taz prophezeit Nelson George den "globalen Siegeszug der Rap-Kultur". Die SZ nimmt den Franzosen übel, dass sie nicht für Polen sterben wollten. Und die FR erklärt Armanis Geheimnis: Weiche Stoffe, feste Körper.

FAZ, 09.05.2003

Christian Schwägel berichtet von Neuigkeiten aus der Genforschung. Laut einer Studie im Wissenschaftsmagazin Science könnten Lebewesen bei der Fortpflanzung künftig unnötig werden: "Bisher waren die Eizellen und Spermien doch von individuellen Lebewesen abhängig, an sie gebunden. Die zwei Geschlechter mussten aufeinandertreffen und sich, sei es aufgrund von Trieb, Liebe oder Gewalt, miteinander paaren. Selbst bei der künstlichen Befruchtung müssen Ärzte bisher noch auf willige Ei- oder Samenspender zurückgreifen, wenn Mangel an dem einen oder anderen Keim besteht. Nun aber deutet sich eine tiefgreifende Veränderung auf der Keimbahn an: Sie könnte sich schon bald, und das ist ein Novum in der Evolution, von ihren biologischen Trägern und deren Entscheidungen lösen, wenn sich Ei- und Samenzellen als unbegrenzt im Labor züchtbar erwiesen."

Weitere Artikel: Stephan Koja und Andreas Kugler erzählen die Geschichte der Gemälde von Gustav Klimt, um deren Besitz seit Jahren erbittert wird. Nun sind offenbar Briefe und Dokumente aufgetaucht, die Adele Bloch-Bauer, reiche Erbin und Freundin Klimts, als frühere Besitzerin ausweisen und damit heute ihre Erben - und nicht die Österreichische Galerie im Belvedere. Edo Reents erzählt, warum die Hanauer am Sonntag über die Abwahl ihrer Oberbügermeisterin Margret Härtel abstimmen werden und wie alle mit dieser "Scheiß-Warschaufahrt" angefangen hat. Volker Weidermann berichtet von Stefan Effenbergs gestriger Buchpräsentation folgende hübsche Episode: Auf die Frage, welches Werk der Weltliteratur ihn am meisten beeindruckt habe, soll Effenberg ganz unironisch geantwortet haben: "Hitlers Tagebücher".

Mark Siemons berichtet von einer Veranstaltung der Katholischen Akademie in Berlin, die harmlos begann und sich zum veritablen Kulturkampf zwischen Traditionalisten und Progressiven steigerte. Christian Geyer zeichnet ein Profil des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Frühwald, der die Johannes Gutenberg Stiftungsprofessur übernimmt. Kerstin Holm erklärt, dass Russlands "größter Schatz" bedroht sei - seine Samensammlung.

Auf der Medienseite erzählt Michael Ludwig, wie die Journalistin Maria Wiernikowska einen der größten Medienpolitskandale Polens aufdecken wollte und jetzt Suppe kochen muss.

Besprochen werden David Aldens "Walküre" in der Bayerischen Staatsoper, ein Konzert von Pat Metheny und Charlie Haden in Frankfurt, Ralf Schmerbergs Lyrikverfilmung "Poem" und Bücher, darunter Michael Degens Roman "Blondi", Alfrun Gunlaugsdottirs Roman "Im Vertrauen", Eberhard Schockenhoffs Orientierungshilfe "Wie gewiss ist das Gewissen?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 09.05.2003

Sieglinde Geisel spricht mit dem Pulitzerpreisträger Jeffrey Eugenides (mehr hier) über seinen neuen Roman "Middlesex": "Für Eugenides war es Ehrensache, die Genmutation seiner Hauptfigur nicht zu erfinden. Erst nach langem Suchen in der medizinischen Fachliteratur sei er auf jenes (äußerst seltene) Krankheitsbild gestoßen, das seinen literarischen Absichten entsprach: Das 5-alpha-Reduktase-Mangel-Syndrom kommt in abgelegenen, inzestuösen Gesellschaften vor (zum Beispiel einem griechischen Dorf des vorletzten Jahrhunderts) und manifestiert sich erst in der Pubertät."


Weitere Artikel: Elisabeth Schwind widmet sich der Arbeit des "umtriebigen" Intendanten Heinz Lukas-Kindermann des Theater Trier: "Wie all dies - Opernausgrabungen, Uraufführungen und Antikenfestspiele - mit einem jährlichen Etat von nicht einmal 9 Millionen Euro für das gesamte Dreispartenhaus überhaupt zu bewerkstelligen ist, bleibt wohl das Geheimnis des Intendanten." Georges Waser berichtet von einer Konferenz des British Museum (mehr hier) über die Not der irakischen Museen. Eine gute Kunde gibt es aus dem gebeutelten Land: "Bereits mehrmals seit Mitte April, so Donny George, hätten Leute aus dem Volk von ihnen geraubte Artefakte ins Museum zurückgebracht."


Besprochen werden: eine revidierte Aufführung Wagners "Walküre" in München, ein Konzert des Pianisten Radu Lupu in der Zürcher Tonhalle, die Kulturhauptstadt Graz veranstaltet ein Festival für einen der entlegeneren Söhne: Leopold von Sacher-Masoch, der mit seinem 1866 erschienen "Referenzwerk an die Schmerzenslust" für einiges Aufsehen sorgte.

Auf der Medien- und Informatikseite äußert sich Heribert Seifert zum "Zustand des investigativen Journalismus" und warnt vor der Gefahr einer 'Google-isierung der Medien' mit ihrem 'Recycling altbekannter Informationen'."

Auf den Filmseiten: Michel Bodmer bespricht Bryan Singers Mutantenfilm "X2" (mehr hier), Geri Krebs schreibt über die grandiose Favela-Erzählung "Cidade de Deus" von Fernando Meirelles, Patrick Strauman spricht mit dem Regisseur Paul Schrader über seinen neuen Film "Auto Focus", der im Anschluss von Andreas Maurer besprochen wird: "Streng calvinistisch erzogen, konvertierte Schrader in den siebziger Jahren zu Sex, Drogen & Kinomanie: zu New Hollywood, dessen bedeutendster Drehbuchautor er wurde. Glaubt man seinen Kumpanen von damals, hasste er die Exzesse so sehr, wie er sie brauchte. Ist also "Auto Focus" autobiographisch? Allein die Frage macht den Zuschauer zum Voyeur." Jürg Zbinden sieht Peter Segals Therapeuten-Schwank "Anger Management" und Robert Blanchet klärt uns über das hollywoodsche Phänomen des Blockbusters auf und geißelt sie als "Mittel der Massenverführung".

TAZ, 09.05.2003

Der "amerikanische B-Boy-Intellektuelle" Nelson George (homepage) spricht im Interview über den globalen Siegeszug der Rap-Kultur und die kommende Generation der HipHop-Politiker: "Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Ein Rap-Mogul wie Russell Simmons (DefJam, Interview mit Simmons hier) ist im HipHop-Summit engagiert - einer Vereinigung, die versucht, die HipHop-Generation zu politisieren. Vor zwei Wochen fand dazu in Detroit eine Versammlung statt, vor mehr als 10.000 Leuten. Eines der interessantesten Phänomene dabei war für mich Kwame Kilpatrick, der Bürgermeister von Detroit, der als Schirmherr der Veranstaltung auftrat. Er ist erst in seinen frühen Dreißigern, und er ist der erste wichtige HipHop-Politiker. Er kennt jeden Run-DMC-Reim und hört sich Jay-Z im Rathaus an: Er könnte die Zukunft sein. Es ist das erste Mal, dass wir einen Schwarzenführer haben, der ein reines Produkt der HipHop-Ära ist ... Diese neuen Politiker müssen sehr feinfühlig für Klassenfragen sein, denn HipHop ist nicht mehr eine Angelegenheit von Schwarz und Weiß, sondern eine von Armen und Reichen. Russell und die Förderer des HipHop-Summits könnten Könige erschaffen. Mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen und dem Zugang zu den Massen werden sie viele Hebel in Bewegung setzen, um das zu erreichen." Ein kleiner Hinweis auf das nächste große Ding nach HipHop: "In Houston gibt es einen neuen Sound, der Screw Music heißt - weil man ihn beim Sex hört." (Mehr hier, zum Hören hier)

Daniel Bax ist nicht unzufrieden mit dem neuen Album von Blur (homepage): "Auf 'Think Tank' vertrauen Blur statt auf Gitarren nunmehr auf die Weisheit von Sequencern und Loops. Es knarzt, rumpelt und fiept an allen Ecken, und über allem erhebt sich der wundervoll melancholische Gesang Damon Albarns. Oft sind es sehr kleine Ideen, auf denen ganze Songs aufgebaut sind: eine akustische Gitarrenmelodie, ein verfremdeter Drum-Loop, ein hüpfender Bassgroove. Das Stück 'Jets' etwa klingt, als stamme sein Rhythmus vom Quietschen eines rostigen Bettgestells."

Weitere Artikel: Thomas Winkler stellt Thees Uhlmann von der Band Tomte und ihr neues Album "Hinter all diesen Fenstern" vor. Sarah Schmidt erzählt von ihrer Lesung im Goethe-Institut in New York - mit Thomas Brussig und einer ungenannt bleibenden Autorin. Die Tagesthemenseiten widmen einen Brennpunkt dem diesjährigen Girl's Day. Auf der Medienseite meldet Stg., dass die britische Fernsehaufsicht wegen "zu einseitiger Berichterstattung" im Irakkrieg gegen Rupert Murdochs Nachrichtenkanal Fox News vorgehen will.

Besprochen wird die von Robert Wilson inszenierte Armani-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin ("dem texanischen Theaterstar ... hätte schon mehr einfallen können als ein überwältigend schwarzer Raum, in dem sich die Kleider aneinandergereiht in einer endlosen Schlangenlinie dahinwinden", meint Brigitte Werneburg).

Schließlich Tom.

FR, 09.05.2003

Vor einem Jahr wurde der niederländische Politiker Pim Fortuyn ermordet und noch immer wissen die Niederlande nicht, wie sie mit ihrer muslimischen Minderheit richtig umgehen sollen. Klaus Bachman bringt das auf den Gedanken: "Manches spricht dafür, dass Fortuyn die Moslems mit seinen gehässigen Äußerungen tatsächlich ernst nehmen wollte. Seine Forderung, den Anti-Diskriminierungsparagrafen in der Verfassung zu streichen, begründete er zweifach: Es solle erlaubt sein, den Islam 'rückständig' zu nennen, aber er wolle auch, dass ein Imam (wie kurz zuvor geschehen) ihn, einen Homosexuellen, 'ein Schwein' nennen dürfe, ohne mit dem Staatsanwalt zu tun zu bekommen. Hätte Fortuyn länger gelebt, vielleicht wäre es ihm gelungen, die niederländischen Moslems so gegen sich aufzubringen, dass sie politisch aktiv geworden wären. Doch wurde er von einem Attentäter ermordet, der den Moslems genau diese Polarisierung ersparen wollte."

Martina Meister hat sich bei der Giorgio-Armani-Ausstellung elegant gelangweilt, so viel Harmonie herrschte in der Berliner Nationalgalerie, stellt aber trotzdem fest: "Seine Mode, sagt man, habe den Körper befreit. Habe die strengen Männerjacketts der Schulterpolster und steifen Futter und Einlagen entledigt. Aber je weicher und fließender die Stoffe wurden, die den Körper sanft umspielten, desto härter musste werden, was darunter war. Der Körper selbst wurde gestählt und machte das Korsett vollends überflüssig. Giorgio Armani hat sich zur Mode den passenden Körper entworfen. Er ist fest, muskulös, sonnengebräunt. Er könnte einen Kittel tragen, er würde aussehen wie der Modegott."

Weitere Artikel: Michael Rutschky erinnert sich im Adorno-Jahr an das "Katakombengefühl, Mitglied einer esoterischen Gemeinschaft zu sein, die ein geheimes Wissen über den Gesamtzustand der Gesellschaft eint, ein Wissen, das draußen abgewehrt wurde". Gabriella Vitiello berichtet von neuen Wahnsinnstaten aus Italien. Stephan Hilpold sieht die Wiener Festwochen in finanzieller Bedrängnis. Die Kolumne Times mager ruft in den Wald.

Besprochen werden: Anne Wilds Spielfilmdebüt "Mein erstes Wunder" und Bücher, darunter Angela Krauß' Erzählung "Weggeküsst", Greg Campbells Studie über den Diamantenhandel "Tödliche Steine" und Stefan Austs Buch zum Schmücker-Fall "Der Lockvogel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 09.05.2003

Kai Strittmatter beschreibt die angebliche neue Offenheit Chinas in der Bekämpfung der Krankheit SARS als Propagandatrick der KP-Führung: "Es ist ein cleverer Schachzug der Partei, sich hinter der aufopferungsvollen Arbeit der Ärzte und Schwestern zu verstecken und sie zu vereinnahmen - jedes Lob für sie wird zum Lob für die Partei umgebogen, jede Kritik wird unmöglich, wird zu Undankbarkeit und Sabotage. Clever also - und von unglaublicher Unverfrorenheit: Man wüsste gern, was die Schwestern davon halten, dass sie nun jenen den Glorienschein liefern sollen, denen sie zu einem Gutteil die Gefahr erst verdanken."

Thomas Urban erklärt dem begriffsstutzigen Publikum, warum die Polen eher zu den USA als zu Deutschland oder Frankreich halten: Sie waren sowohl beim französischen Pazifismus der dreißiger Jahre als auch beim deutschen Pazifismus der achtziger Jahre die Bauernopfer. "Für die im Irak-Konflikt propagierte Allianz Paris-Berlin-Moskau fanden sämtliche Publizisten in Warschau, von rechts bis links, nur harsche Worte. Denn auch Frankreich wird bei aller romantischer Bewunderung für die französische Kultur politisch mit Misstrauen betrachtet: Unvergessen bleibt, dass die Franzosen 1939 unter dem Motto 'Mourir pour Dantzig?' die von den Deutschen angegriffenen Polen im Stich gelassen haben"

Weitere Artikel: Der Sozialhistoriker Hartmut Kaelble (mehr hier) erinnert an Europa-Vision des französischen Außenministers und Mitbegründers der EU Robert Schuman. Die Theologen Andreas Ebert und Ursula Seitz antworten auf einen Artikel Friedrich Wilhelm Grafs, der gegen die kirchlichen Hochschulen polemisiert hatte (im SZ-Archiv ist der Artikel leider nicht zu finden und der alte Link des Perlentauchers funktioniert nicht mehr). Helmut Schödel meldet, dass der österreichische Bund Subventionen für die Wiener Festwochen streicht. Anne Linsel erzählt die deprimierende Geschichte von der drohenden Insolvenz des Wuppertaler Schauspiels. Gottfried Knapf erzählt, dass sich die Stadt Chemnitz die Sammlung des Münchner Galeristen Gunzenhauser sichern will

Besprochen werden Jewgenij Grischkowez' Theater-Monolog "Gleichzeitig" in der Stuttgarter Hi-Bar, ein Konzert des amerikanischen Pianisten Richard Goode in München, Abdel Kechiches Film "Voltaire ist schuld", eine große Retrospektive es Modeschöpfers Giorgio Armani in Berlin, eine Austellung mit Meisterwerken aus dem Haus der Este im Dresdner Schloss und eine "Walküre" in München.