Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2003. In der taz erklärt der Neokonservative Gary Schmitt, welches die nächsten Schritte seiner Weltpolitik sind. Die FAZ kritisiert den Musikverlag Schott, der in London ein wichtiges Beethoven-Manuskript versteigern lässt. Die FR setzt ihre Theaterdebatte fort: Wie mausetot ist Poptheater? Die NZZ doziert über das Staatsdenken in der islamischen Welt. In der SZ fordert Norbert Blüm eine Aufhebung des Kündigungsschutzes an deutschen Universitäten.

TAZ, 12.05.2003

Einer der Vordenker der amerikanischen Neokonservativen, Gary Schmitt (zur Person), erklärt einem aufmüpfigen Interviewer Michael Streck, was die Außenpolitiker der USA noch so vorhaben. "Dass die Bush-Regierung nach dem 11. September den Irak ins Visier nahm, war nicht zwangsläufig. Sie hatte auch so genug zu tun. Doch sie kam zu der Erkenntnis, das die Verbindung von Massenvernichtungswaffen und weltweitem Terror das größte Problem darstellt. Diesem begegnet man am besten durch Regimewechsel. Irak ist nur Teil eines großen Puzzle. Wir haben eine ganze Reihe von schwachen oder autoritären Staaten, die unfähig oder unwillig sind, Terrorismus zu bekämpfen." Streck: Wer ist als Nächster dran? Schmitt: "Viele glauben, dass wir einen klaren Fahrplan haben. Das ist falsch. Weltpolitik funktioniert so nicht. Man sollte klare Prinzipien haben, die dann auf sich verändernde Umstände anzuwenden sind."

Weiteres: Detlef Kuhlbrodt grantelt über die Erhöhung der Tabaksteuer, bezeichnet sie als "Normalitätsterror" und die "Rache pausbäckiger Zufriedenheitsidioten". Zudem gönnt uns die taz zwei ausführliche Buchbesprechungen. Gerrit Bartels ist entzückt und erleichtert darüber, dass mit "Der Gerichtshof der Barmherzigkeit" und "Unterm Pflaster der Sumpf" nun endlich der Abschluss von A. F. Th. van der Heijdens großem, siebenbändigem Zeit- und Erinnerungsroman "Die zahnlose Zeit" auf Deutsch erschienen ist. Brigitte Werneburg ist ganz angetan vom "visuellen Reichtum" und der "schieren Bildlichkeit" von Joachim Brohms fotografischer Langzeitstudie "Areal", die Dokumentation eines Industriegebiets im Norden von München, das seinen Status als Standort verlor (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FAZ, 12.05.2003

Wolfgang Sandner kritisiert den Musikverlag Schott, der immer mal wieder Musikermanuskripte aus seinen Archiven versteigern lässt und jetzt sogar eine wichtige frühen Kopie von Beethovens Neunter mit Korrekturen des Komponisten bei Sotheby's zum Verkauf gestellt hat. "Da hilft auch nicht, wenn man erfährt, der Schott-Verlag werde mit den erzielten Auktionsgeldern eine Stiftung errichten, um Projekte zu fördern, die man aufgrund der schwierigen Verlagssituation heute nicht mehr leisten kann. Wer wird das einem Verleger glauben, der die Möglichkeit einer Abwanderung deutschen Kulturguts ins Ausland bewusst in Kauf nimmt, eine Finanzierung seiner Manuskripte durch die Kulturstiftung der Länder nicht einmal in Erwägung zieht?"

Weitere Artikel: Jürgen Kaube freut sich, dass Alexander Kluge den Georg-Büchner-Preis erhält ("Eine ebenso überraschende wie richtige Entscheidung"). Ilona Lehnart meldet, dass Adolf Muschg Nachfolger György Konrads als Präsident der Berliner Akademie der Künste wird. "miga" glssiert die Abschaffung des Sterbegeldes. Mark Siemons meldet, dass es sich bei Schröders "Agenda 2010" um ein "immerwährendes Godesberg, ja um Godesberg als eigentlichen Zweck der Politik" handle. Eberhard Rathgeb resümiert eine Jenaer Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, bei der der "Staat und seine Verantwortung für die Kultur" beschworen wurden. Anton Thuswaldner schreibt zum Tod des österreichischen Autors Heimrad Bäcker. Jürg Altwegg resümiert französische Zeitschriften, die den amerikanischen Sieg im Irak-Krieg zu verkraften suchen - unter anderem zitiert er ein neues Heft von Le debat, das sich mit Emmanuel Todds Thesen vom Niedergang der USA auseinandersetzt und einen Beitrag von Jean-Francois Revel in Le point, der sich über die Kriegsgegner mokiert.

Auf der letzten Seite lässt Niklas Maak aus Anlass der Einweihung des nachgebauten Bernsteinzimmers in Petersburg noch einmal die Gerüchte um das verschwundene Original Revue passieren. Jürgen Kaube profiliert den als hochmoralisch geltenden ehemaligen Bildungsminister Ronald Reagans, William Bennett, der jetzt zugegeben hat, eine Menge Geld in den Spielsalons von Las Vegas durchgebracht zu haben. Und Christian Schwägerl stellt das Bündnis "WissenSchafftZukunft" vor, mit dem sich Berliner Universitäten und Forschungsinstitute gegen die Sparpolitik der Berliner Senats wehren wollen. Auf der Medienseite schildert Heinrich Wefing eine Blamage der New York Times - ein junger Reporter hat Artikel gefälscht, die Times hat sich auf immerhin vier Seiten dafür entschuldigt und die wahren Geschichten nachrecherchiert (was die FAZ in einem solchen Fall sicher ebenfalls getan hätte).

Hingewiesen sei auch noch auf einen Artikel im Sportteil: Der Schriftsteller Petri Tamminen erklärt uns aus gegebenem Anlass (Eishockey-WM, Finnland führte 5:1 und verlor dann 5:6 gegen Schweden) die finnische Kunst des Verlierens: "Sie hätten das Spiel sehen sollen. Es war eine Lehrstunde in Sachen Psychologie. Zu sehen, welche Wandlung ein Mann und ein Team durchlaufen. Das Schwinden der Hoffnung. Die wachsende Panik. Auf dem Eis präsentierte sich knallhart das Erbe zweier verschiedener Kulturen: Die Schweden voller Selbstbewusstsein und Zuversicht, die Finnen, die das Schlimmste ahnen und die Überlegenheit der anderen fürchten - Ahnungen und Befürchtungen, die sich immer wieder erfüllen. Vielleicht sind wir zu sensibel für diese Welt. Vielleicht gehören wir tatsächlich in den Wald, hinter die Schatten, weit weg."

Besprochen werden ein neues Orchesterwerk Aribert Reimanns mit dem Titel "Spiralat Halom", das in Hamburg uraufgeführt wurde, eine Retrospektive des Malers Frantisek Kupka im Kunstmuseum Vaduz, Birgit Scherzers Ballett "Mein Ithaka - Odysseus" in Essen und Terezia Moras dramatisches Debüt "Sowas in der Art" in Mülheim.

FR, 12.05.2003

Till Briegleb verteidigt das junge Theater gegen den Hamburger Chefdramaturgen Michael Eberth, der vergangenen Mittwoch mit "biblischem Furor" gegen seine jüngeren Kollegen und ihre unpolitische Selbstgenügsamkeit polemisiert hatte. "Es ist nicht allein die onkelhafte Herablassung, die diesen Beitrag so zweifelhaft macht - es ist vielmehr die Frage: Wen meint er eigentlich, da er keinen einzigen Namen nennt? Die Zustandsbeschreibung eines selbstbezüglichen Spaß- und Konsumtheaters ist mittlerweile zehn Jahre alt und war schon beim Abkanzeln des so genannten Pop-Theaters inhaltlicher Unsinn. Denn der politikfeindliche Reflex des damaligen Regienachwuchses, der heute den etablierten Stamm der deutschsprachigen Bühnen ausmacht, bezog sich gerade auf die Luxustäuschungen einer Gesellschaft, die politische Gestaltungskraft durch großmäulige Konsumversprechungen ersetzte."

Der Georg Büchner-Preis 2003 geht an Alexander Kluge (mehr), und Ina Hartwig fragt sich, ob der denn überhaupt ein Literat sei. Selbst wenn nicht, die Auszeichnung geht in Ordnung. Denn "Kluge ist eigentlich fast schon so etwas wie ein Markenzeichen. Zu seinem zugleich scharf und weich geschnittenen Gesicht mit dem witternden Blick gehört eine Stimme, ja eine Sprechweise, die man in seinen Filmen aus dem Off vernimmt; ein entspanntes, sonores Murmeln, ein inzwischen oft imitierter Sound."

Weiteres: Martina Meister stellt den Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg vor, neuer Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste, Nachfolger von György Konrad und laut Meister "ein Glücksfall". Jürgen Roth belauscht in Times mager den Nachbartisch, wo die hohe Kunst der Astrologie betrieben wird. Gemeldet wird, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Übersetzer Hans Wolf und Kulturvermittler Per Ohrgaard mit Preisen ausgezeichnet hat.

Auf der Medienseite porträtiert Sebastian Engelbrecht das krisengeschüttelte Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik. Andrea Nüsse weiß, dass der ehemalige irakische Informationsminister Mohammed Said el Sahhaf (seine Fanseite) zur Hauptfigur eines Kinofilms werden soll. Bernd Rasche untersucht, ob Corporate Publishing und Qualitätsjournalismus vereinbar sind, wie es das Magazin McKWissen versucht.

Eine einsame Besprechung widmet sich der Uraufführung von Terezia Moras Theaterstück "So was in der Art" in Mühlheim.

NZZ, 12.05.2003

Der Islamwissenschaftler Urs Gösken bietet einen lehrreichen, aber leider etwas abstrakten Rückblick auf das Staatsdenken in der islamischen Welt. "Kontrolle von Herrschaft und Gewährleistung von Gerechtigkeit sind nach klassischer islamischer Staatslehre im Grunde nur zwei Aspekte ein und derselben Aufgabe der Religion in Staat und Gesellschaft. Denn die Religion ist auch dasjenige Prinzip, das über die Offenbarung dem vernünftigen Teil jedes einzelnen Menschen vermittelt werden kann und muss, da der Mensch, weil sein anderer Teil unvernünftig und tiergleich ist, sonst eben nicht von sich aus gut und damit der Erhaltung seiner Art förderlich wäre. Das einzige Mittel außer der Religion, das den Menschen vom Ausleben seiner niederen Triebe zum Schaden der Gemeinschaft abzuhalten vermöchte, wäre die Einsetzung eines übermächtigen Gewaltherrschers."

Joachim Güntner berichtet von der Jenaer Tagung der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, auf der ausführlich über die Kulturpflichten des Staates diskutiert wurde. Kurz gemeldet wird die "naheliegende Wahl" von Alexander Kluge zum diesjährigen Büchner-Preisträger. Claudia Schwartz hofft, dass nach György Konrads Abschied von der Berliner Akademie der Künste nun der Schweizer Adolf Muschg (mehr hier) dem "müden Dampfer eine neue Richtung" gibt. Roman Hollenstein bemerkt erste Inflationserscheinungen angesichts der all der modischen Neubauten, die das architektonische Luxuslabel Herzog & de Meuron über die gesamte Welt verstreut. Paul Jandl schreibt einen Nachruf auf den österreichischen Kunsthistoriker Walter Koschatzky.

Besprochen werde eine Ausstellung zu expressionistischer Architektur im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum, Händels "Semele"-Oratorium im Theater Basel sowie ein Konzert des SWR-Sinfonieorchesters mit Strauss, Mussorgsky und Prokowjew in Zürich.

SZ, 12.05.2003

Norbert Blüm bricht in einem an persönlichen Reminiszenzen reichen Essay eine Lanze für die vielgescholtenen Gewerkschaften, den Hauptangeklagten im Standortprozess Deutschland. "Wie das Wild sich einen Reibebaum sucht, an dem es seinen Juckreiz bekämpft, so suchen sich alle, die als Modernisierer gelten wollen, die Gewerkschaften als Betonwand aus, an der sie ihr Beinchen heben können. (...) Das Schicksal der Beschäftigten ist offenbar stärker mit dem Unternehmen verknüpft, als das bei jobhopsenden Managern der Fall ist, die sich selbst bei Versagen mit goldenem Handschlag über Nacht verabschiedeten. (...) Als besondere Spezies von Weintrinkern, die Wasser predigen, sind mir eine Reihe von Professoren in Erinnerung, die fortgesetzt gegen gesellschaftliche Erstarrung wettern. Wie wäre es, wenn wir mit der Lockerung des Kündigungsschutzes bei den Professoren begännen, bevor wir uns anschicken, Arbeitnehmer zu Tagelöhnern zu machen?"

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber wundert sich über die Renaissance des russischen Komponisten Sergej Rachmaninoff, angetrieben von dessen listig-freundlichem Enkel Alexandre. Jens Bisky begrüßt begeistert die Ernennung des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste. Andrian Kreye stellt das amerikanische Innocence Project zur Befreiung unschuldig Verurteilter vor, zu dessen zehnjährigem Bestehen die Fotografin Taryn Simon jetzt Opfer von Justizirrtümern porträtiert hat. Kristina Maidt-Zinke war dabei, als im Münchner Literaturhaus acht Schriftsteller die literarischen Grenzen Europas erkundeten. Willi Winkler schreibt zum Tode des Quelle-Modeschöpfers und Volks-Couturiers Heinz Oestergaard. Fritz Göttler kommentiert die verschiedenen Strategien des Anger Management, a la Stefan Effenberg oder Jack Nicholson. Helmut Schödel bringt Kunde von der Eröffnung der Wiener Festwochen. Gert Kähler freut sich über das umfangreiche wie spannende Programm des vierten Hamburger Architektursommers.

Gemeldet wird, dass in der Nacht zum Sonntag aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien die "Saliera" (so sieht sie aus) Benvenuto Cellinis gestohlen worden ist. Die einzige erhaltene Goldschmidearbeit des florentinischen Bildhauers wird auf 50 Millionen Euro geschätzt.

Besprochen werden Anne Wilds lichtdurchfluteter Film "Mein erstes Wunder", Pier Paolo Pasolinis jetzt wieder in die Kinos gebrachten, unerbittlich schönen "120 Tage von Sodom", Terezia Moras dramatischer Erstling "Sowas in der Art" in der Uraufführung in Mühlheim, ein Konzert mit der jungen Salzburger Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager im Münchner Prinzregententheater, eine Ausstellung über die Geest- Landschaft in Oldenburg, die bayerische Landesausstellung über den ehrgeizigen und glücklosen Winterkönig Friedrich V. in Amberg und Bruce Springsteens triumphales Eröffnungskonzert seiner Deutschlandtournee in Ludwigshafen und Bücher, die leider ebensowenig im Netz stehen wie die aktuelle Medienseite (siehe jedoch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).