Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2003. Die taz erklärt, was einen starken von einem schwachen Schimpansen unterscheidet. Die FR raubt uns die letzten Illusionen über den real existierenden Kapitalismus. Die FAZ entdeckt in Peter Handke den Lach- und Fremdmann. Die NZZ liest Bernard-Henri Levys neues Buch, will ihm aber nicht glauben.

TAZ, 13.05.2003

In einem hübschen Text porträtiert Cord Riechelmann das - Achtung! - Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrum des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie im Leipziger Zoo. Die Forschungstests mit Schimpansen und Konsorten finden dabei häufig auch vor Besuchern statt. Für MPI-Mitarbeiter Michael Tomasello etwa sei "fraglich, ob Schimpansen die Gedanken und Absichten anderer Artgenossen lesen können und damit zum Beispiel wissen, ob der andere dasselbe oder etwas anderes weiß und sie dies zu nutzen wissen, indem sie ihn etwa reinlegen. Mit seinen Mitarbeitern hat er einige Tests entwickelt, die darüber Auskunft geben. In dem wohl bekanntesten Versuch werden zwei unterschiedlich starke Schimpansen mit zwei Früchten konfrontiert. Während der Schwächere beide sehen kann, sieht der Starke nur eine. Mit dem Ergebnis, dass der Schwache, der normalerweise in Gegenwart eines Überlegenen nicht wagen würde, zuzugreifen, die verborgene Frucht an sich nimmt. Was den Schluss nahe legt, dass diese Schimpansen wissen, was der andere sehen kann."

Dirk Knipphals zeigt sich unter der Überschrift "Uff!" erleichtert über die Entscheidung, den diesjährigen Büchnerpreis an Alexander Kluge zu verleihen. Die Akademie habe damit zwar noch nicht bewiesen, aber zumindest angedeutet, "aus den Mauern ihres Literaturbegriffs hinausgefunden" zu haben. Katrin Bettina Müller berichtet über die Lesungen neuer Texte auf dem Stückemarkt, der das Theatertreffen in Berlin begleitet, die "deutlich im Zeichen des Katastrophischen" gestanden hätten.

Besprochen werden im Aufmacher Jeffrey Eugenides' Familiensaga "Middlesex" und in der Sektion Politisches Buch die Erinnerungen einer Anonyma an die Vergewaltigungen durch russische Soldaten unmittelbar nach Ende des Zeiten Weltkriegs sowie Götz Alys als "ebenso hintergründig wie polemisch" apstrophierte "Nachforschungen zum deutschen Wesen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 13.05.2003

Marc Zitzmann nimmt in jenem reflexhaften mokanten Ton, den Bernard-Henri Levy nun mal herauszufordern scheint, das neueste, bisher nur auf französisch vorliegende Buch des nouveau philosophe auseinander: Levy hat sich in "Qui a tue Daniel Pearl" auf die Spuren der Mörder von Daniel Pearl begeben, also jenes Journalisten, der von pakistanischen Islamisten vor laufender Kamera enthauptet wurde. Zitzmann stört der literarische Gestus des Buchs: "Das ist bedauerlich, weil die Recherche von London über Dubai und Los Angeles bis nach Karachi und Islamabad doch ziemlich gründlich, genauer: enorm fleißig gewesen ist. Doch die Auswertung des zusammengetragenen, oftmals interessanten Materials wirkt unbefriedigend und häufig verworren. Was - auch - in der Natur der Sache liegen mag: Letztlich ist der Fall Daniel Pearl wohl unentwirrbar."

Weitere Artikel: Roman Bucheli resümiert ein Gespräch acht europäische Autoren über das literarische Europa im Münchner Literaturhaus. Rüdiger Görner schreibt zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers Reinhold Schneider.

Besprochen werden Rameaus Oper "Les Indes galantes" im Opernhaus Zürich, Sophokles' "Ödipus in Kolonos" im Burgtheater, eine Ausstellung mit Möbeln der Ming-Zeit im Pariser Musee Guimet, Gerhart Hauptmanns Stück "Rose Bernd" im Stadttheater Bern, ein Konzert des Geigers Maxim Vengerov und des Orchestre du Capitole de Toulouse in Zürich, Kammermusik mit Musikern des Tonhalle-Orchesters in Zürich und Erich S. Gruens bisher nur auf englisch vorliegende Studie über die Juden in der Antike.

FR, 13.05.2003

Die FR mausert sich allmählich zum Desillusionierungsexperten, aber keiner wird sagen können, sie hätten nicht gewarnt. Markus Brauck jedenfalls ventiliert virtuos das Thema der "Erwerbsbiografie auf der Suche nach der Zukunft im real existierenden Kapitalismus": "Dass begonnen wird, die Freiheit der ökonomischen Verlierer zu beschneiden, ist keine Lappalie. Das utopische Bild von Marx ist ja gerade wegen seiner Beschreibung der Freiheit so faszinierend. Von Reichtum ist da nirgendwo die Rede. Doch Clement, Koch und Stoiber, und wie sie alle heißen, reden immer nur von der Verteilung des Wohlstands, der sinkt. Davon, dass auch die Freiheit künftig anders verteilt sein wird, ist nirgends die Rede. An ihre Verlockung scheint man ohnehin nicht mehr recht zu glauben."

Robert Kaltenbrunner philosophiert über "Bewegungen" auf dem Sektor "Architektur und Wohnen". Einerseits stellt er fest: "Retrospektiv gesehen münden die beiden angeblichen Königswege, die die Architektur bezüglich des Wohnens eingeschlagen hat, in Sackgassen: Entweder in der Standardwohnung oder im vollkommen neutralen und unspezifischen Grundriss." Letztlich ist aber das Wohnen nach wie vor ein "Bollwerk der Tradition", meint er. "Wohnen erweist sich als feste Vorstellung mit beweglichen Wänden: als Bild, das Erinnerung bewahrt, aber anpassungsfähig bleibt, oder als Entwurf, der Erfahrungen verarbeitet - in der Wiederholung oder in der Projektion, was fast dasselbe bedeutet."

Weitere Artikel: Karin Ceballos Betancur porträtiert das "feine" Hannoveraner Plattenlabel Übersee Records, und Christoph Schröder empfiehlt Daten und Stationen einer Lesereise des österreichischen Schriftstellers Bodo Hell ("Pflicht", der letzte Buchtitel, nicht die Empfehlung) der geneigten Kenntnisnahme. Im fünften Teil von Michael Tetzlaffs Kindheits- und Jugenderinnerungen an die "Zone" geht es heute um ein prägendes Ferienlager, und in der Kolumne Times mager räsoniert Christian Schlüter über die Schwerkraft (hier: FDP, Reformstau und buergerkonvent.de). Gemeldet wird schließlich noch der Tod des Beat-Poeten Ted Jonas.

Besprochen werden die dritte Ars Baltica Triennale der Fotografie in der Stadtgalerie Kiel, der Film beziehungsweise das "Emanzipationsdrama" "Die Wutprobe" von Peter Segal mit Jack Nicholson, Klaus Michael Grübers Inszenierung von Sophokles' "Ödipus in Kolonos" bei den Wiener Festwochen und Carlo Lucarellis Roman "Die schwarze Insel" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 13.05.2003

Alexander Kissler wirft Bildungs- und Forschungsministerin Edelgard Bulmahn vor, die Bemühungen um ein internationales Klon-Verbot zu blockieren. Bei der Debatte zum Klon-Verbot im Bundestag "glänzten die Minister Bulmahn, Schmidt und Fischer ebenso wie Kanzler Schröder durch Abwesenheit. Wenn die Forschungsministerin auf das Votum des Bundestages angesprochen wird, erklärt sie im schönsten Bulmahn-Deutsch: 'Wir dürfen die Tür für die biomedizinische Forschung nicht völlig zuschlagen. Auf internationaler Ebene kann man zum therapeutischen Klonen keine endgültige Entscheidung treffen.' Dass sie sich damit im Gegensatz zum deutschen Embryonenschutzgesetz und auch zum Willen des Bundestages befindet, kümmert sie nicht."

In ihrer kirchentagsvorbereitenden Serie legt ein Vertreter der griechisch-orthodoxen Kirche, der Metropolit Augoustinos, sein Verständnis der Ökumene dar: "Die wahre Einheit der Christen geht über die Realität dieser Welt hinaus und gehört zur umfassenden Wirklichkeit Gottes. Sie ist nicht nur eine Sache des ökumenischen Kirchtentags in Berlin."

Weitere Artikel: Mit zwei Texten wird der neue Leiter des Haus der Kunst in München, Chris Dercon, verabschiedet beziehungsweise begrüßt: Manfred Schwarze stellt seine bisherige Wirkungsstätte, das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, vor, und Holger Liebs kommentiert seine Konzeptpräsentation in München. Andrian Kreye weist auf das zweite Tribeca Fim Festival unter Leitung von Robert De Niro hin. Fritz Göttler resümiert einen Vortrag von Klaus Theweleit zum Thema "In welcher Zukunft leben wir?" in München, und Kai Martin Wiegand besuchte in Yale eine Veranstaltung mit Paulo Lins, dem Autor des Romans "City of God". Stefan Koldehoff erzählt die Hintergründe einer Posse um die Kunstsammlung Oetker und die Stadt Münster.

In der "Zwischenzeit" durchstreift Hermann Unterstöger wieder die Niederungen des Alltagslebens (unter anderem geht es dem Wort "kommunizieren" an den Kragen), und Fritz Göttler amüsiert sich über die New York Times, die eine "klebrige Kinderkomödie" mit Eddie Murphy zur "knallharten Sozialstudie" geadelt hat. Jens Bisky gratuliert dem Literaturkritiker Günter Blöcker zum 90. Geburtstag, und Dirk Peitz vermeldet den Widerstand nordrhein-westfälischer Theaterintendanten gegen Sparpläne. Auf der Medienseite berichtet Hans-Jürgen Jakobs, dass das Zeitungshaus DuMont Schauberg und der Bauer Verlag mögliche Interessenten für einen Kauf des Berliner Tagesspiegels sind. Auf den Plan getreten ist jetzt auch das Kölner Privatbank Sal.Oppenheim, die im Zuge einer Ausschreibung einen Käufer finden soll.

Besprochen werden Klaus Michael Grübers Inszenierung von Sophokles' "Ödipus in Kolonos" am Wiener Burgtheater ("Der Tod kommt nicht leis in die Wiener Aufführung ... Er gewittert, er blitzt, er erschreckt", schreibt C. Bernd Sucher), die Uraufführung von Wolfgang Knuths Oper "Bringt sie um" an der Hamburgischen Staatsoper, Donizettis Opernkomödie "Viva la Mamma" am Theater Augsburg und Bücher, darunter ein Band mit Texten und Gedichten von Reinhold Schneider und eine Geschichte des deutschen Sozialstaats (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 13.05.2003

Gerhard Stadelmaier mag ja den "Ödipus in Kolonos" des Sophokles. Er mag auch Klaus Michael Grüber, der ihn in Wien inszenierte. Und er mag Bruno Ganz, der ihn spielte. Aber die neue Übersetzung! "Bruno Ganz hat den Heiligen zwar auf der Zunge. Aber er muss Peter Handkes 'Übersetzung aus dem Altgriechischen' sprechen. Darf also zum Beispiel behaupten, 'dass gleichwelches Axiom der Dämonen ein nichtiges sei', oder beklagt 'einen solchen Hasszuschmiss' oder sieht jemanden 'geglitscht in den gleichen Mist' oder fürchtet 'zum Lachmann in der Hand des Fremdmanns' zu werden oder fragt nach dem 'Anschaffer hierzuland", wenn er einfach den König meint.'"

Weitere Artikel: Marcel Reich-Ranicki gratuliert dem Rezensenten Günter Blöcker zum Neunzigsten. ("Er ist - man kann es kaum glauben - aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu ganz verschwunden.") Oliver Tolmein kritisiert den Bundesgerichtshof, der in mehreren Urteilen die Abschaltung lebenserhaltender Maschinen bei hirngschädigten Patienten guthieß. Nils Minkmar hat im Schloss Neuhardenberg einem Gespräch zwischen Boutros Boutros-Ghali und Wole Soyinka über den allgemein recht besorgniserregenden Zusatnd der Weltzivilisation zugehört. Michael Jeismann setzt sich anlässlich der Ausstellungsreihe "The Harmony Show" in Bombay mit neuesten Tendenzen der indischen Kunst auseinander. Christian Geyer flieht in der Leitglosse vor den Leihrädern der Deutschen Bahn zum Taxistand. Pau Ingendaay meldet den Tod des spanischen Verlegers Jose Manuel Lara. Gina Thomas gibt bekannt, dass der amerikanische Verleger Peter Mayer den Londoner Duckworth-Verlag gekauft gekauft hat. "fld" stellt eine Vortragsreihe der Bochumer Universität über "Strafverteidiger und ihre Fälle" vor. "lac" meldet den skandalösen Diebstahl von Benvenuto Cellinis "Saliera", eines goldenen Salzfasses (Bild), das angeblich auf 50 Millionen Euro geschätzt wird, aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum. "bsa" stellt das Programm Chris Dercons, des neuen Direktors des Hauses der Kunst in München vor.

Auf der letzten Seite möchte Ernst-Ludwig Winnacker von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der bisherigen Praxis der Forschungsförderung durch den Bund bitte sehr möglichst gar nichts geändert sehen. Regina Mönch berichtet, dass Peter Zumthor seine Pläne für den Bau der Stiftung Topographie des Terrors vereinfachen möchte, was Berliner Stadtpolitiker nicht abhält, ihn rüde anzupflaumen, dass man keinen Pfennig mehr bezahlen wolle. Und Jürg Altwegg porträtiert Adolf Muschg, der nun als Nachfolger György Konrads als Präsident der Berliner Akademie der Künste bestellt wurde. Auf der Medienseite verwirft Gina Thomas die Mittel ("mehr Bilder, mehr Lifestyle"), mit denen britische Zeitungen versuchen, der Medienkrise zu trotzen. Und Stephan Kuss schildert, wie sich Journalisten die harte Arbeit unabhängiger Berichterstattung von den Konzernen mit Preisnachlässen honorieren lassen ("Bei Opel, heißt es, gebe es fünfzehn Prozent Rabatt auf alle Modelle."). Michael Hanfeld vermutet, dass die Auflage des Wirtschaftsministers an den Holtzbrinck-Verlag, einen Käufer für den Tagesspiegel zu suchen, nur ein Vorwand sei - lässt sich kein Käufer finden, so könne die Ministererlaubnis für die Fusion mit der Berliner Zeitung am Ende doch noch gegeben werden.

Besprochen werden ein Konzert der "Go-Betweens" in Heidelberg, Mozarts frühe Oper "La finta giardiniera" in Stuttgart, eine von Wolfgang Knuth und Holger Müller-Brandes verantwortete Oper über die Todesstrafe in den USA, die in der Hamburger Kampnagel-Fabrik uraufgeführt wurde, und das Dokumentarfilm-Festival in Nyon.