Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2003. Le Monde bringt eine Polemik von Enrique Krauze gegen Gabriel Garcia Marquez. In der taz erzählt Jean Ziegler, wie ihn Che Guevara abhielt, Guerillero zu werden. Die FAZ wundert sich über den "riesigen Parasiten" Bertelsmann. Die FR findet Cannes französisch wie nie. In der NZZ erklärt der Historiker Wlodzimierz Borodziej warum die Polen im Irakkrieg die Amerikaner unterstützt haben. Die SZ porträtiert den machtlosesten Kulturpolitiker von Berlin: Thomas Flierl.

Weitere Medien, 14.05.2003

Da sich die deutsche Öffentlichkeit kaum für das Thema zu interessieren scheint, verweisen wir heute auf Le Monde, wo Enrique Krauze von der Zeitschrift Letras Libres am Montag eine brillante Polemik gegen Gabriel Garcia Marquez und seine Verteidigung Kubas anlässlich der jüngsten Inhaftierung von 78 Regimegegnern veröffentlichte. Krauze bezieht sich auf eine Äußerung Garcia Marquez', der jüngst behauptete, er habe im Stillen vielen kubanischen Dissidenten geholfen. "Man hat wohl das Recht zu fragen, warum Garcia Marquez diesen Dissidenten geholfen hat, Kuba zu verlassen, wenn er ihre Inhaftierung nicht als ungerecht empfand. Und wenn er sie als ungerecht empfand..., warum unterstützt er dann weiterhin ein Regime, das solche Ungerechtigkeiten begeht? Wäre es nicht schätzenswerter, diese ungerechte Inhaftierung anzuprangern und damit zu helfen, dem Kerkersystem Kubas ein Ende zu bereiten?"

TAZ, 14.05.2003

Heute wäre Che Guevara 75 Jahre alt geworden. Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler (mehr hier) erzählt im Interview mit Robert Misik, wie er den Comandante 1964 zwölf Tage lang als Chauffeur durch Genf kutschierte. "Am Schluss habe ich gesagt: 'Comandante, ich möchte mit euch gehen.' Das war in der Nacht vor seiner Abreise. Da hat mich Che im Hotel Intercontinental im achten Stock vor die große Glasfront gerufen, und da sind die Leuchtreklamen aufgeblitzt - der Banken, der Juweliere. Er hat gesagt: 'Siehst du, da unten?' - 'Ja, das ist Genf', habe ich gesagt. - 'Das ist das Gehirn des Monsters, da musst du kämpfen.' Ich war natürlich tödlich beleidigt. Er war nicht dieser Typ lateinamerikanischer Herzlichkeit, er war eher fein-subtil, ironisch. Er war ziemlich kalt, so im Umgang. Ich war wirklich verletzt. Er hat natürlich tausendmal Recht gehabt. Man stelle sich mich in irgendeiner Guerilla vor!"

Der Regisseur Armin Petras, dessen "zeit zu lieben, zeit zu sterben" beim Berliner Theatertreffen zu sehen ist, meditiert in einem weiteren Interview mit Katrin Bettina Müller darüber, warum die Ostdeutschen im Theater nicht wahrgenommen werden, warum Körper weniger lügen als Worte und warum er so gern Theater macht: "Weil man sich da hinfallen lassen kann oder rumrennen oder rumschreien, das würde ja als Angestellter in einer Bank nie funktionieren. Da hat man viele Zwänge. Ich habe auch viele Zwänge. Abonnenten, die rausgehen. Aber es ist doch besser."

Andreas Merkel begibt sich auf eine sentimentale Reise in die Achtziger Jahre und zum Simply-Red-Konzert in Berlin. Cristina Nord hat wegen des Streiks in Frankreich keinen Flug zur Eröffnung von Cannes bekommen. Und Brigitte Werneburg bespricht neue Bücher zur Kunst, darunter Raimar Stanges "Zurück in die Kunst", Isabelle Graws "Die bessere Hälfte" und Harald Falckenbergs "Ziviler Ungehorsam. Kunst im Klartext" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

FAZ, 14.05.2003

Bertelsmann hat seine renommierte Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer für 1,05 Milliarden Euro an ein britisches Konsortium, "bestehend aus den Private-Equity-Gesellschaften Cinven und Candover, deren Geschäft die Platzierung von privatem Beteiligungskapital ist", verkauft. Hannes Hintermeier sieht darin einen Beweis für die "merkwürdig indifferente Haltung gegenüber den innersten Gesetzmäßigkeiten des Verlagswesens" bei Bertelsmann. "Die im letzten Herbst vorgelegte Studie einer unabhängigen Historiker-Kommission zur Verlagsgeschichte im 'Dritten Reich' offenbarte bereits ähnlich rigoros-merkantile Verhaltensmuster, wie sie heute in Gütersloh zu beobachten sind. Es könnte sich der Eindruck eines riesigen Parasiten verfestigen, der aus dem Potential seiner vergleichsweise winzigen Wirtstiere selbst keine geistige Nahrung für eine wirkliche Unternehmenskultur zu saugen vermag."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube bezweifelt, dass die von Bundesbildungsministerin Bulmahn propagierte Förderung der Ganztagsschule das deutsche Bildungswesen verbessern wird. Kerstin Holm meldet die "feierlich abgeschlossene" Rekonstruktion des Bernsteinzimmers (mehr hier) im Katharinenpalast von Zarskoje Zelo. Stefanie Peter berichtet, dass die Polen sich - politisch - vom Papst entfernen, etwa bei der Haltung zum Irakkrieg. Andreas Platthaus hat die Mahnwache Bahnverein Opladen (mehr hier) beim Hungerstreik beobachtet. "Wir vom Bundesarchiv" präsentieren einen Brief von Heinrich Mann, mit dem sich dieser 1948 beim SED-Parteivorstand für die Glückwünsche zu seinem 77. Geburtstag bedankt. Edo Reents gratuliert dem Bassisten Jack Bruce zum Sechzigsten. Ingeborg Harms gratuliert dem Germanisten Helmut J. Schneider zum Sechzigsten.

Auf der letzten Seite stellt Carina Villinger den Berliner Toleranzförderverein vor, der Migranten als "Gaststars" an Schulen vermittelt (mehr hier). Das besondere dabei: "Die insgesamt achtzehn 'Migranten zum Mieten' des Projekts treffen die Schüler nicht einfach als Menschen nichtdeutscher Herkunft, sonder als Spezialisten für ihren eigenen Beruf oder ein anderes interessantes Thema." Christian Schwägerl porträtiert den Neurobiologen Tobias Bonhoeffer, der "bis 2010 einem erlesenen Kreis von Neurobiologen, dem "Neuroscience Research Program", angehören wird, der unter Gehirnforschern als einflussreicher Rat der Weisen gilt". Dieter Bartetzko beschreibt Pläne zur Rekonstruktion des Schlosses von Königsberg zum 750. Geburtstag.

Besprochen werden Carlos Carreras Film "Die Versuchung des Padre Amaro", Rene Polleschs Stück "Heidi Hoh 3 - die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat" bei den Wiener Festwochen, eine Ausstellung mit Günter Senges Gemälden der Neuen Sachlichkeit im Emschertal-Museum, die Aufführung von Beethovens Ur-"Fidelio", ein Konzert von Taj Mahal in Frankfurt und die Aufführung von Marco Tutinos Oper "Vita" in Mailand.

FR, 14.05.2003

Nie war Cannes so französisch wie in diesem Jahr, befindet Daniel Kothenschulte. "Die Anstrengung, die Stärke des französischen Kinos zu behaupten", merke man dem Festival allenthalben an: "Jeder vierte Wettbewerbsfilm stammt aus Frankreich, Werke von Claude Miller, Bertrand Blier, Andre Techine, Francois Ozon und Bertrand Bonello... Schwierig ist bei so viel europäischer Hochkultur der Kontakt zum populären Hollywood, dem man in einer radikalen Entscheidung, die sich deutlich von der Politik der Festivals von Berlin und Venedig abgrenzt, den Wettbewerb verschlossen hat." Nur zwei Ausnamen werden gelten gelassen: "Matrix" und Charlie Chaplins "Moderne Zeiten".

Weitere Artikel: Der Soziologe Peter Fuchs liefert aus systemtheoretischer Sicht einen Nachtrag zur Rolle der Massenmedien im Irakkrieg. Florian Malzacher berichtet vom achten KunstenfestivalDesArts in Brüssel. Peter Michalzik bewahrt in der Kolumne Times mager Zurückhaltung, um nicht allzu sehr über die verschlafenen Wächter im Kunsthistorischen Museum von Wien zu spotten, die den Raub von Cellinis "Saliera" einfach ignorierten ("wird scho nix sein"). Ruth Spietschka berichtet von einem Münchner Symposium, das Europas Grenzen neu zog.

Besprochen werden die Ausstellung "Freuds verschwundene Nachbarn" im Wiener Sigmund-Freud-Museum, die Schau "Underground" im Dresdner Albertinum, Hirokazu Kore-Edas "perfekt komponiertes" Spielfilmdebüt "Maboroshi - Licht der Illusionen" sowie drei Sammelbände zur Theorie des Bauens (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 14.05.2003

Der Historiker Wlodzimierz Borodziej (mehr hier) versucht zu erklären, warum die Polen sich im Irakkrieg auf die Seite der Amerikaner gestellt haben. Umfragen beweisen, schreibt er, dass die Mehrheit der Polen eigentlich gegen den Krieg war. "Warum setzt sich dies nicht in Aktivität um? Warum geht die Kirche dem Thema aus dem Weg, und wie kann es sich die Regierung leisten, ohne größeren Widerstand am Mainstream der öffentlichen Meinung vorbeizuagieren? Die Antwort haben polnische Soziologen schon vor Jahren in einem völlig anderen Zusammenhang formuliert. Sie bemerkten, und dies keineswegs nur in der tiefen Provinz, einen gleichzeitigen Doppelprozess, den sie 'Depolitisierung des Sozialen' und 'Entsozialisierung des Politischen' nannten. Das Erste mochte noch als normale Begleiterscheinung der europäischen Moderne gelten - dass nämlich im lokalen Kontext die großen Parteien mit ihren gesamtstaatlichen Entwürfen und Programmen nur noch mit Achselzucken registriert werden; Kläranlagen, Gemeindesteuer und örtliche Schule sind wichtiger. Mit 'Entsozialisierung des Politischen' wiederum war gemeint, dass die politische Klasse in Warschau dies eher bemerkt als versteht und dass sie kaum glaubt, etwas dagegen tun zu können, und ohne große Rücksichtnahme regiert."

Weitere Artikel: Andreas Maurer stellt in freudiger Erwartung die Filme vor, die ab Morgen beim Filmfestival in Cannes gezeigt werden. Markus Jakob schreibt zum Tod des spanischen Verlegers Jose Manuel Lara, und Alfred Zimmerlin war bei den "Wittener Tagen für neue Kammermusik 2003".

Besprochen werden eine CD-Serie mit Ernst Busch, das Festival "Designmai" in Berlin, CDs mit Aufnahmen von Maurizio Pollini (Klaviersonaten von Beethoven), Konstantin Scherbakov (Liszt'sche Beethoven-Transkriptionen) und Yundi Li (Liszt- Rezital), eine Anthologie von sieben CDs, "die in bisher nicht zugänglichem Umfang" Dietrich Fischer-Dieskaus Bemühen um das Werk Hugo Wolfs dokumentiert, Mozarts Oper "La Finta giardiniera" in Stuttgart und Bücher, darunter Rene J. Barendses bisher nur auf Englische erschienene Studie über Handelsgesellschaften als koloniale Vorhut "The Arabian Seas", Wolfgang Schmales "Geschichte Europas", Sarah Kirschs "Tatarenhochzeit" und Keith Ovendens Roman "Des Glückes Schein" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 14.05.2003

Gustav Seibt porträtiert Kultursenator Thomas Flierl, der in Berlin - dieser Stadt ohne Bourgoisie, aber mit viel kleinbürgerlichem Proletariat und junger Intelligenz - geradezu hip geworden ist. "Flierl mag inzwischen ja zu einem der angeseheneren Kultursenatoren Berlins seit der Wende geworden sein, aber er ist bestimmt der machtloseste unter ihnen. Er hat, außer seiner persönlichen Zähigkeit samt der damit verbundenen Neigung zur Rechthaberei, keinerlei Druck- oder Drohmittel. Er war der Verlegenheitskandidat der PDS; keine starke Parteigruppierung trägt ihn; für eine Rücktrittsdrohung ist seine Popularität viel zu insiderhaft, sein Publikum zu ironisch und wechselhaft; so kann er kaum mehr tun, als die große Etatbereinigung, die derzeit auch die Kultur in Berlin über sich ergehen lassen muss, zu moderieren."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp beklagt den Raub der "Saliera", Benvenuto Cellinis einzig erhaltene Goldschmiedearbeit aus Wiens Kunsthistorischen Museum, Schätzwert 50 Millionen Euro. Dazu gibt ein Interview mit dem Direktor Wilfried Seipel. Andrian Kreye erzählt aus New York, dass sich dort der Musikgeschmack dem Immobilienmarkt anpasst. Derzeit sind Brooklyn und damit die "Yeah Yeah Yeahs" angesagt. Platz gefunden hat auch Reinhard Schulz' Bericht von den vor drei Wochen zu Ende gegangenen Musiktagen in Witten. Michael Klein berichtet vom Streit um die Neufassung der "Zauberflöte". "flow" weist auf die neue Ausgabe der Zeitschrift Gegenworte hin, die sich den Katastrophenängsten widmet.

Wolfgang Stegemann, Professor für Neues Testament an der Augustana- Hochschule in Neuendettelsau, verteidigt seine Universität gegen den "Unkulturprotestantismus" aus München, der ihre Schließung fordert. "Imue" fragt, ob es für Lafontaine, Gysi und Co eigentlich ein Leben nach der Talkshow gibt.

Besprochen werden Spike Lees neuer Film "25 Stunden", die Ausstellung "Actionbutton" im Hamburger Bahnhof, die neuen Ankäufe der Bundeskunstsammlung zeigt, Mozarts "gern verkannte" Oper "Finta giardiniera" in Stuttgart, die Trashkomödie "All about Mary Long" von Andreas Sauter und Bernhard Studlar beim Donaufestival, ein Konzert des Pianisten Olli Mustonen mit Hindemith, Busoni und Prokowjew, das Konzert der "gurrenden Diva" Annie Lennox in Hamburg und Bücher, darunter Klaas Huizings Kierkegaard-Roman "Der letzte Dandy" sowie Petra Gersters und Christian Nürnbergers Erziehungsratgeber "Stark für das Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).