16.05.2003. In der FR meditiert John Berger über die Angst der Sieger. Die taz meditiert über die Angst der FR. In der NZZ findet Jens Reich das Klonen gar nicht so schlimm: Leichenfleddern war schlimmer. In der SZ gibt der Investmentbanker Abdullah Zeini Jefri bekannt, dass die Saudis nun begreifen, wer ihr Feind ist.
NZZ, 16.05.2003
Angelika Brauer
unterhält sich mit dem Molekularbiologen und Autor
Jens Reich, der das
Klonen nicht so anstößig zu finden scheint: "Die Menschen haben immer, wenn etwas Neuland war und faszinierend, Grenzen überschritten. Das
Fleddern von Leichen zum Beispiel - einfach um zu verstehen, wie der Körper funktioniert und was da drinnen los ist -, das ist viel einschneidender und
empörender gewesen, als wenn jetzt mit den Genen herumgespielt wird. Das bleibt doch
sehr abstrakt für die meisten Menschen. Das Überschreiten ist eines im Kopf. - Aber es wird
kommen."
Der Pergamentfund im österreichischen
Stift Zwettl enthält nicht Fragmente der Nibelungensage,
erklärt der Historiker
Eberhard Nellmann. Kein Grund zur
Trauer: "Das ist die eigentliche
Sensation des Fundes aus Zwettl: Es gibt einen zweiten deutschen
Erec-Roman!" Nellmann wünscht sich jetzt "eine Untersuchung und
genaue Transkription der Texte durch ein Gremium von Fachleuten. Vorläufig scheint man, wie zu hören ist, im Stift Zwettl daran nicht sonderlich interessiert zu sein. Fafnir hütet seinen Schatz, auch wenn es nun nicht mehr der Hort der Nibelungen ist. Schade, denn über die Frühgeschichte des deutschen Romans wäre wohl ein wichtiges Kapitel neu zu schreiben."
Weitere Artikel: Lilo Weber
stellt das
Fashion and Textile Museum vor, das der mexikanische Architekt
Ricardo Legorreta an der Londoner Bermondsey Street für die Modedesignerin
Zandra Rhodes gebaut hat. Sieglinde Geisel
zeichnet vierzig Jahre
Literarisches Colloquium Berlin nach. Albert Gier
schreibt zum 300. Todestag von
Charles Perrault.
Besprochen wird die Aufführung des
a-Moll-Konzerts op. 28 von
Karl Goldmark mit dem Geiger
Joshua Bell in Zürich.
Auf der
Filmseite geht's um das
"Festival del Cine Pobre" auf
Kuba, den
Film "Blue Gate Crossing" von
Yee Chih-yen,
George Clooneys Regiedebüt "Confessions of a Dangerous Mind" und das
Tadschikische Drama "Ein Engel an der rechten Schulter . . .".
Auf der
Medien- und Informatikseiten liefert Heribert Seifert einen interessanten Hintergrundartikel über das Thema des
Islamismus in deutschen
Medien und Universitäten - es wird mit einer gewissen
Ängstlichkeit angefasst, so Seifert: "Das
Unbehagen, das derzeit in vielen Redaktionen und bei unabhängigen Publizisten beim Umgang mit bestimmten islamischen Milieus und Organisationen zu beobachten ist, hat .. nur zum Teil mit den dreisten Versuchen radikaler Islamisten zu tun, die Reichweite des Prinzips Öffentlichkeit einzuschränken. Dagegen ist derzeit immer noch allgemeiner Widerstand zu mobilisieren. Ebenso wichtig ist aber auch die kritische Prüfung
kulturrelativistischer Wahrnehmungs- und Urteilsmuster, die gerade in den Medien immer noch
weit verbreitet sind."
Ferner
resümiert Stephan Russ-Mohl eine Bad Homburger Debatte über die Frage, ob die
Medienkrise vielleicht nur eine
Medieninszenierung sei.
Hubert Burda sagte zum Beispiel, er wisse nicht, was eine Krise sei und meinte, "dass das Management Fehler gemacht haben müsse, wenn '
führende Blätter in
München und
Frankfurt' kein Geld verdienten".
SZ, 16.05.2003
Der Investment-Banker und Kolumnist
Abdullah Zeini Jefri beschreibt, wie Saudi-Arabien nach den Terroranschlägen allmählich begreift, dass der
"Feind im eigenen Land" steckt: "Dieser Wille zum heiligen Krieg, die
Intoleranz der Wahabiten und deren Resistenz gegenüber internationaler Kritik, all dies hielt die Saudis bisher davon ab, ihr Erziehungssystem zu überprüfen und sich den
radikalen Ansichten ihrer Gelehrten entgegenzustellen. Auch den Befürwortern der alten Schule wird nun bewusst, dass die Bedrohung durch den Terrorismus nicht nur real ist, sondern auch inmitten der eigenen Gesellschaft besteht und das Leben von
Saudis und Muslimen ebenso bedroht wie das von ausländischen Mitbewohnern. (...) Dass diese Anschläge zu einem Zeitpunkt verübt wurden, als die US-Regierung den Abzug ihrer Streitkräfte aus Saudi-Arabien ankündigte, macht das eigentliche Ziel der Terroristen deutlich: es geht ihnen darum, die
saudische Regierung zu
stürzen und durch ein noch stärker religiös orientiertes Regime zu ersetzen."
Nach hundert Jahren
Laizismus in Frankreich entspricht das Wunschbild immer weniger der französischen Wirklichkeit, bemerkt Wolf Lepenies: "Nach wie vor bedrohen islamistische Gruppen Lehrer, die über den
Koran sprechen, obwohl sie
keine Muslime sind. Zugleich wehren diese Gruppen sich dagegen, dass Schülerinnen von einem männlichen Lehrer geprüft werden. Auch muss man fragen, wie es um die
Integrationschancen der französischen Muslime bestellt ist, wenn nur 25 Prozent ihrer
Imame französisch sprechen und mehr als die Hälfte dieser Geistlichen sich
illegal im Lande aufhalten."
Weitere Artikel: Jens Bisky
macht einige traurige Anmerkung zur
Berliner Uni-Krise; in der nächsten Woche wird der Senat den "versprochenen Katastrophen
reale Grausamkeiten" folgen lassen. Ijoma Mangold
meldet, dass Bertelsmann-Chef
Jörg Phuhl mit einem Brief an die Branche eine
"wehleidige Offensive" gestartet hat: "Man macht sich klein, um noch in jenes Boot zu passen, in dem angeblich alle Verlage sitzen und in dem es tendenziell
nicht enger, sondern
nur kuscheliger werden kann." Lothar Müller
beglückwünscht das
Literarische Colloquium Berlin zum vierzigjährigen Bestehen.
Andrian Kreye
berichtet, dass die
Dia Art Foundation im Städtchen Beacon am Hudson River am Sonntag ein
Museum eröffnen wird, das den
Großinstallationen von
Donald Judd,
Dan Flavin,
Richard Serra,
Hanne Darboven und
Joseph Beuys endlich einmal genügend Platz geben wird. Julia Encke
weiß, warum sich französische Männer plötzlich ein Special Beaute von
Elle kaufen: Es ist eine Fotoserie mit
Emmanuelle Beart drin, die als Venus dem Bade entsteigt (die
geizige Elle hat nicht ein einziges Foto ins Netz gestellt, ein Perlentaucher-Leser hat aber doch eins gefunden:
hier). Reinhard Brembeck
berichtet, dass
Martin Kusej, der 2004 in
Bayreuth den "Parsifal" inszenieren sollte, seinen Job nicht antreten wird. Michael Frank
begeistert sich für das
Ulrichsberger Kaleidophon, ein Festival
improvisierter Musik.
Tobias Kniebe
freut sich, dass das Filmfestival in
Cannes nach der überstandenen Eröffnung nun mit
"Matrix: Reloaded" richtig durchstartet. Fritz Göttler hat in Cannes
erfahren, dass Superproduzent
Dino De Laurentiis eine neue
Hannibal-Folge plant.
Besprochen werden die
Ausstellung zu
Richard-Artschwager (ein Interview mit ihm finden Sie
hier) in der
Deutschen Guggenheim Berlin,
Stephen Lawless' "Rheingold"-
Inszenierung in Nürnberg,
Armin Petras' Stück "zeit zu lieben zeit zu sterben" beim Berliner Theatertreffen und
Bücher, darunter
Gerd Hankels Studie "Die Leipziger Prozesse",
Javier Marias Roman "Der Gefühlsmensch" und
Friedrich Prinz' Porträts "Das wahre Leben der Heiligen" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
TAZ, 16.05.2003
Auf der Medienseite
berichtet Steffen Grimberg, wie unglücklich die
Frankfurter Rundschau darüber ist, dass sie von
Roland Koch mit einer Bürgschaft gerettet worden ist. "Von der Redaktion selbst, der Chefredaktion gar,
keine Zeile zum Thema. Dafür noch ein wenig Analyse zur allgemeinen Situation im überregionalen Zeitungsmarkt und zwei Blicke über den Tellerrand, zur österreichischen und franzöischen Presse respektive. Ein 'bisschen irritiert' von dieser Form der Einlassung in eigener Sache zeigte sich die Redaktion gestern dann schon: Denn dort hatte die Bürgschaftsfrage zu heftigen Diskussionen über die
politische Unabhängigkeit des Hauses geführt, und bis heute ist die Meinung dazu gespalten.'Natürlich hat das
Hautgout, natürlich ist das
Scheiße', sagt ein Mitarbeiter, allerdings sei allen relativ schnell klar gemacht worden, dass es sich wirklich um den
letzten Rettungsanker gehandelt habe: 'Wenn das nichts wird, machen wir hier
das Licht aus.'"
Im Feuilleton
widmet sich Harald Fricke der "
sexgesättigten Musik" und dem verfeinerten
Prankstertum von
Gonzalez: "Die Besonderheit von Gonzales lag ... schon immer in der Übertreibung, mit der er sich zum Connaisseur des Betriebssystems Musik stilisierte, auch wenn am Ende oft bloß ein bisschen
Zitat-Spaß in F-Minor zu hören war. Hier kannte sich einer aus und sagte:
Leck mich, Pop!"
Weitere Artikel: Jan Brandt
eröffnet eine Serie zur "Zukunft der Arbeit" und fragt sich, ob er
Immobilienmakler für Unterwasser-Wohnungen werden soll. Jan Freytag
erzählt die traurige und doch so beglückende
Geschichte der Musikkassette, der das Hamburger Museum für Kommunikation die Ausstellung
"Kassettengeschichte" widmet. Cristina Nord
schreibt aus
Cannes über die Pressekonferenz zum Film "Matrix Reloaded". Besprochen werden
CD-Editionen, die an die Ursprünge des
Rebetiko (mehr
hier) als Blues der griechischen Unterschichten erinnern.
Schließlich
Tom.
FR, 16.05.2003
Der britische Autor und Kunsthistoriker
John Berger (
"Gegen die Abwertung der Welt")
grübelt über einige Hinterlassenschaften des Irakkrieges, zum Beispiel die
Angst der Sieger: "Eines haben Rumsfeld, Cheney, Rice, Wolfowitz, Perle und Co. seit dem 11. September geschafft - nämlich jede Debatte darüber abzuwürgen, ob eine
schreckeinflößende Machtdemonstration dieses Kalibers überhaupt legitim oder langfristig gesehen effektiv sein kann. Cheney und Co. haben die vom Terrorangriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers heraufbeschworenen
Ängste als Mittel benutzt, um die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen. Im Endergebnis wird der Weltmarkt mit all seinen inhärenten
Begriffverdrehungen nahtlos ins amerikanische Sternenbanner eingewebt und die
Plusmacherei (für die wenigen, die es können) zum einzigen unveräußerlichen Recht. 'Der Terrorismus ist der
Krieg der Armen, der Krieg ist der
Terrorismus der Reichen', stellte kürzlich der Dramatiker
Peter Ustinov ebenso bündig wie hellsichtig fest."
Weitere Artikel: Petra Kohse
erzählt die Geschichte von
Hellmut O. Brunn, dem es heute
"wahnsinnig Leid" tut, dass
Frauen Ende der Sechziger seinen berühmten Spruch ernstnahmen "Wer zweimal mit dem gleichen pennt, gehört schon zum Establishment." Jochen Stöckmann
widmet sich Beethovens Manuskript der Neunten, das bei
Sothebys für viereinhalb Millionen versteigert werden soll. Steffen Richter
feiert mit dem
Literarischen Colloquium das vierzigjährige Jubiläum. In der Kolumne Times mager
spricht Ina Hartwig über
Selbstgespräche.
Besprochen werden eine große
Retrospektive des Brücke-Malers
Otto Mueller in der
Hypo-Kunsthalle München,
Carlos Carreras Latino-Drama "Die Versuchung des Padre Amaro", drei
Architektur-Ausstellungen in Bremen und Bücher, darunter
David Grands Roman "Körperfluchten",
Nick Fieldings und
Yosri Foudas Bericht "Masterminds of Terror", für den sie mit Drahtzieher des 11. September gesprochen haben und
Noam Chomskys Vision "Media Control" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 16.05.2003
Michael Althen
hat in
Cannes nun endlich den neuen
"Matrix"-Film gesehen, findet ihn aber
nicht so bemerkenswert, wie es die intensive PR-Arbeit der Produzenten vermuten ließ. Er hörte nur "Dialoge, die so
sperrhölzern wirken wie die Kulissen". Christian Schwägerl erregt sich über den Vorsitzenden der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung,
Ludwig Siep, der gegen Stammzellforschung an künstlichen Embryonen nichts einzuwenden hat, wenn diese Embryonen ohnehin nicht zur
Menschwerdung vorgesehen waren. Gerhard R. Koch erzählt, dass
Martin Kusej von dem Vorhaben zurücktrat, in
Bayreuth den "Parsifal" zu inszenieren. Grund für die einvernehmliche Trennung waren "Nichtvereinbarkeit der
Arbeitsprinzipien und -weisen des Inszenierungsteams und der Bayreuther Festspiele". Gemeldet wird, dass sich
Joerg Pfuhl von
Random House nun in einem öffentlichen Brief an seine Kollegen aus kleineren Verlagen wandte, um die Random House-Fusion mit
Ullstein-Heyne-List zu begründen.
Gina Thomas
freut sich über die Publikation von zwei CDs mit
ältesten Tondokumenten aus Großbritannien (hörproben
hier). Unter anderem hört man, wie
Robert Browning sein Gedicht "How they brought the good news from Ghent to Aix" vorträgt - ein Dokument aus dem Jahre
1889. Andreas Rossmann stellt eine
außergewöhnliche Brücke vor, die einen Zugang zur Bochumer Jahrhunderthalle schafft, eine
s-förmige Konstruktion des Büros
Schlaich Bergermann & Partner, die zugleich ein kühnes Ingenieurswerk darstellt. Ilona Lehnart resümiert ein Symposion über zehn Jahre
Hauptstadtarchitektur in Berlin. Und Rainer Blasius hat einem Münchner Kolloquium über
Willy Brandt und
Frankreich zugehört.
Auf der
letzten Seite schickt Werner Jacob eine Reportage aus der
Kulturhauptstadt Graz, deren
äußere Bezirke städtebaulich überzeugend erneuert werden. Patrick Bahners greift ein
Urteil des BGHs auf, wonach man das Wörtchen
"rechtswidrig" besser nur dann benutzt, wenn es der Definition des BGH entspricht - sonst kriegt man
Ärger mit demselben. Und Daniela Gregori porträtiert
Wilfried Seipel, den Direktor des
Kunsthistorischen Museums Wien, der auch nach dem Diebstahl von
Cellinis "Saliera" von seiner Ministerin nicht entlassen wird. Auf der
Medienseite beklagt Dietmar Dath, dass
Joss Wheldons Fernsehserie
"Buffy" nun zu Ende geht. Von Alexander Bartl erfahren wir, dass sich der
Hessische Rundfunk nun sogar Reportagen sponsorn lässt.
Besprochen werden ein Konzert von
Lucinda Williams in Darstadt und
Jean-Philippe Rameaus Oper "Les indes galantes" in Zürich.