Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2003. In der taz beklagt der US-Senator Robert C. Byrd die gefühllose Heuchelei seiner Regierung. Die SZ nimmt Kung-Fu-Unterricht und teilt väterliche Fußfeger an Neophyten mit Sonnenbrillen aus. FR und taz singen Michael Rutschky ein Ständchen. Die FAZ untersucht das Nachbeben von 68 in französischen Schulen. Die NZZ erinnert an Ralph Waldo Emerson und Countee Cullen.

TAZ, 24.05.2003

Unser Lieblingssenator, der rührige Robert C. Byrd (zur Person) hat wieder eine Rede gehalten (im englischen Original), eine Abrechnung mit der Regierung, die die taz auf der Tagesthemenseite auszugsweise abdruckt. "Das amerikanische Volk ist geduldig. Aber es gibt eine Grenze. Wenn es darum geht, amerikanisches Blut zu vergießen - wenn es darum geht, Chaos unter Zivilisten zu bringen, unter unschuldige Männer, Frauen und Kinder, ist gefühllose Heuchelei nicht akzeptabel. Nichts ist diese Art von Lüge wert - nicht Öl, nicht Rache, nicht irgendjemandes Wiederwahl, nicht jemandes großer Traum einer demokratischen Dominotheorie. Denken Sie an meine Worte: Die kalkulierte Einschüchterung wird die rechtmäßige Opposition in diesem Land nur für eine begrenzte Zeit ruhig stellen. Denn letztendlich wird die Wahrheit an die Oberfläche kommen - wie sie es immer tut. Und wenn sie es tut, wird dieses Kartenhaus, gebaut aus Betrug, zusammenfallen."

Im Feuilleton berichtet Cristina Nord aus Cannes, wo Max Färberbock auf ganzer Linie scheitert und Le Monde auf die Filmkritiker schimpft. Zum Sechzigsten von Michael Rutschky (Buch) hat die taz ein Potpourri aus Zitaten und Glückwünschen seiner Kollegen angerichtet. Miriam Lau sieht vor lauter Zuprosten schon doppelt. "Mein Kollege hat den Schlaflosen nie getroffen. Soll er doch zur Hölle fahren. Ich hebe mein Glas: auf beide Rutschkys." Mit Erleichterung registriert Gerrit Bartels das Verbot der Übernahme der Ullstein-Heyne-List-Verlage durch Random House seitens des Kartellamts. Ein willkommener Dämpfer für die "Allmachtsfantasien" der Bertelsmann-Manager, findet sie.

Eine einsame Besprechung widmet sich Schorsch Kameruns Spektakel "Macht fressen Würde" im Schauspielhaus Zürich.

Auf der Medienseite verordnet Silke Burmester den deutschen Medien den Abschied von ihren politisch-korrekten Anführern, den Etat verwaltenden Knödelpupsern. Steffen Grimberg sieht die gefälschten Artikel bei der New York Times als Zeichen für den Hunger nach Unterhaltung, koste es, was es wolle.

Im tazmag lesen wir, wie der Soziologe Dirk Baecker (zur Person) im Gespräch mit Holger Fuss ein informatives Hohelied auf den Fehler singt. "Im Falle Deutschlands dachten wir uns in Ost und West als die bessere Gesellschaft, der das Nationalsozialistische nie wieder würde passieren können, und hinderten uns dadurch, weil wir alles bereits gelernt zu haben glaubten, daran, weiterhin aus unserem historischen Fehler zu lernen. Die Gemütslage der Nation spaltete sich in den einen Teil, der glaubte, alles bereits gelernt zu haben, und den anderen, der davon ausging, dass nichts gelernt worden ist."

Ansonsten: Philipp Gessler hat zwecks Kirchentag in der Bibel geblättert und dabei Gegenentwürfe zum traditionellen Vaterbild des Christentums (Väterfreuden) gefunden. Jan Feddersen und Ivory Little nehmen die 26 Beiträge zum Grand Prix (das Event) unter die Lupe, auch unsere Lou mit "Lets Be Happy": "Typisch deutsch, weil das Lied sich bei allen Ländern anbiedert - ein bisschen Disco, ein wenig Homo, ein wenig Schunkeligkeit. Besser als Corinna May (Platz 21) wird sie wohl abschneiden, denn sie muss auf der Bühne kein Kaninchenfell tragen." Peter Kessen porträtiert einen hartgesottenen Hertha-Fan, Realschullehrer und Halb-Syrer, der sich im Stadion nicht so gern mit seinem Geburtsnamen Dured El Rifai rufen lässt.

Schließlich Tom.

SZ, 24.05.2003

Stephan Maus (Buch) stöhnt unterhaltsam über den Kung-Fu-Boom im Schlepptau von Matrix. Denn seitdem können er und Meister Lee nicht mehr in Ruhe trainieren. "Die Neophyten legen ihre Sonnenbrillen erst nach dem ersten Schlag aufs rechte Ohr ab. Sie tragen selbst im Hochsommer lange Staubmäntel. Erst dachte ich, sie trügen Schienbeinschoner unter ihren weiten Hosen, und hatte Verständnis, weil einem das Leben bekanntlich trotz mehrfacher roter Karte immer wieder in die Knochen grätscht. Aber die Neophyten tragen Gewichte mit Klettverschlüssen an ihren Beinen, damit die Beine höher fliegen, wenn sie ohne Gewichte treten. Sie flitzen umher wie hysterische Labormäuse auf Dopamin und umgarnen einen mit verschnörkelten Gesten, als hätte ein transzendentaler Spieler sie gerade mit einer frischen Ladung Energiepunkte versorgt. Sie entladen ihre energetische Überversorgung mit unkontrollierten Tritten vor fremde Schienbeine, bis jemand die Geduld verliert, und sie mit einem väterlichen Fußfeger neben einen Opferteller fallen."

Franziska Augstein konnte schon einen Blick in Roger Engelmanns und Karl Wilhelm Frickes demnächst erscheinende Arbeit über den Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 werfen ("Der 'TagX' und die Staatssicherheit", Edition Temmen). Offensichtlich lohnt er sich: Die Autoren haben "tatsächlich zwei Nuggets" gefunden, schreibt Augstein. "... es sind zwei aus den abgelagerten Akten des Stasi-Archivs ans Tageslicht geholte Dokumente", die "belegen, dass der westdeutsche Geheimdienst genauso dummes Zeug über die Ursachen des Aufstandes dachte wie die ostdeutschen Gegner". Beide Geheimdienste konnten sich nämlich "nicht vorstellen, dass die ostdeutschen Arbeiter aus eigenem Antrieb auf die Straße gingen, streikten, Diensträume der Volkspolizei besetzten, Funktionäre verprügelten und aus einigen Gefängnissen die Häftlinge befreiten. Da musste, so dachte man in West wie Ost, ein Mastermind dahinter stecken."

Alexander Kissler hat mit zusammengebissenen Zähnen gelesen, wie sich die Schweizer Weltwoche die Deutschen vorstellt: "15 'Helden der Nation' sind dort abgebildet, und von Bohlen, dem 'singenden Solarium', wird orakelt, dass er streng des Kanzlers Wunsch nach mehr deutschem Selbstbewusstsein erfülle. Darin sei er ebenso typisch für eine 'dünkelhafte' Nation wie Joschka Fischer, der Metzgerssohn mit unvollendeter Fotografenlehre ..." (Tja, andererseits kämen deutsche Zeitungen wohl nie auf die Idee, ein ganzes Heft über die Schweiz herauszugeben.)

Weitere Artikel: Ulrich Raulff findet sowohl den von I.M. Pei entworfenen Anbau (das ist er) des Deutschen Historischen Museums in Berlin als auch die gerade angelaufene Europa-Ausstellung außerordentlich gelungen. Till Briegleb klärt uns auf, was mit der ungeliebten Jeff-Koons-Skulptur auf St. Pauli passieren soll. Sonja Zekri berichtet vom Ärger der Konzeptkünstlerin Damali Ayo mit ihrer Rent-a-Negro-Website, die offensichtlich nicht weit genug von der Realität entfernt ist. In der Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert kommentiert Jan Bürger ein Schreiben von Hans Henny Jahnn an Werner Helwig aus dem Jahr 1959. Wolfgang Schreiber hat der "ominösen Preisvergabeprozedur" des Siemens Musikpreises beigewohnt, mit dem Komponisten Wolfgang Rihm und seinem Freund Peter Sloterdijk. Tobias Kniebe schreibt aus Cannes von der offensichtlich beeindruckenden Ludivine Sagnier: "In welchem Zustand der Gnade muss man sein?" Fritz Göttler gedenkt Federico Fellinis, (alles über ihn, auf Italienisch), der vor zehn Jahren gestorben ist. Gemeldet wird der Tod des Filmakteurs Jean Yanne.

Auf der Literaturseite erinnert Willi Winkler daran, dass vor zweihundert Jahren, am 25. Mai, Ralph Waldo Emerson geboren wurde, Verfasser der intellektuellen Unabhängigkeitserklärung. Auf der Medienseite spekulieren "jja/o.k." über die gewollte Unverkäuflichkeit des Tagesspiegel. Und Karstadt-Chef Wolfgang Urban redet über den Einstieg beim Sportfernsehen, Kommunikation und Zielgruppen.

Besprochen werden Stephan Rottkamps Inszenierung von "Miss Sara Sampson" an den Münchner Kammerspielen, die Uraufführung von Wolfgang Mitterers Oper "Massacre" in Wien, "Theatrum Mundi", eine Ausstellung über die Opulenz des barocken Lebenstheaters im Haus der Kunst, ebenfalls in München, und Bücher, darunter Hans Ulrich Gumbrechts interessantes Plädoyer für "Die Macht der Philologie", "Un joli garcon", ein deutscher Gruselroman von Fanny Morweiser sowie George Taboris Manuskript "Ich versteh? nix Deutsch" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende unterhält sich der Maler Jeff Wall (mehr) mit Holger Liebs über Kunst, natürlich, und wehrt sich gegen seine Kritiker. "Viele Interpreten haben behauptet, in meinen Bildern sei alles künstlich und inszeniert. Das ist nicht so. Die Bilder, die man mag, sind Teil der eigenen Erfahrung. Sie zeigen einem etwas. Sie affizieren dich. Wie die kunsthistorische Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, kann man nicht kontrollieren. Wer das tut, macht aus Kunst eine Art Programm. Das haben viele in den vergangenen zwanzig Jahren getan. Der Gehalt ihrer Kunst erschöpft sich im Zitieren, in kunsthistorischen Anleihen. Also: plane nicht!

Die Schriftstellerin Monika Maron (Bücher) schickt uns eine traurig-schöne Ode an ihre Heimat Vorpommern. "Das ist die Landschaft, die mir vom Leben zum Lieben zugeteilt wurde. Natürlich frage ich mich manchmal, warum es ausgerechnet diese sein musste und nicht eine lieblichere oder grandiosere, reichere, buntere, wärmere, und die einzige Antwort, die mir einfällt, sagt weder etwas über die Landschaft, noch über mich, sondern nur über die geopolitischen Verhältnisse zur Zeit unseres Kennenlernens: es lag an der Erreichbarkeit, der räumlichen, finanziellen und zeitlichen Erreichbarkeit. Letztlich gründet jede Liebe in der Erreichbarkeit, hinter der aber, weil sie den Liebenden wohl zu profan und desillusionierend erscheint, lieber Schicksalhaftes vermutet wird."

Außerdem: Willi Winkler bewältigt das 50-jährige Jubiläum zur Erstbesteigung des Mount Everst mit einem journalistischen Klettersteig in zehn Stationen. Marc Hujer porträtiert den Iraker und Wahlamerikaner Emad Alkasid, der jetzt zurück in die Heimat will - um seinen Landsleuten möglichst viele und teure Handys zu verkaufen. Peter Bäldle beglückwünscht den Chef des Modelabels Akris (zum Schwärmen), Albert Kriemler, zu seinem Geschäftsgeschick, das seine Kleider zum absoluten Muss bei den reichen Ladies der USA gemacht hat.

FR, 24.05.2003

Wer ist Michael Rutschky (Buch)? Nach Georg Stanitzek ein Essayist, der seine Essays halt nur "unentwegt mit Personal" ausstattet. Harry Nutt braucht schon etwas länger, um anlässlich des sechzigsten Jubiläums das System Rutschky zu erklären. "Die Grußtechniken in der Kreuzberger Nachbarschaft beschäftigten ihn dabei nicht weniger als die große Politik oder die Markierungsstrategien seines kürzlich gestorbenen Hundes Kupfer. Das Spürsystem eines Hundes ist der rutschkyschen Aufmerksamkeit denn auch keineswegs fremd. Noch trefflicher lässt sich das System Rutschky mit der Praxis des Lesekreises beschreiben, den er mit anderen, Unterbrechungen mitgezählt, seit fast 30 Jahren unterhält. Geisteswissenschaftler, Lebenskünstler und Feuilletonisten, Lehrer, junge Romanciers und gewöhnliche Textverbraucher treffen dabei 14-tägig zur zwanglosen Klassikerprobe von Hume bis Heidegger, von Luhmann bis Locke aufeinander. Eine Anmutung von Georgekreis-Mystik wird hier rasch im badischen Weißwein ertränkt."

Weitere Artikel: Martina Meister ist recht zufrieden mit dem neuen Erweiterungsbau (so schaut er aus) für das Deutsche Historische Museum von Ieoh Ming Pei. "Peis Bau lädt dazu ein, ihn zu entdecken. Er will erobert werden." Daniel Kothenschulte widmet sich schmerzverkrümmt dem deutschen politischen Kino in Cannes und dessen neuesten Vertreter "September", Max Färberböcks Ensemblefilm über die Auswirkungen der Terroranschläge von New York und Washington, ein "Irrflug wie er dann doch ohne Beispiel ist in der deutschen Filmgeschichte". Michael Tetzlaff lässt uns wissen, dass er mal mit der französischen Göttin Ludivine Sagnier zusammen war. Renee Zucker empfiehlt uns in Zimt, in Heidelberg doch mal mehr über die unbekannte Malerin Elfriede Lohse-Wächtler zu erfahren. Martin Krumbholz beglückwünscht George Steiner zum Ludwig-Börne-Preis. Meldungen besagen, dass Gerhard Weber der neue Intendant am Theater Stadt Trier sein wird und dass die historischen Stadtkerne von Wismar und Stralsund jetzt offiziell (Nummer 1067 in der Liste) als Weltkulturerbe gelten.

In Zeit und Bild begibt sich Norbert Hummelt auf die Suche nach dem magischen Ort im dritten der "Four Quartets" von T.S. Eliot, den von Gischt umkränzten Felsen draussen vor der amerikanischen Küste mit dem schönen Namen "The Dry Salvages".

Besprochen werden Nancy Frasers und Axel Honneths politisch-philosophische Kontroverse "Umverteilung oder Anerkennung?", Jan Bürgers etwas germanistikbetonte Hans-Henny-Jahnn-Biografie "Der gestrandete Wal" sowie Kerry William Purcells Biografie des Designer-Gurus "Alexey Brodovitch" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Am Mittwoch beginnt der erste ökumenische Kirchentag in Deutschland. Die FR widmet der Religion und allem was dazu gehört deshalb das halbe Magazin. Rock-Großverdiener und Friedensbotschafter Bono lässt uns wissen, warum er neben U2 auch an Gott glaubt. "Ich liebte auch das Alte Testament. Die Geschichten darin waren wie Action-Filme, mit hartgesottenen Männern und Frauen, Verfolgungsjagden im Wagen, Opfern, Blut und Eingeweiden. Leider gab es kaum Kuss-Szenen. David blieb für mich ein Star, der Elvis der Bibel - der Vergleich liegt nahe: Man muss sich nur die nackte David-Statue Michelangelos anschauen. (Sehen Sie sich das Gesicht mal genauer an. Aber ich habe immer noch nicht begriffen, warum dieser berühmteste Jude bei Michelangelo nicht beschnitten ist.)"

Außerdem: Fernsehpfarrer Jürgen Fliege und Liedermacher Konstantin Wecker plaudern über verkniffene Protestanten, barocke Katholiken und das Gefühl, dem Teufel begegnet zu sein. Die Zahl der weiteren Artikel ist Legion, von den zehn Geboten über Moorbäder bis zur Aussöhnung in Nordirland. Hier nochmal die Übersicht.

NZZ, 24.05.2003

Thomas Leuchtenmüller feiert die Geburtstage von Ralph Waldo Emerson (mehr hier) und Countee Cullen (mehr hier), "dem weißen König und dem schwarzen Prinzen" der amerikanischen Literatur, die aber abgesehen vom Geburtsdatum nichts gemein zu haben scheinen. Claudia Schwartz versteht nicht, warum Kanzler Schröder der Eröffnung des Pei-Anbaus für Deutsche Historische Museum demonstrativ fern blieb. Marc Zitzmann stellt die Pariser Cite de la musique vor.

Die Beilage Literatur und Kunst druckt Reinhold Brinkmanns Laudatio auf Wolfgang Rihm, der am Donnerstang den Ernst-von-Siemens-Musikpreis erhalten hat. Zum achtzigsten Geburtstag von György Ligeti (mehr hier) folgt Elisabeth Schwind seiner Musik in Kubricks "Odyssee im Weltraum". Ronald D. Gerste erinnert zum dreihundertsten Geburtstag an den Chronisten Londons Samuel Pepys (hier seine Tagbücher).

Besprochen werden die Ausstellung "Orte des Impressionismus" im Kunstmuseum Basel und eine ganze Zahl Bücher, darunter Wilhelm Hennis' Studie "Max Weber und Thukydides", Sergio Pitols Roman "Defilee der Liebe", Texte von Louis Begley und Anka Muhlstein "Venedig unter vier Augen", Eckhard Roelckes Gespräche mit György Ligeti "Träumen Sie in Farbe?", Wolfgang Schlüters Anthologie englischer Gedichte "My Second Self When I Am Gone", Peter Ackroyds London-Biografie und Fernando Pessoas Schrift "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 24.05.2003

Auch Frankreich streitet nach Pisa über seine Schulen, aber dabei geht es natürlich nicht um die Mittelwerte, sondern um die Fundamente der Nation, wie Joseph Hanimann erahnen lässt: "Versinkt Frankreichs Schulideal aus Elitegeist und Egalitätsanspruch des Ganztagsunterrichts im Nachbeben von 1968? Statt der Schüler demonstrieren diesmal Lehrer im Vorrentenalter. Der politisch bedrängte Bildungsminister Luc Ferry macht in seinem Buch 'Lettre a tous ceux qui aiment l'ecole' (Brief an alle, die die Schule lieben), das er an die achthunderttausend Lehrer des Landes verschickte, ausdrücklich die Ideologie des individualistischen Eigensinns jener Zeit für den Orientierungsmangel und Autoritätsverlust in der Schule verantwortlich. Seit seiner vor siebzehn Jahren zusammen mit Alain Renaut publizierten Studie über das Denken der Achtundsechziger (La pensee 68) lässt ihn das Thema nicht los. Wo immer er sich heute blicken lässt, bekommt er aber im buchstäblichen Sinn sein jüngstes Buch an den Kopf geworfen, oft mit der Bemerkung 'Zurück an den Absender'."

Weitere Artikel: Thomas Wagner feiert das "sensationelle", "fast schon revolutionäre" Schaulager, das heute in Basel eröffnet wird, eine Mischung aus Depot, Archiv, Studiengalerie und Ausstellungshalle, das, wie Wagner meint, "unsere Vorstellung von dem, was ein Kunstmuseum im einundzwanzigsten Jahrhundert zu sein hat", gründlich verändern wird. Nach einem ernüchternde Symposium zur Zukunft der "Topographie des Terrors" sucht Ilona Ehnart Ursachen für das "blamable Scheitern des Neubauprojekts" und findet sie bei einer "inkompetenten Bauverwaltung" ebenso wie in Zumthors Entwurf, "der bei aller ästhetischen Brillanz das Prädikat 'nicht machbar' trägt". Andreas Kilb stellt mit Bedauern fest, dass auch Max Färberböcks Film "September" das deutsche Kino nicht in Reichweite einer Palme kommen lässt.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten erinnert Patrick Bahners an den vor zweihundert Jahren geborenen amerikanischen Evangelisten Ralph Waldo Emerson, der die Liebe auf den ersten Blick als "kosmische Erstkommunion" zelebrierte, die frohe Botschaft des ewigen Energieaustauschs verkündete und damit für Patrick Bahners beweist, dass die Amerikaner nicht zum Mars, sondern zur Venus streben. Manfred Gailus erinnert an die Historikerin und Studienrätin Elisabeth Schmitz, die sich als eine der wenigen Frauen im Kirchenkampf gegen die Nationalsozialisten engagierte. Auf der Medienseite sorgt sich Jörg Hahn um die Zukunft des Fußballs am Samstag.

Besprochen werden das Stück "Macht fressen Würde" der "Punk-Pudel" Schorsch Kamerun und Rocko Schamoni, in Zürich, das wunderbare neue Album der Jayhawks und eine neue CD mit den alten Lieder von Esther Ofarim und Bücher, darunter Michael Frieds bisher nur auf Englisch erschienene Studie zu Adolph Menzel, Tim Parks Roman "Doppelleben", Tonio Benacquistas "Die Melancholie der Männer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Ludwig Harig ein Gedicht von Johannes Plavius vor:

"Lernen

Das lernen ohne lust ist eine läre last/
Denn lehre wird durch geist und lieb' ein lieber gast.
Doch wird die list und lust nicht ohne last gefasst.
Wo derowegen lust und last ist so verhasst/
Daß man der lehre thut mit list nur überlast/
In solchem stalle liegt manch laster in der mast."