Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2003. In der FAZ schimpft James Watson auf Deutschlands Bioethik. Die NZZ gibt Heiratstipps für Indien. Die FR befasst sich mit "illegaler Archäologie". Alle ziehen eine eher nüchterne Bilanz des Festivals von Cannes.

NZZ, 27.05.2003

In der NZZ erläutert der indische Kulturwissenschaftler B. N. Goswamy heute die Besonderheiten indischer Heiratsannoncen. So erfährt der interessierte Leser, dass es in Indien eine Hochzeitssaison gibt, welche von günstig stehenden Sternen abhängig gemacht wird. Ein Blick in den Inhalt der Annocen ist für westliche Leser ziemlich verwirrend, spiegelt er doch die "labyrinthische Gesellschaftsstruktur" Indiens wider, mit all seinen Kasten, Religionszugehörigkeiten Herkunftsregionen und Sprachen. Daher gleichen sie für Goswamy mit ihrer komplizierten Struktur dem "Blick auf eine indische Banknote, die ihren Wert - sagen wir: hundert Rupien - in nicht weniger als siebzehn verschiedenen Sprachen und Schriften verkündet".

Weitere Berichte: In einem flammenden Plädoyer erklärt Joachim Günther, warum das Kartellamt bei einer Fusion der Bertelsmann Verlagsgruppe mit den Axel-Springer-Buchverlagen intervenieren muss: "Wenn die Wettbewerbshüter nicht in diesem Fall bremsend eingreifen, wann sonst?" Urs Haffner berichtet von einer Gedenktagung über die schweizerische Bauernrevolution von 1653, bei allerdings der Hauptakteure - der Bauern - erstaunlicherweise nicht gedacht wurde. Thomas Schacher zeigt sich empört über die Strategie einiger Künstler, namentlich erwähnt er Anne-Sophie Mutter, Konzerte nur noch als PR für ihre neue CD zu begreifen.

Besprochen werden eine Ausstellung im National Maritim Museum, mit der England den vierhundertsten Todestag von Königin Elisabeth I. würdigt, die Aufführung von Wagners "Tristan und Isolde" in der Wiener Staatsoper, und Bücher, darunter Fuad Rifkas Gedichte "Das Tal der Rituale", Jürgen Theobaldys Roman "Trilogie der nächsten Ziele" und Benjamin Constants "Correspondance generale, publiee sous la direction de C. P. Courtney. III" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). 

FAZ, 27.05.2003

Vor einigen Tagen druckte die FAZ eine geharnischte Deutschlandbeschimpfung (Resümee) des amerikanischen Autors Ralph Peters, die von den anderen Medien kommunikativ beschwiegen wurde. Eine neue Deutschlandbeschimpfung des Genetikpioniers James Watson wird darum heute vielleicht auf Seite 3 des Feuilletons versteckt. Christian Schwägerl hat den Mitentdecker der DNS getroffen und berichtet fast ausschließlich in indirekter Rede über Watsons Kritik an der bioethischen Debatte in Deutschland: Bei einer Festveranstaltung zum 50. Jahrestag der Entdeckung der DNS habe er Gesundheitsministerin Bulmahn als ängstlich erlebt. Er habe das Gefühl gehabt, "Frau Bulmahn müsse ihren Zuhörern immerzu versichern..., dass alle bioethischen Fragen im Konsens gelöst werden könnten. Genau das zweifelt Watson aber an: 'So etwas kann man nicht im Konsens lösen. Man... muss denen, die der Gentechnik skeptisch gegenüberstehen, zumuten, tolerant zu sein und andere ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen.' Dass die Embryonenauswahl durch Präimplantationsdiagnostik in Deutschland noch immer verboten ist, obwohl sie doch Abtreibungen vorbeugen könne, sei doch sehr merkwürdig." Das werden die dafür zuständigen Herren von der FAZ sicher anders sehen!

Weitere Artikel: Michael Martens hat eine Zitatmontage zum 300. Geburtstag Sankt Petersburgs zusammengestellt. Angelika Heinick meldet, dass das Poesiealbum mit Marcel Prousts berühmtem Fragebogen in Paris versteigert wird. Joseph Croitoru berichtet über die erste "Neonazi-Website israelischer Provenienz", die wohl von nichtjüdischen Einwanderern betrieben wird.

Auf der letzten Seite druckt die FAZ Joschka Fischers Laudatio auf George Steiner zum Börne-Preis. Michael Althen porträtiert den Regisseur Gus van Sant, der für seinen Film "Elephant" die Goldene Palme in Cannes erhielt. Und Oliver Tolmein schreibt über das Projekt einer Enquete-Kommission, die Heime für Behinderte und Pflegefälle unter die Lupe nehmen sollen - die zuständigen Politiker scheinen hier noch zu zögern.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert Felicitas von Lovenberg an den vor 300 Jahren verstorbenen Tagebuchschreiber Samuel Pepys. Auf der Medienseite stellt Alexander Bartl Dokumentationen über Sankt Petersburg vor, in Arte und im ZDF laufen. "abe." berichtet über Bestrebungen des deutschen Phonoverbands, Quoten bei den öffentlich-rechtlichen Radiosendern einzuführen, damit sie auch mal Neues und Deutsches spielen. Frank Pergande stellt den Königsberger Express vor, eine einsame deutschsprachige Monatszeitung in Kaliningrad. Gina Thomas meldet, dass das Zeitungsimperium des Verlegers Conrad Black wankt.

Besprochen werden ein "Tristan" in Wien unter Christian Thielemann und Günter Krämer, ein "Tristan" in Frankfurt unter Paolo Carignani und Christof Nel, Installationen und Performances von Andreas Slominski in der Mailänder Prada-Stiftung und Rene Polleschs Stück "Banküberfälle" in Zürich.

TAZ, 27.05.2003

Christina Nord resümiert die Filmfestspiele in Cannes und bemängelt zu wenig Cinephilie, lobt aber die "salomonische Weisheit" der Jury. "Wenn Cannes in diesem Jahr kein Ort war, an dem mit Verve und Freude ästhetische Positionen debattiert wurden, so gibt dies doppelten Anlass zur Sorge: zum einen, weil man den Eindruck nicht loswird, die Kluft zwischen den USA und dem alten Europa sei tatsächlich schon so groß, dass sie sich bald nicht mehr überbrücken lässt; zum anderen, weil die Anspannungen zu ersticken drohen, was zu einem Festival gehört: Neugier, Unvoreingenommenheit und die Lust an den vielen Ausdrucksformen des Filmes."

Helmut Höge ist wieder einmal ins Berliner Umland ausgeflogen und hat unter anderem eine Klärung des Begriffs "schwarzer Junker" mitgebracht. Diese Gattung, die sich in Nachfolge des echten Adels in leer stehenden Schlössern und Gutshäusern in Brandenburg breit gemacht hat, definiert sich folgendermaßen: "Eigentlich dürfen sie nicht landwirtschaftlich tätig werden, oftmals ist ihr Land auch zu klein dafür. Wem es jedoch gelingt, genug dazuzupachten, der stellt einen Verwalter ein und gibt selbst - meist zusammen mit seiner bezaubernden jungen Ehefrau - nur an den Wochenenden den schwarzen Junker. So wie auch immer wieder gerne kleine, aber feine Schlossfeste beziehungsweise kulturelle Abende."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels hat schon einmal einen Blick in die Herbstprogramme der Verlage riskiert und prognostiziert vor allem "Trash und Trallala". Ein Kongress zum Thema "Utopische Körper" an der Berliner Volksbühne veranlasst Detlef Kuhlbrodt zu dem Fazit: "Berlin ist übrigens die kränkste Stadt Deutschlands." Und auf einer Tagesthemen-Seite erklärt Klaus-Helge Donath den Unterschied zwischen Moskau und Petersburg: "Das 'heilige Moskau' ist weiblich, betont gefühlvoll, weich, launisch und natürlich gewachsen, nicht entstanden. Petersburg dagegen ist hart und männlich, vernunftorientiert, geradlinig, in die Zukunft gewandt, aus Stein errichtet, und nicht wie Moskau aus Holz." Es hat nur leider das vergangene Jahrzehnt komplett verschlafen.

Besprochen werden heute Bücher, darunter William Gaddis' Kurzroman "Das mechanische Klavier" und ein Band über die ewige Frage "Was ist schön?". Anlässlich von 100 Jahre Kongo (mehr hier) wird eine Analyse von "Mobutus Aufstieg und Kongos Fall" vorgestellt und das bisher nur auf französisch erschienenes Porträt des toten Revolutionsführers der Demokratischen Republik Kongo, Laurent-Desire Kabila "Kabila et la revolution congolaise - panafricanisme ou neocolonialisme?" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 27.05.2003

Ulrich Clewing hat eine Berliner Tagung besucht, die sich mit der "illegalen Archäologie" beschäftigte. Die Problematik, so Clewing, sei "auch unter weniger katastrophalen Umständen als in Bagdad... virulent. Raubgrabungen werden seit jeher durchgeführt, in Italien und in der Türkei, in Griechenland und auf dem Balkan, aber auch in Österreich, Deutschland oder Großbritannien. Und ihre Zahl wird in Zukunft wohl noch zunehmen, was eine Entwicklung ist, an der tragischerweise alle beteiligt sind, sogar Museumsdirektoren... Denn schließlich tragen auch und gerade die erfolgreich arbeitenden Museen dazu bei, dass einfachste ökonomische Gesetzmäßigkeiten greifen: Auf eine erhöhte Nachfrage bei geringem Angebot reagiert der Markt mit steigenden Preisen. Und steigende Preise verstärken den Anreiz, geltendes Recht zu umgehen."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte singt ein Hoch auf die Jury von Cannes. In seinen Jugenderinnerungen aus der "Zone" berichtet Michael Tetzlaff heute vom heimlichen Westfernsehenkucken ("Hitparade", "Formel eins"). Und in Times mager liefert Frank Keil erste Gegenvorschläge zu Jeff Koons' geplantem Reeperbahn-Kunststück. Auf der Medienseite informiert Harald Keller in einem Grundsatzartikel über die Kaste der "embedded cooks" in diversen Ess- und Kochsendungen auf allen Kanälen.

Besprochen werden Leander Haußmanns Inszenierung der "Elektra" am Berliner Ensemble, Bernard-Marie Koltes Stück "Rückkehr in die Wüste" am Kölner Stadttheater und die Aufführung von "Tristan und Isolde" an der Oper Frankfurt. Vorgestellt wird die Ausstellung "Vincents Wahlverwandtschaften" im Van Gogh Museums in Amsterdam, und rezensiert wird das - bisher nur auf Französisch erschienene - Buch von Bernard Henri-Levy über die Ermordung des Journalisten Daniel Pearl.

SZ, 27.05.2003

In einem Kommentar zur Christiansen-Sendung am Bremer Wahlsonntag watscht Ijoma Mangold kurz und schlüssig "die gut abgehangene politische Semantik" ab, die er - von der "schallenden Ohrfeige" bis zur "klaren Abfuhr" - noch "schlimmer als den Reformstau" findet. "Die große Koalition der politischen Semantik jedenfalls arbeitet perfekt. Da ist kein Knirschen zu hören. Der Post-Parlamentarismus ist seinen Kinderschuhen längst entwachsen. Drinnen herrscht Konsens, dass die Menschen draußen es Leid seien, dass nichts passiert. Und wieder hat sich die teflongeschützte Weltkugel der Sabine Christiansen einmal um die eigene Achse gedreht - diese perfekte Allegorie auf Luhmanns Formulierung von der Unerreichbarkeit der Gesellschaft."

Susan Vahabzadeh resümiert die Filmfestspiele in Cannes, erklärt warum Festival-Chef Gilles Jacob "in Bedrängnis geraten" sei und stellt abschließend fest: "Eines muss man diesem Festival lassen, auch, wenn's eher aufs Konto der Jury geht: Mit 'Elephant' hat jener Film gewonnen, der das am besten einfängt - die Orientierungslosigkeit, mit der wir zusehen, wie uns die Welt entgleitet."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp schließt sich den Lobgesängen auf das neue Kunstquartier "Schaulager" der Architektengemeinschaft Herzog & de Meuron in Basel an. Alexander Kissler bereitet auf den morgen beginnenden Kirchentag vor. Henning Klüver porträtiert die Villa Massimo (mehr hier), die in diesem Jahr, ja, zum vierten Mal eröffnet wird. Jens Bisky berichtet vom Kongress "Utopische Körper" in Berlin. Karin Siebert resümiert eine Tagung in Tutzingen zum Thema Eliteförderung. In der Kolumne "Zwischenzeit" philosophiert Harald Eggebrecht über leere Wohnungen beziehungsweise Um- und Auszüge. Thomas Steinfeld erzählt eine Anekdote des schwedischen Gelegenheitslyrikers Ragnar Thoursie, wonach dieser einmal "alle Klaviere des Landes verzeichnet" habe, um "arbeitslose Musiker und musikerlose Instrumente" zusammenzubringen. Angekündigt wird schließlich das einzige Deutschland-Konzert des "Pfadfinderorchesters" "The Hidden Camera", das "das schwule Lebensgefühl besingt". Schließlich meldet "skoh" die Versteigerung einer Dali-Sammlung.

Besprochen werden neue Stücke von Rene Pollesch und Schorsch Kamerun am Schauspielhaus Zürich, eine Inszenierung von "Tristan und Isolde" an der Staatsoper Wien, der Film "Gott ist tot" mit Götz George und Bücher, unter anderem Emine Özdamars Erinnerungen an das Berlin der Jahre 1976/77, ein Reisebericht von Bernd Wagner nach Chihuahua, zwei Bände zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte und eine Studie über den "Polnischen Oktober und die Solidarnosc-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).