Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2003. Jürgen Habermas' Rückzug auf  "Kerneuropa" scheint fehlzuschlagen: "Zutiefst engstirnig" nennt der Historiker Harold James in der SZ Habermas' Europa-Vision. Die FR stellt fest: "Rumsfelds Wort vom 'alten Europa' hat gesessen." Die FAZ fragt sich, was für ein Europa Habermas eigentlich meint. Aber es gibt auch andere Themen: Die taz interviewt den kurdischen Regisseur Bahman Ghobadi. Die NZZ resümiert den Kirchentag.

SZ, 03.06.2003

In einem kritischen Diskussionsbeitrag widerspricht der amerikanische Historiker Harold James dem gemeinsamen Aufruf von Jürgen Habermas und Jacques Derrida (siehe Feuilletonrundschau vom Samstag und von gestern) und kritisiert vor allen Dingen, dass die beiden "auf ihrer Suche nach einer neuen Weltordnung innenpolitisches und außenpolitische Denken durcheinander gebracht" hätten. "Obendrein gehen die Europäer, die während der letzten fünfzig Jahre einen nicht unbeträchtlichen Wohlstand erreicht haben, davon aus, es sei richtig, die Welt so zu belassen, wie sie ist - jede Veränderung sei schädlich. Das ist in der Tat ein sehr europäischer Blickwinkel: Tatsächlich vertreten sie jene Sorte von Eurozentrismus, gegen den zu sein Derrida und Habermas vorgeben und von dem sie glauben, dass Europa ihn überwinden oder in etwas anderes überführen sollte. Das ist zutiefst engstirnig."

Weitere Artikel: Alexander Kissler beschreibt, wie die EU-Gesundheitsminister ein Klon-Verbot verhindern. Jens Bisky informiert über die von Bundestags beschlossene Enquete-Kommission zur Kultur. Christian Jostmann resümiert eine Wiener Tagung über transatlantische Missverständnisse. Svenja Klaucke berichtet über das Symposium "Taumel und Tabu" beim Festival Offlimits. Reinhard J. Brembeck weiß von der "Heimkehr" der New Yorker Philharmoniker in die Carnegie Hall zu berichten, und Andreas Bernard gratuliert dem deutschen Musikmagazin "Trust" zur 100. Ausgabe. In der Serie "Deutschland extrem" porträtiert Oliver Fuchs das unterfränkische Städtchen Sulzfeld, Heimat der "längsten Bratwurst der Republik". Und in der "Zwischenzeit" bringt Evelyn Roll Nichtbayern die Einrichtung des "Autragshäusels" nahe. Auf der Medienseite werden die Befürchtungen bezüglich einer Lockerung der Monopolvorschriften am US-Medienmarkt bestätigt: der FCC hat entschieden, and the winner is erwartungsgemäß: die Konzernriesen.

Besprechungen: Willi Winkler warnt vor der Schau "Syberberg/Paris/Nossendorf" im Pariser Centre Pompidou: "Der Größenwahnsinn lodert, nicht ganz so farbenfroh wie beim Geistesbruder Anselm Kiefer, aber ähnlich mythenselig und garantiert 100 Prozent ironiefrei. Beide sind hochwertige Exportprodukte, so deutsch, deutscher geht's nicht mehr."
Des weiteren werden eine Ausstellung von Gerhard Merz im Kunsthaus Bregenz besprochen, eine Inszenierung der Händel-Oper "Deidamia" bei den Göttinger Händel-Festspielen, das Musical "Alice im Wunderland" am Schauspiel Hannover und der Film "Old School" von Todd Phillips.

Rezensiert werden schließlich noch Bücher, darunter Michel Foucaults Vorlesungen am College de France, eine Studie über sogenannte Lazaruserfahrungen, sprich: die Rückkehr aus Bereichen des Todes sowie eine Neuausgabe von Gottfried August Bürgers "Münchhausen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 03.06.2003

"So viel symbolische Macht war selten", kommentiert Ulrich Speck die "konzertierte Aktion" Habermas, Derrida, Eco und Co. in FAZ, SZ und weiteren europäischen Tageszeitungen. Speck vermisst dabei allerdings Stimmen aus Osteuropa, Großbritannien und einigen kleineren EU-Ländern. Das verstärke "dann doch den Eindruck, dass der europäische Geist, der hier initiativ wird, ein alteuropäischer ist. Und erhöht die Erwartung, dass es, sportlich gesprochen, auch um Revanche geht: Rumsfelds Wort vom 'alten Europa' hat gesessen." Darüber hinaus sei die "balance of power" zwar "ein klassisches, ein ehrwürdiges Prinzip in einer Welt der Nationalstaaten. Eine Antwort auf die Krisen und Katastrophen in der globalen Welt aber ist sie nicht. Warten wir also auf das nächste Manifest." Im übrigen meldet die FR, dass Derrida wegen einer Erkrankung sämtliche Veranstaltungen im Rahmen der Gadamer-Professur 2003 absagen muss.

Harry Nutt nutzt für seine typologische Analyse des laufenden "gesellschaftlichen Relaunchs" - in dem sich wie gewöhnlich "Reformer" und "Beharrer" gegenüberstünden - überraschenderweise einmal die "Dörrpflaume" als Sinn- und Leitbild für die "Agenda 2010". "Die neu entdeckte Dörrpflaume erfreute sich alsbald steigenden Absatzes. Die Imagekorrektur wirkte Wunder.(...) Heute liegt die verschrumpelte Frucht wieder in trüber Flüssigkeit am Frühstückbuffet von Business-Hotels und wird bisweilen dem Müsli beigegeben. Weniger aus geschmacklichen Gründen, sondern weil man noch immer um die verdauungsfördernde Wirkung weiß. Dass es sie weiterhin gibt, ist dabei schon die gute Nachricht."

Martina Meister hegt Zweifel, ob die nun eingesetzte Enquete-Kommission des Bundes die Kulturnation wird retten können ("Leider haben die vier Themenbereiche, welche die Kommission bearbeiten soll, nichts augenscheinlich Revolutionäres, man könnte sogar sagen, sie haben etwas Anachronistisches an sich"). Michael Braun resümiert die 25. Solothurner Literaturtage. In der Kolumne Times mager erklärt Jürgen Roth, inwiefern die Beschäftigungsrituale eines Arbeitslosen durchaus etwas Mönchisches haben können. Und auf der Medienseite wird ein Arte-Themenabend über das Menschrecht Wasser beziehungsweise die zunehmende Privatisierung der Wasserwirtschaft empfohlen. Besprochen wird Joseph Brodskys neu herausgegebene "Erinnerungen an Petersburg" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 03.06.2003

Mit einem Interview stellt die taz den kurdischen Regisseur Bahman Ghobadi und dessen zweiten Film vor: "Marooned in Iraq - Songs of my Motherland" (mehr zur Person und zum Film). Im Gespräch erklärt Ghobadi: "Ich wollte nicht, dass meine Zuschauer noch mal so traurig aus dem Kino gehen wie nach 'Zeit der trunkenen Pferde'. Mir ging es in diesem Film darum, zu zeigen, dass es in Kurdistan auch andere Themen gibt. Es stimmt natürlich: Die Kurden haben unendlich viel Leid, Kriege und Schmerzen erlebt. Wenn wir trotzdem heute nicht nur als Verlierer dastehen, liegt es an zwei wirkungsvollen Waffen: unserem Humor und unserer Musik. Genau darum geht es in meinem Film: die Tragödie, die unseren spezifischen Humor hervorgebracht hat, und die Musik. Und das ständige Unterwegssein, das unsere ganze Kultur prägt."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels stellt angesichts der morgigen Verleihung des Evangelischen Buchpreises an Ralf Rothmann (mehr hier) die allgemeine Bedeutung und Reichweite von Literaturpreisen in Frage ("Ihre Bedeutung tendiert oft unter Null, ihre Aussagekraft über die Güte der jeweiligen Bücher und Preisträger nicht minder"), und Ira Mazzoni porträtiert den neuen Leiter am Münchner Haus der Kunst, Chris Dercon. Auf der Medienseite beschreibt Mareke Aden, wie sich die Medienkrise auf die Obdachloszeitungen auswirkt.

Ansonsten viele Buchbesprechungen. Rezensiert werden unter anderem Alice Sebolds Bestseller "In meinem Himmel", ein Roman von Richard Weihe über das Leben des Malers und Kalligrafen Bada Shanren im China des 17. Jahrhunderts, Roger M. Fiedlers Krimi "Pilzekrieg", Rich Cohens Debüt "Lake Shore Drive" und Peter Kurzecks Roman "Als Gast" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 03.06.2003

Otto Kallscheuer beschreibt den Tango der Sinnsucher beim Berliner Kirchentag und schlussfolgert: "... die wahre, auch die intergenerationelle Ökumene findet auf dem Markt der spirituellen Lebenshelfer und Sinnanbieter statt."

Weitere Artikel: Patricia Benecke stellt die "Regime Change"-Spielzeit am Londoner Globe Theatre vor. Fünf Stücke von Shakespeare - "Richard II.", "Richard III.", "Der Widerspenstigen Zähmung" - und Marlowe - "Eduard II." und "Dido, Königin von Karthago" - "untersuchen Machtwechsel auf politischer, zwischenmenschlicher und spiritueller Ebene", zitiert Benecke den Globe-Intendanten Mark Rylance. Klaus Bartels liefert eine kleine Geschichte des Worts "Epidemie". Abgedruckt ist ein kurzes Stück von Anton Tschechow, das demnächst in dem Erzählband "Sommerfrische. Erzählungen 1880-1887" (Artemis und Winkler) erscheinen wird: "Schererei".

Besprochen werden die Ausstellung des Gesamtwerkes von Laura Owens im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, Wagners "Tristan und Isolde" in der Oper Frankfurt, Massenets "Don Quichotte" im Zürcher Opernhaus und Bücher, darunter das neue Kursbuch über das Alter, Aris Fioretos' Roman "Die Wahrheit über Sascha Knisch" und Steffen Menschings Roman "Jacobs Leiter" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 03.06.2003

Jürgen Kaube fragt sich, was für ein Europa das eigentlich sein soll, das Jürgen Habermas am Samstag in dieser Zeitung beschwor: "Habermas bietet mehrere Quellen einer europäischen Mentalität an: das Vertrauen der Europäer in staatliche Einhegungen des Marktgeschehens, ihre relative Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt, ihr Bestehen auf weltanschaulicher, will sagen: religiöser Neutralität politischer Entscheidungen. Dass die Europäer gegenüber der Leistungsfähigkeit des Marktes skeptisch sind, gilt ausgerechnet für die EU-Kommission nicht. Dass sie sich gegenüber dem technischen Fortschritt in Skepsis üben, wird man für viele Franzosen, Belgier und Schweden wohl nicht sagen wollen. Die Säkularisierung ist in Polen, Irland und Spanien wohl kaum stärker fortgeschritten als in Kanada oder Australien. Meint Habermas also stets Deutschland, wenn er von Europa spricht?"

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier kommt in der Leitglosse vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse in Basel und Salzburg zur Erkenntnis: "Jeder Intendant scheitert. Manche scheitern schöner." Mark Siemons denkt über die Lage der SPD nach dem Parteitag zur "Agenda 2010" nach. Zhou Derong macht uns klar, dass China in den Auseinandersetzungen mit Tibet und seiner vom Dalai Lama geführten Regierung entschieden am längeren Hebel sitzt - und dass der Dalai Lama längst nicht mehr von Unabhängigkeit träumt. Timo John stellt das neue und "kühne" Stadthaus Scharnhauser Park in Ostfildern vor - entworfen wurde es von Jürgen Mayer Hermann. Oliver Jungen hat ein Bamberger Symposion über Elisabeth I. besucht. Michael Gassmann freut sich über Aufbruch in der Kopenhagener Opernszene.

Auf der letzten Seite schildert Heinrich Wefing plastisch den grauenhaften Turborock der Celine Dion, die gegen Millionen von Dollar dazu gezwungen wird, drei Jahre lang im Caesar's Palace in Las Vegas täglich 4.000 Fans ruhig zu stellen: "Die Show ist ähnlich dezent inszeniert wie eine Mai-Parade auf dem Roten Platz in Moskau." Wolfgang Sandner schreibt ein Profil über Keith Jarrett, der beide Polar Music Prizes erhielt - den für klassische und den für U-Musik. Und Jordan Mejias berichtet, dass die New Yorker Philharmoniker nicht nur wieder in die Carnegie Hall umziehen, sondern sogar mit ihr fusionieren wollen - so dass beide Organisationen von einem höheren Stiftungskapital profitieren können. Auf der Medienseite bespricht Michael Hanfeld Hans-Christoph Blumenbergs Dokudrama "Der Aufstand" um den 17. Juni, das heute im ZDF läuft. Und Reinhard Veser berichtet von der Unterdrückung der freien Presse in Weißrussland. In einer Meldung erfahren wir, dass bei der NZZ weiter gespart werden muss - weitere zwölf Redakteure sollen entlassen werden.

Besprochen werden die Ausstellung mit Zeichnungen Leonardo da Vincis im Pariser Louvre, die Stücke "Alice" von Roland Schimmelpfennig und "Plattform" von Michel Houellebecq in Hannover und Tschaikowskis "Pique Dame" in Hannover.