Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2003. In der FAZ schildert Hubertus Knabe die hässliche Rolle der Intellektuellen am 17. Juni 1953. Die NZZ resümiert kritische Reaktionen auf Jürgen Habermas' "Kerneuropa"-Initiative. In der FR vermisst der Politologe Wolfgang Merkel eine "genuin sozialdemokratische Philosophie der Gerechtigkeit". In der SZ bezweifelt Salomon Korn, dass es so etwas wie eine deutsch-jüdische Kultur jemals gegeben hat.

FAZ, 04.06.2003

Auf der Gegenwartsseite finden wir einen Text des Historikers Hubertus Knabe über den 17. Juni, in dem die damaligen DDR-Intellektuellen, unter ihnen Brecht, nicht besonders gut dastehen. Sie seien dem SED-Propagandamärchen über die "faschistischen Provokateure" aufgesessen. Brecht sprach im Neuen Deutschland Walter Ulbricht und seiner Regierung seine "Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" aus. Und Brecht, so Knabe "hatte seine Erklärung aus eigener Initiative bereits am Morgen des 17. Juni abgeschickt. Dem Verleger Peter Suhrkamp suchte er in einem Brief weiszumachen, dass schon in den frühen Morgenstunden jenes Tages 'kolonnenweise' deklassierte Jugendliche aus dem Westen eingeschleust worden seien... Dem Regisseur Erwin Leiser gegenüber behauptete Brecht, dass die SED am 17. Juni 'von faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen' worden wäre. Er versicherte: 'Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite.' Sein später berühmt gewordenes Gedicht 'Die Lösung', in dem er der Regierung vorschlug, sich ein neues Volk zu wählen, blieb hingegen unveröffentlicht." Knabe hat jüngst auch ein Buch über den 17. Juni vorgelegt, das in den Feuilletons noch nicht besprochen wurde.

Auf der Gegenwartsseite veröffentlicht auch die Historikerin Schanett Riller einen Artikel über die Rolle des Rias am 17. Juni.

Und hier die Tagesproduktion des Feuilletons:

Andreas Kilb zeigt sich tief enttäuscht über den Historienfilm "Hero" des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou: "Dass der einzelne sein Schicksal verändern kann, dass er der Geschichte nicht ausgeliefert ist, war das Credo der frühen Filme Zhangs. In 'Hero' nimmt er es zurück. Er übermalt es mit einer Schönheit, die nichts Menschliches mehr hat."

Weitere Artikel: Patrick Bahners wurde auf der Sitzung des Ordens pour le merite der Einheit von Kunst und Wissenschaft gewahr. Aufgenommen wurde auch der Bildhauer Richard Serra, und die FAZ publiziert die Laudatio des Kunsthistorikers Bernard Andreae aus diesem Anlass. Ilona Lehnart fragt sich in der Leitglosse, was die beschlossene Enquete-Kommission des Bundestags zur Kultur in Deutschland wohl vermögen wird. Andreas Rossmann freut sich über die Wiederentdeckung einer Fabrikhalle des Berliner Architekten Bruno Möhring (1863-1929) ("Fast hundert Jahre hat sie auf dem Gelände der Gasmotoren-Fabrik Deutz gestanden, ohne dass ihr Rang und ihre Autorschaft erkannt worden wären.")

Auf der letzten Seite stellt Paul Ingendaay die künstlerisch ungeheuer begabte Familie Marias aus Spanien vor - Javier Marias ist uns allen bekannt, aber da ist, neben all seinen in Spanien ebenfalls berühmten Brüdern, auch sein Vater, der in Spanien berühmte Philosoph Julian Marias - Ingendaay porträtiert ihn als Mann der Versöhnung und eine jener Figuren, ohne die die "Transicion" nicht möglich gewesen wäre. Felicitas von Lovenberg berichtet, dass die Engländerinnen nach wie vor an Mark Darcy, der Romanfigur aus Jane Austens "Stolz und Vorurteil" als idealem Männerbild festhalten. Und Hannes Hintermeier verabschiedet das eBook, das sich auf Teufel komm raus in Deutschland nicht durchsetzen wollte. Auf der Stilseite legt Marc Degens eine Erzählung über die Vorzüge des Billardsports vor. Auf der Medienseite porträtiert Michael Ludwig den Kabarettisten Steffen Möller, der in Polen ein Fernsehstar ist. Stefan Niggemeier freut sich, dass er nun auch Montags nicht mehr auf die Harald-Schmidt-Show verzichten muss. Heinrich Wefing berichtet über die Deregulierung des amerikanischen Medienmarkts, von der die großen Konglomerate profitieren werden. Kerstin Holm berichtet, dass der gloriose, allenthalben gefeierte Wladimir Putin einen weiteren unabhängigen Fernsehkanal abschaltet. (Leider fühlte sich keine deutsche Zeitung bemüßigt, Andre Glucksmanns Polemik aus Anlass der Petersburger Jubiläumsfeierlichkeiten aus Le Monde zu übernehmen.)

Besprochen werden Das Berliner Transit-Festival, Volker Ludwigs und Franziska Steiofs Kindertheaterstück "Baden gehen" im Berliner Grips Theater, die Medienkunsttage in Bad Ems, eine Dramatisierung der "Ilias" in Berlin, eine Ausstellung der Künstlerin Tacita Dean im Pariser Musee d'art moderne, eine Ausstellung über den "Winterkönig" im oberpfälzischen Amberg.

TAZ, 04.06.2003

Auf der Medienseite zieht WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn im Interview mit Steffen Grimberg eine gar nicht so negative Bilanz des eingebetteten Journalismus: "Wir haben die Inszenierung gesehen: Walter Rogers auf CNN und die Panzerarmeen in der Wüste: Das war das, wovon die US-Generäle geträumt hatten. Auf der anderen Seite haben wir so aber auch erfahren, wie US-Soldaten Kleinbusse mit Frauen und Kindern stürmen oder britische Einheiten eigene Leute unter Feuer nehmen. Ich weiß nicht, ob wir das ohne die Embeddeds erfahren hätten."

Auf der Tagesthemenseite erzählt Matthias Braun, dass der ehemalige Jenaer und heutige amerikanische Millionär Karl Heinz Johannsmeier der Stadt Jena ein Denkmal zum 17. Juni schenken will: "...da es schon eine Weile her ist, dass Karl Heinz für sein Geld hart arbeiten musste, hatte er die Muße, das Denkmal eigenhändig zu entwerfen. Der spendable Auswanderer ist beides in einem - Mäzen und Künstler. 'Ich nehme mir die Freiheit, vielleicht auch die Frechheit, etwas zu schaffen und es der Stadt zu überlassen', sagt er. Heinz gibt es nur im Doppelpack. Nicht alle macht das glücklich."

Im Feuilleton attestiert Christian Semler Marie-Louise von Plessens Projekt "Idee Europa - Entwürfe zum Ewigen Frieden" im Deutschen Historischen Museum, die jüngste Wendung des Zeitgeistes "ingeniös" vorweggenommen zu haben: "She knew, which way the wind would blow." Henrike Thomsen porträtiert die Bildhauerin Louise Bourgeois, der die Berliner Akademie der Künste eine Retrospektive widmet. Jay Rutledge stellt die russisch-afrokaribische Ska-Kapelle Markscheider Kunst vor. Tobias Rapp berichtet aus New York von der bunten Truppe "Countdown to Fairness", die sich gegen die drakonischen Drogengesetze der Stadt zusammengefunden hat. Und Katrin Bettina Müller bespricht Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Michel Houellebecqs "pornografischem" Roman "Plattform" in Hannover.

Schließlich Tom.

NZZ, 04.06.2003

In der NZZ widmet sich Joachim Güntner heute der Initiative europäischer und amerikanischer Intellektueller zum transatlantischen Streit. Verwundert zeigt sich Güntner vor allem über das durchweg kritische Echo in den deutschen Feuilletons auf Jürgen Habermas. Aber auch er hat Einwände: "Es ist nicht falsch, was Habermas aufzählt, und man kann ihm dankbar dafür sein, dass er die 'europäische Identität' nicht bloss als leere hochtrabende Formel postuliert, sondern inhaltlich zu bestimmen sucht. Wer würde bestreiten wollen, dass es so etwas wie 'europäisch sein' tatsächlich gibt, und sei die entsprechende Empfindung noch so vage? Und doch fällt einem zu jeder von Habermas als typisch europäisch verbuchten Eigenschaft eine Relativierung ein: sei es, dass nicht alle Europäer die jeweilige Mentalität teilen, sei es, dass man sie auch bei Amerikanern verbreitet findet."

Weitere Artikel: Immer noch fassungslos schildert die Archäologin Charlotte Trümpler den "erschütternden" Bericht Donny George Youkhannas, Generaldirektor für Wissenschaft und Forschung des Irakischen Antikendienstes, zu den Plünderungen im irakischen Nationalmuseum. Youkhanna forderte für die Zukunft eine internationale Zusammenarbeit bei der Restaurierung. "Hier wird sich zeigen", so Trümpler, "ob eine internationale Koordination möglich ist oder ob sich, wie zur Zeit des Imperialismus, die Länder um und mittels der Archäologie streiten werden." Sibylle Birre schreibt zum zehnten Geburtstag der Zeitschrift "Zwischen den Zeilen".

Besprochen werden die Otto Müller-Retrospektive in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, eine Aufnahme von Christoph Willibald Glucks "Alceste" und Bücher, darunter John Edwards Studie über "Die spanische Inquisition", ein Essayband von Imre Kertesz "Die exilierte Sprache. Essays und Reden" (mehr dazu: hier), Gustav Sobins Roman über Greta Garbo "Auf der Suche nach einem verlöschenden Stern" (mehr dazu: hier) und Gerhard Neumanns und Rainer Warnings Literaturethnographie "Transgressionen" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 04.06.2003

Andrea Nüsse berichtet auf der Medienseite von ersten Gehversuchen der irakischen Medien in der Freiheit. Radio Bagdad etwa sendet im Moment von einem Toilettenhaus, setzt aber auf Kontinuität: "'Wir waren immer Regierungsradio und sind es auch jetzt noch', erklärt Toningenieur Ghassan Adnan. Man habe unter dem König gearbeitet, unter Saddam Hussein, und jetzt eben unter der neuen Regierung. Und das seien jetzt die Amerikaner... Von der neuen Freiheit will man hier nicht viel wissen. 'Der Übergang war schmerzhaft, und daher wollen wir die Leute beruhigen, indem wir ihnen Kontinuität bieten', erklärt Adnan. Wie seit Menschengedenken sind täglich um 14.30 Uhr Lieder der ägyptischen Sängerin Um Kulthum zu hören. Die gleichen Sprecher wie vor dem Krieg lesen die Nachrichten vor. Allerdings handeln diese nicht mehr von den Heldentaten Saddam Husseins. Stattdessen verlesen die Sprecher Bekanntmachungen der ORHA."

Im Feuilleton macht sich der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel (mehr hierGedanken über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gerechtigkeit. Seine These: "Es gibt keine genuin sozialdemokratische Philosophie der Gerechtigkeit. Die Sozialdemokratie, die soziale Gerechtigkeit über ein Jahrhundert lang zur emphatisch beschworenen Demarkationslinie gegenüber der 'bürgerlichen' Konkurrenz machte und die noch jüngst mit dem Slogan 'Mehr soziale Gerechtigkeit' Wahlen gewinnen konnte, hat keine Gerechtigkeitstheorie von Rang hervor gebracht. Auch in den letzten drei Jahrzehnten dominierten liberale oder kommunitaristische Gerechtigkeitstheorien die internationale Diskussion."

Weitere Artikel: Günter Seufert berichtet aus der Türkei, wie Vertreter von Religion und Militär zur Feier der Eroberung Konstantinopels durch den osmanischen Sultan Mehmet II. zusammengefunden haben. In der Serie "Vor Ort" erzählt Petra Kohse, wie Berlin der Kulturbrauerei hilft. Silke Hohmann fragt sich in "Times mager", ob es Texas wirklich gibt.

Besprochen werden das Filmdebüt des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas "Japon", Harald Szeemanns Balkan-Schau "Blut und Honig" in der Sammlung Essl bei Wien, die Ausstellung "Die Teile und das Ganze" im Marbacher Literaturarchiv, die Ausstellung "Menschen - Zeiten - Räume, Archäologie in Deutschland" in Bonn (die für Ulrich Clewing beweist, dass in der heimischen Krume durchaus etwas steckt), sowie Ada Raevs umfassende Studie "Russische Künstlerinnen der Moderne" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.06.2003

In einem Essay bezweifelt Salomon Korn (mehr hier), dass es so etwas wie eine deutsch-jüdische Kultur jemals gegeben hat: "Nichtjüdischen Deutschen, die sich mit jüdischer Kultur in Deutschland beschäftigen, so mein Eindruck, schwebt immer noch das Ideal einer 'deutsch-jüdischen' Kultur im Sinne einer verklärten 'deutsch-jüdischen Symbiose' vor. Damit ist vermutlich der Wunsch verknüpft, verlorengegangene Anteile der eigenen Tradition im großen Topf einer revitalisierten 'deutsch-jüdischen' Kultur wiederzufinden. Doch gelten solche Wiederbelebungsversuche einem Phantom. Aus jüdischer Sicht bleibt die Geschichte der jüdischen Kultur in Deutschland, vor allem aber die der 'deutsch-jüdischen' Kultur eine des vergeblichen Aderlasses jüdischer Substanz und eine der dauerhaften Selbstentfremdung."
Der Text, den die SZ zum 60. Geburtstag des Autors druckt, ist die gekürzte Fassung seines Essays "Im Transitraum der Weltgeschichte", der im Herbst in einem Aufsatzband erscheinen wird ("Die fragile Grundlage", Philo).

Der Zürcher Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers (mehr hier) stellt der deutschen Bildungspolitik die Systemfrage, wobei er die Gesamtschule gar nicht für das entscheidende Kriterium hält: "Der zentrale Wandel nämlich ist der von der Unterrichtsschule zur Angebots- und Förderschule, die mehr bietet als nur Schulstunden. Unterricht wird bekanntlich auch dann abgehalten, wenn niemand etwas lernt. Der Ausfall von Unterricht ist ein Dauerthema im Beschwerdekatalog der Kunden der öffentlichen Bildung, während kaum je gefragt wird, was passiert, wenn der Unterricht stattfindet."

Weitere Artikel: Fritz Göttler erklärt den Matrix-Anhängern, wie man Kampfszenen wirklich choreografiert: so wie Zhang Yimou in seinem Action-Epos "Hero": "Hart, kantig wirkt der Film der Wachowski-Brüder gegenüber dem von Zhang Yimou, einem Wunder an Beweglichkeit, wo alles fließend ist und graziös. Wo die Kämpfer mit den Füßen den Erdboden liebkosen, von dem sie sich abstoßen, oder gleich auf Baumwipfel oder einen Bergsee ausweichen." Tim B. Müller weiß, was Woodrow Wilson die amerikanischen Neokonservativen über den demokratischen Imperialismus lehren könnte. Christopher Schmidt sinniert aus aktuellen Anlässen über die demokratiefördernde Wirkung der Lüge. "bgr" meldet nicht gerade betrübt, dass der Verkauf von eBook-Lesegeräten eingestellt wird.

Besprochen werden eine "prächtige" Ausstellung zum Werk des Architekten Gottfried Semper im Münchner Architekturmuseum, Stephan Kimmigs Inszenierung "Das Fest" nach Thomas Vinterberg am Hamburger Thalia Theater, ein Bartok-Konzert mit Zubin Mehta und der großartigen Midori in München sowie Peter Handkes Übertragung von Sophokles' "Ödipus in Kolonos", die Andreas Dorschel als bahnbrechend gegen all ihre bisherigen Kritiker verteidigt.

Und neue CDs, darunter Beethovens Violinkonzert mit Viktoria Mullova und John Eliot Gardiner, das "großartig versonnene, versponnene Hotelleben-Stimmungsbilderbuch "Sils Maria Hotel Waldhaus", Beethoven-Sonaten mit Maurizio Pollini und zwei Operetten von Johann Strauß, allerdings auf DVD.