Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2003. In der SZ fragt Peter Esterhazy: Wie groß ist der europäische Zwerg? In der taz fragt sich Schlagzeuger Lars Ulrich, warum Metallica-Songs als Foltermittel eingesetzt werden (wo es doch grausame deutsche Bands wie Kreator gibt). In der NZZ klagt die Zürcher Archäologin Cornelia Isler-Kerenyi über deutsche Hobbyarchäologen. In der FR wettert Elmar Altvater gegen das internationale Kapital.

SZ, 11.06.2003

"Wie groß ist der europäische Zwerg?", fragt Peter Esterhazy (mehr hier) in einer Antwort auf Jürgen Habermas, der bekanntlich die mitteleuropäischen Störungsfriede heraushalten und zunächst nur mit Kerneuropa weitermachen will (mehr hier). Abgesehen davon, dass dieses "zunächst" "von den Lippen Katharina der Großen stammen könnte", stört sich Esterhazy an Habermas' europäischer Identitätsmeierei. "Zwischen Kiel und Hamburg liegt eine größere Entfernung als zwischen Boston und San Francisco. Und dann habe ich von Hodmezövasarhely noch gar nicht gesprochen. Womöglich wurde Europa bislang durch die Diktaturen auch geistig zusammengehalten. Durch den Widerstand gegen die Diktaturen. Aber was ist nun nach 1989? Wo befinden sich die Werkstätten für ein organisches Denken, von denen ein Europa-Bild ausgehen könnte? Solche Werkstätten gibt es nicht. Ohnehin fürchten wir uns - zurecht - vor Visionen. Wäre ich apokalyptischer veranlagt, würde ich Europa und den europäischen Geist als einen Toten beschreiben, und dann wäre das, was wir als Kultur empfinden, das Weiterwachsen der Fingernägel. Doch ziehe ich dieses Bild, erschrocken, gleich wieder zurück."

Fritz Göttler ist hingerissen von Jim Carreys Film "Bruce Almighty" und weiß jetzt auch ein wenig mehr, wie Gott aussieht: "Wenn man Morgan Freeman gesehen hat als Gott, halb antiker Olympier, halb Südstaaten-Gentleman, in strahlend weißem Anzug und mit einem immer freundlichen, dabei nie ganz unboshaften Lächeln, möchte man die ganze ehrwürdig-europäische Ikonographie vergessen. Dies ist ein praktischer Gott - einer, der den Laden am Laufen hält. Mehr Hausmeister als Zauberer." Tobias Kniebe und Fritz Göttler habe dazu eine kleine Liste von "göttlichen" Auftritten in Hollywoods Filmgeschichte erstellt.

Weitere Artikel: Alex Rühle berichtet, wie Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy mit seinem neuen Einwanderungsgesetz wieder einmal die gesamte Linke gegen sich aufbringt. Dem scheint das nichts auszumachen, wie Rühle bemerkt: "Während Gerhard Schröders Minister allesamt dermaßen schlaff in den Seilen hängen, dass sie mittlerweile eher ein Fall für Amnesty International als für die harte politische Auseinandersetzung zu sein scheinen, sonnt sich Sarkozy im Hass seiner Gegner." Andrian Kreye weiß, dass in New York bei Alarmstufe Orange schon mal ein afrikanischer Künstler sein Leben lassen muss. Helmut Mauro berichtet vom Leipziger Bachfest. Gerwin Zohlen gratuliert dem Architekten Josef Paul Kleihues zum siebzigsten Geburtstag. Ebenfalls zum Siebzigsten schickt Ulrich Raulff Glückwünsche an Harald Szeemann, dessen Ausstellung zur Kunst des Balkans, "Blut & Honig" in der Sammlung Essl, von Sabine Vogel besprochen wird. "dip" bringt uns auf den neuesten Stand im Streit um den geplanten Kölner Museumskomplex.

Auf der Medienseite stellt Stefan Winterbauer einen PR-Berater vor, der für seine Kunden den Info-Krieg auf dem Schlachtfeld der Medien führt.

Besprochen werden Michael Hofmanns Film "Sophiiiie!" mit einer ebenso "umwerfenden" wie "enervierenden" Katharina Schüttler, das neue "erwartungsgemäß enttäuschende" Album von Radiohead, ein Konzert von Benjamin Biolay im Pariser "La Cigale" und Bücher, darunter Bernard-Henry Levys Spurensuche nach den Mördern des Journalisten Daniel Pearl "Qui a tue Daniel Pearl?", Koen Brams' Enzyklopädie fiktiver Maler, Friedrich Wilhelm Grafs Nachruf-Sammlung zu Ernst Troeltsch und Sarah Kirchs poetisches Tagebuch "Tatarenhochzeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.06.2003

Gute Chancen für Künstler macht Guillaume Paoli in der Serie "Zukunft der Arbeit" aus, was er mit Armin Chodzinski (mehr hier) beweist, der als studierter Künstler in die Wirtschaft und flugs in die "Geschäftsleitung eines großen Handelskonzerns" katapultiert wurde. Dessen Fazit: In der Zukunft wird es Arbeit nur noch für Künstler geben, denn für die ist "no money" bereits einfaches Programm. "Die kategorischen Imperative der neoliberalen Wirtschaft seien eben idealtypische Merkmale des Künstlers: Kreativität, Kommunikation, soziale Kompetenz, Projektplanung und -vermittlung und vor allem die grenzenlose Bereitschaft, sich selbst auszubeuten. Ökonomisierung hieße zugleich Kulturalisierung, und dies sei ein 'Horrorszenario', denn: 'Diese Kategorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie eben gerade nicht solidarisch funktionieren.'"

Auf einer vorderen Seite unterhalten sich Arno Frank und Thomas Winkler mit dem Drummer von Metallica, Lars Ulrich, über das neue Album "St. Anger", sowie über "den Zorn, das Alter und die Verwendung von Metallica-Songs als Foltermittel" für irakische Gefangene. "Also wirklich: 'Enter Sandman' ist ein verdammter Popsong, ein eher aufbauendes Lied. Da gäbe es doch ganz andere Möglichkeiten für die Army: Wie wäre es mit diesen norwegischen Death-Metal-Bands oder einer dieser altmodisch durchgeknallten deutschen Extrem-Bands wie Kreator? Metallica da zu verwenden ist doch eher ein Witz."

Weiteres: In der Serie "Teddy, der Inkommensurable" erklärt Christiane Tewinkel, was Adorno von all den Musikpädagoginnen gehalten hätte, die so für ihn schwärmen. Benno Schirrmeister folgt den Spuren des Expressionisten Fritz Stuckenberg, dessen "Qualheimat" Delmenhorst viel dazu beigetragen haben dürfte, seinen Namen aus der Kunstgeschichte zu radieren, ihm aber jetzt in der Städtischen Galerie eine Ausstellung widmet. Besprochen wird Fausto Paravidinos Stück "Genua 01" in der Schaubühne.

Und schließlich Tom.

NZZ, 11.06.2003

In der NZZ erklärt die Zürcher Archäologin Cornelia Isler-Kerenyi, dass die Plünderung des irakischen Nationalmuseums nichts besonderes war, sondern der Öffentlichkeit nur vor Augen geführt hat, "was weniger spektakulär Tag für Tag bzw. Nacht für Nacht in weiten Teilen der Welt abläuft: die schleichende systematische Ausplünderung der Vergangenheit." Bei einer Tagung über illegale Archäologie im Mai im Berliner Antikenmuseum hatte Isler-Kerenyi mehr darüber erfahren: "In Deutschland etwa fügt zurzeit vor allem der hobbymäßige Gebrauch von Metalldetektoren der bisher vom Boden geschützten historischen Erinnerung nicht wieder gut zu machende Schäden bei: Ganze antike Münzhorte werden aufgestöbert und anschließend ungestraft via Internet vertrieben. In der Türkei ist mit wachsendem Wohlstand eine Inlandnachfrage nach Antiken entstanden, deren Folgen nicht weniger verheerend sind. Dasselbe gilt für die westlicheren Regionen der ehemaligen Sowjetunion ..." Abhilfe könnte zum Beispiel ein Antikenpass schaffen, ohne den auf dem legalen Markt nichts mehr verkauft werden darf.

Erika von Wietersheim beschreibt hingerissen die "erste afrikanische Oper in der Sprache der Zulu auf die Bühne. Mit 'Princess Magogo' befreit sich Südafrika aus der Zwangsjacke eines Kulturverständnisses, das seit dem Ende der Apartheid die kompromisslose Afrikanisierung aller europäischen Kunstformen forderte. Das Neben- und Miteinander von Elementen der klassischen Oper und afrikanischen Chören und Tanzeinlagen, von rhythmischer Trommelmusik und getragenen Orchestersätzen zelebriert selbstbewusst und souverän den europäischen Einfluss auf die Kultur Südafrikas."

Weitere Artikel: Zum siebzigsten Geburtstag des "Künstlerkurators" schreibt Roman Kurzmeyer eine Hommage auf Harald Szeemann . Eine Agenturmeldung gibt bekannt, dass Christoph Schlingensief bei den kommenden Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen den "Parsifal" inszenieren wird. Besprochen werden das Ittinger Pfingstkonzerten 2003, die CD "The Heart's Ear" von Liza Lim, die CD "Don Quixote" von Wilhelm Kienzl, klassische Filmmusiken, die auf dem Label Marco Polo wiederentdeckt werden können, und Bücher, darunter Manfred Ostens Versepos "Alles veloziferisch" (mehr: hier), Ronald Symes Klassiker "Die römische Revolution" (mehr: hier), Ludwig Fels' Roman "Krums Versuchung" (mehr: hier) und die Hitler-Biografie von Ralf Georg Reuth (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 11.06.2003

Das FR-Feuilleton zeigt sich heute etwas wehmütig. Marcia Pally beklagt in ihrem Flatiron Letter etwa, dass die CIA auch nicht mehr ist, was sie einmal war. Sie überrascht nämlich "weniger das Fehlen von WMDs in Irak als das offensichtliche Versagen der USA, dort welche zu verstecken. Was ist schon eine Supermacht, die nicht einmal Beweise fälschen kann? Das können sogar die Anfänger in meinem Polizeirevier um die Ecke."

Weiteres: Daniel Kothenschulte bedauert anlässlich der Laurie Anderson-Schau im Düsseldorfer Kunstpalast "The Record of the Time", dass sich die achtziger Jahre in ihrem weiteren Verlauf nicht so recht "an die Blaupausen ihrer Erfinderin" gehalten haben. Politökonom Elmar Altvater wettert gegen das internationalen Kapital, dem es mittlerweile "als ausgemachte Dummheit" gilt, "sich an den Kosten des Gemeinwesens zu beteiligen". In der Kolumne Times mager bewundert Jürgen Roth die Frankfurter Gewitter "mit der ganzen Kraft" seines "menschlichen Herzens".

Auf der Medienseite beschreibt Antje Kraschinski, wie die Irak-Berichterstatter ihre Erfahrungen verarbeiten. Aus den Aufzeichnungen des ARD-Reporters Stephan Kloss etwa zitiert sie: "Es ist so laut, so unglaublich laut. Da wird jedem klar: Es ist richtig Krieg, es ist kein Computerspiel mehr. Es ist tragisch, mit Verletzten und Toten. Einfach unfassbar."

Besprochen werden die Ausstellung zu Felix Valloton in der Städtischen Galerie von Bietigheim-Bissingen, die Aufführungen von Rossinis "Semiramide" in Berlin und Strawinskys "The Rake's Progress" in Dresden, Burkhard Kosminskis Inszenierung von Tschechows "Platonow" in Düssseldorf, Fausto Paravadinos Dokumentartheater "Genua 01" an der Berliner Schaubühne und Nicola Barkers "ungeheuer nassforscher" Roman "Nadeln im Ohr" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 11.06.2003

In einem etwas vertrackt argumentierenden Artikel stellt Mark Siemons fest, dass das Neue in der Berliner Kultur nicht mal mehr aus den allgegenwärtigen Ruinen kommt, die bislang die Staffage für ihre Manifestationen bot. Zumindest die Ursachen sind einfach: "Selbst das kulturelle System, das seine Energien zum Teil aus einem anti-ökonomischen Impuls bezieht, ahnt, dass ihm die Luft zum Atmen ausgehen könnte, wenn die reale, außer-kulturelle Geschichte weniger wird (ganz zu schweigen davon, dass die ökonomische Basis des Systems selbst vielleicht wegbricht)."

Der Rechtsprofessor Gerd Roellecke weigert sich, Deutschland durch eine Reform an den föderalistischen Institutionen handlungsfähiger zu machen, denn "wer den Einfluss der Länder auf Bundesebene zurückdrängen will, um der Bundespolitik 'Hindernisse' aus dem Weg zu räumen, verkürzt .. Demokratie. Er könnte genauso gut Wahlen überhaupt als 'Hindernisse' der Politik betrachten." Demokratisch geht der Bund zugrunde!

Weitere Artikel: Das israelische Autor Amos Oz ruft dazu auf, die neue Friedensinitiative mit Vorsicht zu betrachten: "Bevor wir uns mit dem neuen 'Fahrplan von Aqaba' auf die Reise machen, sollten wir innehalten und die Enttäuschungen von Oslo studieren." Jürgen Kaube findet das gestern von Navid Kermani und Wolf Lepenies in der SZ vorgebrachte Projekt einer "Akademie islamischer und jüdischer Kulturen" in der Sache richtig, aber im Ton etwas dröhnend dargeboten. Thomas Wagner gratuliert dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann zum Siebzigsten. Gemeldet wird, dass Bundespräsident Johannes Rau am 22. Juni in der israelischen Hafenstadt Ashdod das weltweit erste Museum für verfolgte Kunst und Künstler eröffnen wird. Georg Imdahl stellt Pläne und Ausstellungen im Kölner Kunstverein und im Museum Ludwig vor. Irene Bazinger ist für die "Zonenrand-Ermutigung" bis nach Cottbus gereist - das Festival befasst sich, der traurigen Lage der Gegend gemäß, diesmal mit dem Thema "Utopien". Erna Lackner hat einem Wiener Symposion über Canetti und Broch gelauscht. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Josef Paul Kleihues zum Siebzigsten.

Die Letzte Seite bringt eine Reportage von Andreas Kilb über die Grabungsarbeiten am Magdeburger Dom, die alle Hypothesen über die ottonische Kaiserpfalz ebendort über den Haufen warfen. Dieter Bartetzko berichtet über eine Aktion einer ungarischen Künstlergruppe, welche die Büste der Nofretete einer kopflosen nackten Statue aufsetzte und damit Empörung in Ägypten auslöste. Und Christoph Albrecht weiß von Kritik am Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum, das mit einer Napoleon-Ausstellung weniger Zuschauer anzog als erwartet und darum Defizit machte. Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg, dass die Pariser Gratiszeitungen rote Zahlen schreiben (was sie also mit den deutschen Kaufzeitungen gemeinsam haben). Matthias Rüb berichtet über die neue Meinungsfreiheit im Irak, die sich vornehmlich in Brandbriefen gegen Bush artikuliert. Und Heike Hupertz stellt einen "Plan B" des Investors Haim Saban vor - da er bei der Kirchgruppe gescheitert ist, betreibt er nun den Kauf des britischen Privatsenders ITV.

Besprochen werden Michael Hofmanns Film "Sophiiiie!" und die wie gerufen kommende, aber von langer Hand vorbereitete Ausstellung "Art of the First Cities" über die Kunst Mesopotamiens im Metropolitan Museum von New York.