Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2003. In der SZ verteidigt Dan Diner den ortlosen Hegemon USA. Die taz fragt nach der Bedeutung von Kokain in der Medienlandschaft. In der NZZ fragt Thomas Macho, ob es überhaupt nationale Literaturen gibt. In der FAZ erklärt Dieter Grimm, warum er keine Verfassung für Europa will. 

SZ, 16.06.2003

Dan Diner (Bücher) erklärt die USA zum geborenen Verteidiger von Werten. Europa findet er dagegen hoffnungslos veraltet. "Die global ausgreifenden Reaktionen der Vereinigten Staaten auf die Ereignisse des 11.September offenbarten die unzeitgemäßen Züge eines immer noch von Vorstellungen alteuropäischer Territorialität geprägten Völkerrechts. Um der Gewalt eines transterritorialen Terrorismus Einhalt zu gebieten - sprich: um vor allem Amerika sicher zu machen -, wurde die im amerikanischen Außenverhalten angelegte Doppeldeutigkeit von Isolationismus und Interventionismus aufgehoben. Amerika tritt auf als das, was es immer schon gewesen war: als ortloser Hegemon der Weltgesellschaft."

Peter Geimer hat sich angehört, was der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman (mehr hier) im Rahmen seiner Vorlesung an der FU Berlin über vier von Häftlingen herausgeschmuggelte Fotografien des KZs in Birkenau zu sagen hat: "Diese Fotografien, so heißt es im Verlauf der Vorlesung immer wieder, sind 'Fetzen' - wenig im Vergleich zu dem, was man über Auschwitz weiß. Aber unabhängig davon, ob sie eine 'Wahrheit' des Lagers abzubilden vermögen, geht es Didi-Huberman vor allem darum, sie als einzigartige 'Bild-Akte' zu verstehen: als den Versuch, unter äußerster Gefahr ein Signal nach außen zu richten."

Oliver Fuchs fragt sich, warum Eminem seine Deutschland-Tournee unbedingt in Essen eröffnet musste und staunt, wie viele Eminems es eigentlich gibt. "In Eminems Kopf wohnen, auf der selben Etage wie der Provokateur, ein Charmeur und ein exzellenter Gastgeber. Die Gäste werden herzlich begrüßt, bekommen viel Raum und fühlen sich in der 'Eminem- Show' wie zu Hause. Es ist fast wie früher im Fernsehen, bei Shows wie Rene Kollos 'Ich lade gern mir Gäste ein'."

Weitere Artikel: Willi Winkler würdigt Henry Ford, der vor 100 Jahren den neuen Menschen erfand und das erste Massenauto in Serie produzierte. "pst" hält die eben erfolgte Umbenennung der teuflischen US-Bundesstraße 666 für einen Fehler. Arnd Wesemann findet, dass auf dem Dokumentar-Theater-Festival In Transit in Berlin gute Fragen gestellt wurden. Andreas Bernard grübelt lokalpatriotisch, welche Veränderungen sich für "Deutschlands bekannteste Bar", das Schumann's, mit dem Umzug an den Hofgarten ergeben werden. Denn: "Gibt es ein anderes Lokal, das von einem vergleichbar dichten Netz aus Codes durchzogen wäre?" Marco Finetti empfiehlt die neue Ausgabe der hochschulpolitischen Zeitschrift Forschung und Lehre. Darin sprechen Durs Grünbein und Wolfgang Frühwald in spannender Manier über die Gentechnik und ihre Folgen. In Berlin durfte "jby" der gelungenen szenischen Lesung von Heyms "Fünf Tage im Juni" beiwohnen.

Auf der Medienseite stellt Christiane Kögel den Schweizer Charmeur, Störenfried und großen Journalisten Niklaus Meienberg vor, der über seinen zeitweiligen Arbeitgeber, den Stern spottete, er sei organisiert wie eine Kaserne. Hans-Jürgen Jakobs, Christian Keil und Klaus Ott bringen uns im Geschacher um die Fernsehrechte der Fußball-Bundesliga auf den neuesten Stand.

Die Literaturseite ist heute allein Neuerscheinungen zum 17. Juni 1953 gewidmet. Mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.

Besprochen werden zwei Aufführungen in Bochum, "Glaube Liebe Hoffnung" von Horvath und "Der Hausmeister" von Pinter, die Schau "Territorien" (Kunst-Werke, Berlin) über die Siedlung als Mittel der Kriegsführung, Maria Ripolls cineastische Neuauflage der Kochkomödie "Eat Drink Man Woman", und Bücher, darunter die Hörbuchversion von Moritz Rinkes "Der Blauwal im Kirschgarten", Walle Sayers meisterhafte Miniaturen "Von der Beschaffenheit des Staunens" sowie Wolfgang Schwentkers Geschichte der Samurai (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 16.06.2003

Manchmal sind Klassiker die besten Gegenwartsstücke, jubelt Stefan Keim nach dem Genuß von Ödon von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" in Bochum. Karin Henkel hat den "kleinen Totentanz" dort klug und prägnant inszeniert. "Fahndungsfotos kleben auf der linken Wand, das Publikum schaut frontal in einen Schilderwald. Es regnet oft, der Boden ist nass, steife Tauben fallen herab, die ein sentimentaler Präparator mit Brotkrumen bewirft, als ob er so eine Illusion des Lebendigen festhalten könnte. Ein Baron mit Trauerflor erbricht sich, Gedärme in Plastiktüten werden katalogisiert. Dirk Thieles Bühne ist ein Totenreich, das von einer undurchschaubaren, völlig absurd agierenden Verwaltung beherrscht wird. Horvath rückt in die Nähe seines Zeitgenossen Franz Kafka. Schlagerschnulzen, ein cooler Bolero und Easy-Listening-Musik sind eine allgegenwärtige Klangsoße, mildes Opium fürs Ohr, vom auf einer Empore stehenden DJ Mart Barczewski live eingespielt. Kleine Träume unterdrücken die große Sehnsucht."

Weiteres: Oliver Herwig widmet sich im Rahmen der Reihe über die Krise der Kommunen heute dem verschuldeten München und seiner kulturellen Einsparpolitik. Der Unmut über die "ungeheuerliche Verhinderungspolitik" von Lydia Hartl wächst. Silke Hohmann erzählt in Times mager die Geschichte des venezuelanischen Künstlers Pedro Morales, der zwar im Katalog der Biennale steht, aber nicht mehr auf das Gelände darf. "sho" informiert, dass der Goldene Löwe für den besten Pavillon an Luxemburg geht. Eine kurze Meldung besagt, dass der Eichborn-Verlag Personal abbauen muss.

Martin Hecht trauert auf der Medienseite den Zeiten nach, als die Politiksendungen noch Biss und die Staatslenker noch Angst vor Institutionen wie Monitor oder Panorama hatten.

Eine Besprechung widmet sich der mitunter bezaubernden Frankfurter Inszenierung der Haydn-Oper "L'Isola disabitata".

TAZ, 16.06.2003

Harald Fricke schlendert über die Biennale, entdeckt die Identität als diesjährigen Schlüsselbegriff und verrät uns sein Lieblingsbild. "Rikrit Tiravanija aus Thailand hat es gemalt, eine matschige schwarze Fläche, schuhkartondeckelgroß, darauf in weißen Buchstaben die Worte 'less oil, more courage'. Der Satz hat den Witz auf seiner Seite, ob als Kommentar auf den Irakkrieg oder als ironische Volte angesichts der Rückkehr zur Malerei. Er ist politisch, sogar mit Stil."

Weitere Artikel: Oliver Ilan Schulz berichtet vom zehnten Sonar-Festival in Barcelona, der wichtigsten Veranstaltung für die europäische elektronische Musik. Isolde Charim bricht eine Lanze für den Europa-Aufruf von Habermas und Derrida und verteidigt ihn gegen seine Kritiker. Denn: "Der Text ist ein Ereignis." Christiane Zschirnt gratuliert der Germanistik in Heidelberg dazu, ihre Poetikdozentur in diesem Jahr der Popliteratur zu widmen. Robert Misik informiert uns über die Bemühungen der Tochter von Leo Strauss (mehr hier), ihren Vater nicht als Urvater der Bush-Regierung wirken zu lassen. (Mehr zur Debatte bei Arts and Letters Daily)

Auf der Medienseite würdigt Henning Kober Face, das britische Trendmagazin, das respektable 23 Jahre alt wird und sich selbst feiert. "Is it fab, is it in Face." Michael Streck schreibt auf der Tagesthemenseite über die Klage zweier weißer Schüler in Amerika gegen die Universität von Minnesota und ihre Minderheitenförderung (Hintergrund affirmative action). Und Adam Lux fragt nach der Bedeutung von Kokain in der Medienbranche.

Schließlich Tom.

NZZ, 16.06.2003

Der Berliner Kulturgeschichtswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Macho denkt darüber nach, ob es überhaupt eine nationale Literatur gibt: "Nationen sind Trugbilder des Raums. Fast jede nationale Propaganda hat einen homogenen Raum postuliert, erträumt, bezeichnet oder beansprucht, der nicht nur mit Sprache, Kultur oder Verwandtschaft begründet wurde, sondern auch als Symbol für den spezifischen Charakter der jeweiligen Nation erscheinen sollte." Nationalliteraturen würden die Imaginationen von Staaten festschreiben, ihre Motive und Stoffe hingegen seien beschränkt und beliebig austauschbar. "Was uns als einzigartig definiert (etwa in phantasmatischer Zugehörigkeit zu einer Nation), ist nichts anderes als der Stoff, aus dem auch alle anderen Einzigartigkeiten gebildet werden."

Der irakische Dichter Ali al-Shalah beklagt noch einmal die Brandschatzung der Nationalbibliothek von Baghdad, erinnert jedoch daran, dass sie bereits - nach der ersten Plünderung durch die Mongolen - erheblich unter dem Wüten der Zensoren zu leiden gehabt hat: "Die Mehrzahl und die wichtigsten Texte und Manuskripte wurden bei der Geheimpolizei verbrannt. Dieses Feuer hat sehr schnell auf die Nationalbibliothek übergegriffen, da Saddam in den achtziger Jahren während des Krieges zwischen dem Irak und Iran entschied, sämtliche schiitischen Bücher, die Werke über die iranische Kultur und Geschichte sowie die Texte persischer Wissenschafter aus allen irakischen Bibliotheken und Universitäten zu entfernen. Viele Professoren, Professorinnen und Studierende weinten, als sie damals die geplünderten Regale vorfanden. Dies war der zweite Brand in der Geschichte der Nationalbibliothek.

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tode des Philosophen Bernard Williams. Besprochen werden das Konzert des Pianisten Lang Lang in der Tonhalle Zürich, eine Ausstellung mit Werken von Jean Fouquet in der Pariser Alte Bibliotheque Nationale, das Festival Sonar (mehr hier), der Auftakt der 16. Berner Tanztage und der Auftritt des Zürcher Kammerorchesters in der Tonhalle.



FAZ, 16.06.2003

Dieter Grimm, ehemaliger Verfassungsrichter und heute Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs wendet sich gegen eine europäische Verfassung und gegen einen europäischen Staat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten: "Mit dem europäischen Staat setzte man .. auf ein Modell der Vergangenheit. Dagegen kann man von der Europäischen Union mit gutem Grund behaupten, dass sie die bedeutendste politische Innovation des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Sie löst die Nationalstaaten mit ihren anderweitig nicht ersetzbaren Legitimations- und Solidaritätsressourcen nicht auf, sondern nutzt sie, um für diejenigen Probleme Lösungen zu bieten, die heute die nationalen Kräfte überfordern. Es ist gerade dieses präzedenzlose Gebilde, das Modellcharakter für andere Teile der Welt gewinnen kann und schon zu gewinnen beginnt."

Weitere Artikel: Walter Haubrich berichtet, dass Fidel Castro das spanische Kulturinstitut in Havanna schließt - er ertrug es nicht, dass man dort spanische Zeitungen lesen durfte. Lorenz Jäger macht uns darauf aufmerksam, dass demnächst bei Insel eine Stefan-George-Ausgabe erscheint, was nicht ohne Pikanterie ist, weil sich George einst mit dem Haus zerstritt. Aber nun ist er 70 Jahre tot, und jeder darf ihn herausbringen. Gina Thomas schreibt zum Tod des Philosophen Bernard Williams. Timo John freut sich, dass Bürgergeist für die längst fällige Renovierung des Mannheimer Schlosses sorgte.

Auf der letzten Seite begleiten wir Paul Ingendaay auf einem sehr instruktiven Gang über die Madrider Buchmesse - es gibt eine Flut von Neuerscheinungen über die Franco-Zeit, "als sei das Schweigeabkommen, das seit Francos Tod und dem Übergang zur Demokratie galt, aufgehoben". Christian Schwägerl porträtiert William Novelli, der mit seiner Organisiation American Association of of Retired Persons eine sehr effiziente Lobbyarbeit für die Alten in den USA leistet. Und Jürg Altwegg erinnert an einen Brand vor einem Jahr in Paris, bei dem die Gesamtproduktion der Edition des Belles Lettres und vieler kleinerer Verlage vernichtet wurde - vieles davon konnte durch Spenden neu gedruckt werden. Auf der Medienseite konstatiert Michael Hanfeld, dass nach Ausbleiben eines Großinvestors Kirch-Media nun liquidiert wird - mit Hunderten von Entlassungen und einem Ausverkauf der Filmrechtebibliothek. Regina Mönch empfiehlt den Film "Helden Ohne Ruhm" über den 17. Juni, der heute bei Arte und morgen im Ersten läuft.

Besprochen werden Harold Pinters "Hausmeister" in Wilfried Minks' Inszenierung in Bochum, Tanzstücke von Martin Schläpfer in Mainz, der Film "Dark Blue", das "Klavier Festival Ruhr", ein Auftritt des Rappers Eminem in Essen und Stücke von Kleist und Moliere bei den Hersfelder Festspielen.