20.06.2003. Nach dem Eintritt osteuropäischer Länder in die EU prophezeit Andrzej Stasiuk in der SZ eine fröhliche Balkanisierung Westeuropas. In der taz erzählt der US-Hardliner Richard Perle, was die USA als nächstes vorhaben: "Regime change" im Iran. In der FAZ erfahren wir, wie Friedenswahrung im UNO-Auftrag funktioniert.
SZ, 20.06.2003
Der Schriftsteller
Andrzej Stasiuk (mehr
hier)
warnt uns, dass die
Osteuropäer mit dem Einzug in die EU wohl kaum "ihre Gewohnheiten und Unarten, ihre heftigen Bedürfnisse, ihre Hirngespinste und Traumata, ihr spezifisches Temperament aufgeben, kurzum, dass sie zugunsten von
irgendwelchen liberalen, demokratischen europäischen Universalien auf ihre individuellen Züge verzichten" werden. Statt dessen, so Stasiuk, werden Zigeuner "mit ihren Wagen ankommen und mitten auf den
Champs-Elysees ihr Lager aufschlagen,
bulgarische Bären werden auf dem Berliner
Kudamm ihre Kunststücke vorführen,
halbwilde Ukrainer gründen in der Poebene, vor den Toren Mailands, ihre misogynen Kosakeneinheiten,
besoffene und in Gebete versunkene Polen verwüsten die Weinberge an Rhein und Mosel und pflanzen dort Sträucher an, die mit reinem Spiritus gefüllte Früchte tragen." (Steht wirklich schon fest, dass Polen in die EU kommt? Kann man das noch verhindern?)
Alex Rühle
erinnert daran, dass es nicht nur im
Kongo (im angeblichen "Herz der Finsternis, Leopolds Schlachthaus, the horror, the horror")
Kindersoldaten gibt: "300.000 Kindersoldaten soll es weltweit geben, Tendenz steigend. Allein in Birma soll ein Viertel der 350.000 Mann starken Regierungstruppen unter 18 Jahre alt sein. Es gibt die
'Kleinen Bienen' in Kolumbien und die
'Babybrigaden' auf Sri Lanka, Charles Taylors gefürchtete
'small boys' in Liberia, Kinder kämpfen in Kambodscha, Indonesien, Papua-Neuguinea, den Philipinnen, Tschetschenien und in weiteren 60 Ländern."
Weitere Artikel: Katajun Amirpur
erklärt, warum sie bei ihren Reisen in den Iran das
Kopftuch lieber noch ein bisschen länger trägt, als in ein Land zu kommen, das mit
Unterstützung der USA demokratisiert wurde. Stefan Koldehoff
berichtet, dass dem
Direktor des Irak-Museums jetzt vorgeworfen wird, bis zuletzt Saddams Kampf geführt zu haben.
Jörg Heiser hat auf der
Art Basel einen tiefen Blick in die Eingeweide der
Kunstwelt geworfen. Von Fritz Göttler
erfahren wir, dass die Früchte des legendären
Münchner A-Kurs reif für das Filmmuseum geworden sind. Heiko Krebs
berichtet, dass die berühmte
Lidicer Kunstsammlung nach 36-jährigem Gezerre endlich in Lidice zu sehen ist. Thomas Thieiringer hat auf dem "Neue Akzente"-Festival in Augsburg einige neue Theatertalente
entdeckt. Franziska Augstein
gratuliert dem Kulturhistoriker
Peter Gay (mehr
hier) zum Achtzigsten. Peter Hacker
schreibt zum Tod des "logischen Analytikers" und "pessimistischen Humanisten"
Georg Henrik von Wright. Ricarda Solms l
iefert den Nachruf auf die Slawistin
Helen von Ssachno.
Besprochen werden
K.D. Schmidts Inszenierung der "Räuber" bei den Mannheimer Schillertagen,
Nick Hurrans Film "Grabgeflüster" und Bücher, darunter
Peter Urbans neue
Übersetzung von
Gogols Novelle "Die Nase",
Egon Flaigs Studie "Ritualisierte Politik" zu Gesten und Herrschaft im Alten Rom, der
Band "Teufelshörner und Lustäpfel" mit
Modekritiken von 1150 bis 1620,
Melvin Jules Bukiets Roman "Fremdes Feuer", die
Anthologie "Die Kunst der Interpretation" zur
französischen Reproduktionsgraphik von Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
TAZ, 20.06.2003
Bernd Pickert und Patrik Schwarz
unterhalten sich auf einer Tagesthemen-Seite mit
Richard Perle (mehr
hier) über den schweren Job, ein amerikanischer Hardliner zu sein. Zu den amerikanischen
Zielen im Iran befragt, antwortet Perle jedoch: "
Regime change. Mit friedlichen Mitteln." - "Warum diesmal friedlich?" - "Weil das immer besser ist. Das ist ein Regime, in dem eine Hand voll
religiöser Fanatiker jeden Aspekt des öffentlichen Lebens diktiert, das Leben von Millionen von Iranern. Die mögen das nicht, das ist klar. Die Studenten protestieren. Ich dachte,
Deutschland wäre immer
auf der Seite der Studenten - wo seid Ihr denn heute? Nicht mehr auf Seiten der Studentenbewegung?"
Christine Rösinger
erzählt in der Serie "Zukunft der Arbeit" vom harten Leben der
"Lo-Fi-Boheme": "Lange schlafen, ewig Zeitung lesen, immer wieder Kaffee trinken, am Schreibtisch sitzen, in der Wohnung umhergehen, aus dem Fenster sehen, die Nachbarn beobachten, gewissenhaft alle Fernsehserien analysieren,
zwanghaftes Flanieren und endloses
In-den-immer-gleichen-Cafes-Sitzen. Die Nächte ein ewiges Ins-Kino-Gehen, Was-trinken-Gehen, Auf-Konzerte-Gehen, In-Clubs-Gehen, Auf-Partys-Gehen, Nach-Hause-Gehen. Das ist langweilig, aber auch
sehr anstrengend. Alles, was wir tun, ist gleichzeitig hoch spezialisierte Arbeit, aber fast nichts wird bezahlt: sich informieren, schreiben, Projekte machen, vernetzen, Band haben, Kinder großziehen, ausgehen."
Weitere Artikel: Harald Fricke
unterhält sich mit dem Elektronikkomponisten
Ekkehard Ehlers über seine Arbeit "an den verschiedenen Fronten von House bis Hochkultur". Kerstin Grether
porträtiert Judith Holofernes, Frontfrau der Berliner Band
"Wir sind Helden". Morten Kannsteiner
stellt die Theater-Produktionen im Sommerprogramm der
Ruhrtriennale vor. Jakob Buhre
erzählt vom
Cinematic Orchestra, das einen weitere Versuch untrnommen hat, für
Dziga Vertovs "Mann mit der Kamera" den rechten Ton zu finden.
Und schließlich
Tom.
FR, 20.06.2003
Oliver Gehrs
zeigt sich auf der
Medienseite angesichts der
Häme, die über
Michel Friedman ausgeschüttet wird, ein wenig befremdet: "Im Pulverdampf der Affäre ist die
Sorgfalt längst untergegangen. Die ganze Woche über wurden den Lesern hämisch
Halbwahrheiten unter die Nase gerieben: Der
Spiegel verbreitet Friedmans angeblichen, von den Ermittlern falsch verstandenen Decknamen 'Paolo Pinkel' (Pinkaus wäre richtig),
Focus schwadroniert von 'bizarren Sex- und Drogenorgien', die Nachrichtenagentur
dpa verbreitet eine dubiose Umfrage, nach der die Mehrheit der Bundesbürger dafür ist, dass Friedman seine Karriere als politischer TV-Moderator beendet, und die Saarbrücker Zeitung schwärmt vom '
völlig neuen Friedman-Gefühl - ihn jetzt sprachlos zu erleben'."
Weitere Artikel: Systemtheoretiker
Niels Werber erinnert virtuos schwurbelnd daran, dass der amerikanische Publizist
Walter Lippmann (mehr
hier) schon 1943 davon überzeugt war, dass die
USA allein aus
geostrategischen Gründen in den
Zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Was Werber damit sagen will, erschließt sich leider nicht recht. Vanessa Joan Müller
sah auf der
Art Basel die Kunstwelt zufrieden "über ihren Markt der Möglichkeiten im Zeichen
ästhetischer Krisenkompensation" flanieren. Rudolf Maria Bergmann konstatiert zum hundertjährigen Bestehen des
Bunds Deutscher Architekten eine berufspolitische und intellektuelle
Orientierungslosigkeit: "Man nennt sich kreativ und unabhängig, um ungeniert zu übernehmen, was andernorts neu, aber nur unter lokalen Gegebenheiten konsequent war." Ulrich Speck
gratuliert dem Kulturhistoriker
Peter Gay (mehr
hier) zum Achtzigsten. Verena Mayer
erzählt in ihrer
Gerichtsreportage die Geschichte von Denis und Aradius. In der Kolumne Times Mager
bekommt Hilal Sezgin angesichts der angelieferten
Harry-Potter-Kisten lange Augen.
Besprochen werden
Hayao Miyazakis Trickfilmjuwel "Chihiros Reise ins Zauberland",
Guy Ritchies misogyne
Rachefantasie "Stürmische Liebe - Sewpt away" und
Politische Bücher: Birthe Kundrus
Kulturgeschichte des
deutschen Kolonialismus und Michael Schumann
Studie "Metamorphosen von
Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
NZZ, 20.06.2003
Im
Feuilleton resümiert Barbara Villiger Heilig die
Wiener Festwochen. Hubertus Adam
stellt eine von dem Architekten Pierre Minder erarbeitete Studie zur Restaurierung von
Le Corbusiers Villa Jeanneret-Perret im Jura vor. Jdl.
erläutert kurz das Thema des
Steirischen Herbstes 2003: "
'Was ist Europa?', fragt der 'steirische herbst' und will sein diesjähriges Programm der 'politisch-kulturellen Tektonik der westlichen Wertegemeinschaft' gewidmet wissen." Marta Kijowska
beschreibt die ehrfürchtigen Reaktionen auf das "lang erwartete neue
Poem des Papstes, 'Römisches Triptychon'". Besprochen werden der
Maremma-Zyklus von
Jan Jedlicka im
Museo Cantonale d'Arte in Lugano,
Richard Strauss' Oper "Die Ägyptische Helena" in Essen, eine
Ausstellung zu
Josef Hoffmann und die
Wiener Werkstätte im
Kunsthaus Zug.
Auf der
Filmseite werden vorgestellt:
Fabian Bielinskys Film "Nueve Reinas",
Steven Soderberghs Film "Full Frontal" ("eine spleenige, kurzweilige Kurzversion von 'Short Cuts'", schreibt Andreas Maurer),
Ron Sheltons Film "Dark Blue" und
John Singletons Film "2 Fast 2 Furious".
FAZ, 20.06.2003
Vor dem Hintergrund des
Kongo-Einsatzees erinnert sich der Reporter Günter Krabbe daran, wie eine
"friedenswahrende" Mission der UNO aussieht. 1994 fuhr er mit einer ghanaischen
Blauhelmtruppe durch die Straßen von
Ruanda und begegnete einer Gruppe mordwütiger Tutsi: "Der eine Bursche öffnete die Tür einer Bude, zerrte eine Frau heraus, stellte sie einen Meter vor den Panzer, und der andere
hieb ihr den Kopf ab. Wie vom Donner gerührt, blickten wir zum Leutnant hinauf. Der stand stumm in der Luke und hatte die Hände so fest an ihren Rand gekrallt, dass sich die
Knöchel weiß durch die schwarze Haut schoben. Da holte der erste Bursche noch eine Frau aus der Bude, und der andere schlug auch ihr den Kopf ab. '
Shoot! We kill them!' flüsterte Sergeant Kwame Oponsah. 'No!' befahl der Leutnant. 'Wir dürfen nur schießen, wenn wir selber angegriffen werden. So lautet unser Befehl.' Pause. 'Aber wir können beten. Beten wir, dass einer mit seiner Machete auf den
Panzer schlägt. Dann sind wir angegriffen!'"
Mutig wehren sich
amerikanische Bibliothekare gegen den nach dem 11. September erlassenen
"Patriot Act", der von ihnen verlangt, auf Anfrage über die
Lesegewohnheiten von Nutzern Auskunft zu geben, ohne diese zu informieren.
Anne Turner von der
Bibliothek in
Santa Cruz "hat jedoch einen Weg ausgeheckt, das Schweigegebot zu umgehen", berichtet Heinrich Wefing. "Das Gesetz, sagt sie, verbiete ihr lediglich,
darüber zu sprechen, dass eine Untersuchung stattgefunden habe. Sie sei aber frei, der Öffentlichkeit mitzuteilen, wenn kein Agent bei ihr angeklopft habe. Deshalb schickt die Stadtbibliothekarin jede Woche eine Mitteilung an den Gemeinderat und berichtet, dass die Santa Cruz Library von der Anwendung des 'Patriot Act' verschont geblieben ist. Sollte dieser Bericht eines Tages ausbleiben, weiß die ganze Stadt, eine Untersuchung hat stattgefunden. Ein
tonloser Alarmruf." Hier eine
aktueller Artkel aus dem
Santa Cruz Sentinel zum Thema.
Weitere Artikel: "igl" kommentiert den Umstand, dass
Peter Handke bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Salzburg mit den Worten "Das ist das letzte Mal, dass ich mein
Idiotentum öffentlich zeige" seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit bekannt gab. Gemeldet wird, dass der Fall eingetreten sei, "für den
Claus Peymann seinen Rücktritt angedroht hatte: Das von ihm geführte Berliner Ensemble erhält weniger Geld vom
Berliner Lottobeirat als beantragt." Mark Siemons war dabei, wie
Günter Grass ausgerechnet im Berliner Ensemble sein Stück über den
17. Juni, "Die Plebejer proben den Aufstand" las, wo er auch den guten Geist des Hauses,
Bertolt Brecht kritisiert - und dafür herzliche Beifall erhielt. Gina Thomas erzählt, dass
Oscar Niemeyer im gesegneten Alter von 95 Jahren seinen ersten Bau in London, einen
Pavillon im
Hyde Park, verwirklichte. Ilona Lehnart lauschte aus Anlass der Verleihung des
Nationalpreises an den ehemaligen Staatspräsidenten der Republik Tschechien,
Vaclav Havel, interessanten Gedanken
Helmut Schmidts über die Zukunft der
Hauptstadt Berlin, die der Ex-Kanzler zur Not auch durch eine
Verfassungsänderung neu definieren will. Felicitas von Lovenberg gratuliert der Autorin
Claire Tomalin zum Siebzigsten. Gina Thomas analysiert die neueste
Ordensliste der britischen Königin. Michael Jeismann gratuliert dem Kulturhistoriker
Peter Gay zum Achtzigsten. Gemeldet wird, dass das vor Jahren gegründete und recht selten an die Öffentlichkeit getretene
Internationale Schriftstellerparlament sich auflöst.
Auf der
letzten Seite schreibt Felicitas von Lovenberg über die Publikation von "Stancliffe's Hotel", bei dem es sich um ein bisher unbekanntes Werk von
Charlotte Bronte handelt. Andreas Rosenfelder stellt den Osteuropahistoriker
Bernd Bonwetsch vor, der das Deutsche Historische Institut in
Moskau leiten soll. Auf der
Medienseite erzählt Heike Hupertz, mit welchen Mitteln die amerikanischen Medien an
Jessica Lynch zu gelangen versuchen, jene Soldatin, die zu Beginn der Irak-Kriegs in einer inszenierten Aktion vor den Pranken des Feinds gerettet wurde. Michael Hanfeld erzählt die neuesten Episoden aus dem etwas ermüdenden Thriller um die
Fußballrechte im Fernsehen. Alexander Bartl hat im übrigen eine WDR-Dokumentation gesehen, die messerscharf nachweist, dass es sich beim
11. September um eine
Inszenierung der CIA handelt (die Gebührenzahler danken für diesen sinnvollen Einsatz ihrer sauer verdienten Gelder!)
Besprechungen gelten den
Mannheimer Schillertagen,
Strauss' Oper "Die ägyptische Helena" in Essen, dem Opern-Spektakel "Sentimenti" nach einem Ruhrpott-Roman von
Ralf Rothmann bei der Ruhrtriennale ("Die
Kanarienvögel sind echt, die im Käfig an der Wand hängen. Eine Arbeiterfamilie
löst sich auf", resümiert Eleonore Büning) und dem Film
"Grabgeflüster".