Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2003. Alle sind mehr oder weniger entsetzt über die schlechte Qualität der Texte bei den Klagenfurter Literaturtagen. Die SZ fand nur eine "Regelpoetik der Pathologie, ein Dogma der Negativität". Die FR vermisst das "große Ding". Die taz fand's "langweilig, öde, spannungslos". Aber lag's an den Autoren, die nur um die eigene Befindlichkeit kreisen, wie die FAZ meint, oder an den Juroren, die kein Händchen hatten, wie die NZZ fragt?

SZ, 30.06.2003

Handwerklich gut, aber ohne Überraschungen, resümiert ein etwas gelangweilter Ijoma Mangold das Klagenfurter Wettlesen. Die erfolgreichen Texte funktionieren nach einem Basisrezept. "Wir haben längst eine Regelpoetik der Pathologie, ein Dogma der Negativität, eine gut abgehangene Ästhetik des Wirklichkeitsverlustes. Wer sich an diese Ordnung des Diskurses hält, der achtet auf einige wenige Regeln: Er scheut die auktoriale Erzählperspektive wie der Teufel das Weihwasser. (...) Man unterdrücke alle rhetorische Spielfreude, gönne sich nur das Graubrot einer kargen Parataxe, denn je abgemagerter der Hauptsatz, desto unerbittlicher hat man sich der Welt des sozialen Austausches verweigert. (...) Und - aber das versteht sich fast von selbst: Man gebe nie der Versuchung nach, komisch zu sein. Ob Ironie, Galgenhumor oder homerisches Gelächter: das ist zu risikoreich." Die Texte der Autoren lassen sich auf der Website der Literaturtage nachlesen.

Alexander Kissler wittert hinter der "Ecclesia in Europa" des Papstes genau jene ansteckende Vision, nach der Habermas&Co bisher vergeblich fahnden. " Folglich geht es dem Papst um nichts Geringeres als um einen Aufstand gegen die Jetztzeit, eine restaurierende Revolution. Die christlichen Wurzeln sollen wieder entdeckt werden, eine 'klar gegliederte Kultur- und Missionstätigkeit' will der Papst in Gang setzen."

Habermas präsentierte seine Kerneuropa-Ideen unterdessen in der Berliner Akademie der Künste. Und Gustav Seibt fühlt sich ans 19. Jahrhundert erinnert: "Die von Jürgen Habermas und einigen europäisch-amerikanischen Mitstreitern in großen Blättern Westeuropas... angestoßene Debatte zur europäischen Identität gleicht auf frappierende Weise der Ursituation eines solchen Risorgimento- Nationalismus im frühen 19. Jahrhundert. Wir erleben eine durch und durch akademische, das heißt ebenso feurige wie abstrakt-idealistische Diskussion."

Weitere Artikel: Sonja Zekri plädiert für ein positiveres Russlandbild. "Alles ist möglich, das heißt auch: alles ist drin. Welche westliche Gesellschaft außer Italien kann das von sich behaupten?" Petra Steinberger skizziert die zehn Bedrohungsszenarien, die der amerikanische Think Tank Rand Corporation für Atlantic Monthly entworfen hat. Joachim Riedl war mit Jörg Haider auf der VIP-freien Eröffnung des "Museums der modernen Kunst" in Kärnten. Alex Rühle kommentiert die Posse um die Ausweisung von Franzosen aus dem Senegal und vice versa. Henning Klüver meldet den Tod des italienischen Schriftstellers Giuseppe Pontiggia. Fritz Göttler verabschiedet den "Bonnie and Clyde"-Autor David Newman. Für das Münchner Filmfest werden heute die Trilogie von Lucas Belvaux, zwei Dokumentarfilme über New Hollywood, Elmar Fischers Projekt "Fremder Freund" und andere empfohlen. Außerdem gibt es einen Überblick über wichtige Sachbücher und Ausstellungen im Juli.

Hans Hoff bescheinigt dem Musiksender Viva auf der Medienseite eine andauernde Pubertät. Hans Leyendecker kritisiert den allgemeinen Hang zum Boulevard im Fall Friedmann. Jens Schneider stellt in der Serie über große Journalisten den von Tucholsky geliebten Axel Eggebrecht vor.

Besprochen werden die maue Eröffnung der Münchner Opernfestspiele mit 'Rodelinda' von Händel, wo weder der Regisseur noch die Eröffnungsrednerin Angela Merkel überzeugen konnten, das schlechtbesuchte Avantgarde-Festival "reich & berühmt" in Berlin, Abi Morgans wunderbares Stück "Zärtlich" am Schauspiel Essen, die zu brave Ausstellung "Auf eigene Gefahr" in der Frankfurter Schirn, das Computerspiel "Lara Croft", und viele Bücher, darunter Joyce Carol Oates' Roman "Hudson River", Aloys Winterlings Biografie von Caligula sowie Hajo Funkes bemerkenswerte Polemik "Der amerikanische Weg" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Außerdem präsentiert die SZ heute eine 32-seitige Literaturbeilage, die wir in den kommenden Tagen auswerten werden.

NZZ, 30.06.2003

Roman Bucheli will in seinem Resümee der Klagenfurter Literaturtage "nicht glauben, dass diese 18 Texte das Beste darstellen, was die deutschsprachige Literatur derzeit zu bieten hat. Wenn die Hälfte der Texte nur bei drei oder gar noch weniger Juroren auf Zustimmung stößt, dann muss bei der Auswahl ganz entschieden etwas schiefgegangen sein." Hatte die Jury nicht genug Zeit, Texte zu lesen und auszuwählen?

Georg Germann beschreibt den Zusamenhang zwischen Denkmalschutz und Konflikten zwischen Völkern. Oftmals würden erst diese das Bewusstsein für die Kulturgüter schärfen. "Denkmalzerstörung und Denkmalschutz gehören dialektisch enger zusammen, als wir wahrhaben möchten. Nicht nur der Krieg erzeugt dieses Paar, sondern jeder Konflikt zwischen Völkern und Volksteilen, werde er bewaffnet oder unbewaffnet ausgetragen." Germann kommt angesichts der Erfahrungen im Irak auch auf die Idee eines Roten Kreuzes für bedeutende Denkmäler zurück.

Weitere Artikel: Angelika Overath hat die Poetikvorlesung Susan Sontags in Tübingen verfolgt. Marc Zitzmann erzählt die Geschichte der der berühmten Cinematheque francaise - jüngst gerät auch bei dieser heiligen Institution die Vergangenheit unter dem Vichy-Regime ins Gerede. Alice Vollenweider schreibt zum Tode Giuseppe Pontiggias (mehr hier): "Er war ein Homme de Lettres, dessen Bibliothek, wie Gerüchte sagen, diejenige Umberto Ecos übertraf". Meldungen gelten dem Umbau des Wiener Filmmuseums und dem Zuschlag für einen Erweiterungsbau zum Sankt Petersburger Marinski-Theater an den französische Architekten Dominique Perrault.

Besprochen werden der Abschluss der 16. Berner Tanztage, und die Ausstellung "Parures triomphales" (mehr hier) im Genfer Musee Rath.

FR, 30.06.2003

Das größte Ärgernis beim 27. Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt nennt Ina Hartwig vorneweg: Schulklassen und lehnenlose Holzbänke. "Und doch wäre es falsch zu meinen, das große Ding, die phantastische Überraschung, das gewagte Experiment seien einer derart eingeschränkten Aufmerksamkeit entgangen. Das große Ding, das stand bald fest, gab es nicht und würde es auch bis zum Ende des Wettbewerbs nicht geben; an diesem Befund ändern auch die Begeisterungsfloskeln der Jury nichts." Routiniers wie Feridun Zaimoglu, Gregor Hens, Henning Ahrens oder die Siegerin Inka Parei hatten erwartungsgemäß "gute bis sehr gute" Texte dabei, mehr aber eben auch nicht.

Was geschieht oder besser nicht geschieht, wenn Adolf Muschg Jürgen Habermas, Jutta Limbach, Wolfgang Schäuble und den polnischen Philosophen Zdislaw Krasnodebski in die Akademie der Künste nach Berlin einlädt, weiß Matthias Dell. "Europa, das hat der Abend gezeigt, hat wieder etwas mit der eigenen Lebenswelt, eigenen Überzeugungen und sogar mit Leidenschaften zu tun. Es gibt plötzlich die Sehnsucht nach dem europäischen Diskurs. Aber was, wenn selbst die großen Köpfe Europas nicht weit über die argumentativen Standards der Politiker hinausgehen?"

Weiteres: Matthias Dell gibt uns zudem einen Einblick in die desolate Fianzlage der Kommune Erfurt, die seit zwei Wochen ohne Schauspielhaus auskommen muss. Frank Keil erkennt hinter der Brachialpolitik der berüchtigten Hamburger Kultursenatorin Dana Horakova einen großen Plan: die Verleugnung der 68er. Das eigentlich Faszinierende am neuen Terminal des Münchner Flughafens ist für Oliver Herwig das Gepäcksystem. Daniel Kothenschulte verabschiedet den "Bonnie und Clyde"-Drehbuchautor David Newman. Anneke Bokern sorgt sich in Times mager um Hollands Corporate Identity, falls bald in den Coffeeshops nicht mehr geraucht werden darf. Eine Meldung besagt, dass die Schauspielerin Geraldine Chaplin in München mit dem CineMerit Award bedacht worden ist.

Auf der Medienseite beleuchtet Michael Ridder die wirtschaftliche Lage der Wirtschaftspresse. Und Klaus Bachmann stellt "Die rote Laterne" vor, ein Magazin für Prostituierte, das jetzt in Amsterdam startet. Eine einsame Besprechung widmet sich dem intellektuellen theatralischen Puzzle "To You, The Birdie!" der Wooster Group in Berlin.

TAZ, 30.06.2003

Gabriele Goettle dominiert die heutige taz mit einer Reportage über die BSE-Expertin Margrit Herbst, die wegen ihrer unbequemen Enthüllungen zunächst entlassen und nun mit Preisen überhäuft wurde. "Ich hab Ihnen mal meine Fallliste ausgedruckt, leider ist der Drucker irgendwie defekt, aber Sie können''s noch lesen. Also, das erste Mal fiel mir im Sommer 1990 auf, dass mit einigen Tieren etwas nicht stimmte. Es konnte nicht Tollwut sein, auch nicht Tetanus, keine andere mir bekannte Diagnose passte, und ich hatte starke Befürchtungen, dass es sich um die bis dahin ja nur in England um sich greifende BSE-Krankheit handeln könnte. Diese Tiere fielen vollkommen aus dem Rahmen. Aus dem üblichen Rahmen!" Man schätzt, dass - auch wegen der Vertuschungen - seit Bekanntwerden von BSE etwa 800.000 infizierte Rinder auf den Teller kamen.

Ernst und Innerlichkeit sind wieder Trumpf, weiß Gerrit Bartels nach den schlappen Tagen der deutschen Literatur in Klagenfurt. "Oder auch: langweilig, öde, spannungslos."

Auf der Medienseite klärt Jan Feddersen die drängende Frage, wen die Iren beim vergangenen Schlager-Grand-Prix wählen wollten, als das Telefon zusammenbrach.

Auf der Tagesthemenseite unterhält sich Klaus-Helge Donath mit dem ehemaligen Jelzin-Berater Iwan Rybkin (Kurzporträt), der jetzt von Putin geschasst worden ist. Rybkin kritisiert den Tschetschenienkurs (Hintergrund) des Präsidenten. "Die Generalstaatsanwaltschaft sucht mich häufiger auf und stellt eigentümliche Fragen: Warum ich damals mit Leuten wie Sakajew (mehr) gesprochen habe etwa. Mein Gott, was soll ich darauf antworten? Ich war Jelzins Sonderbeauftragter für Tschetschenien. (...)Wir leben in einer 'gelenkten Demokratie'. Demokratische Institutionen und Kontrollinstanzen wurden entmachtet. Die Duma spielt keine Rolle mehr, der Föderationsrat hat seine Funktion als regionales Gegengewicht zum Zentrum verloren. Der an seiner Statt eingeführte Staatsrat ist ein Teekränzchen, nicht mehr."

Schließlich Tom.

FAZ, 30.06.2003

Dass in Berlin ein Opernhaus geschlossen wird, ist beschlossene Sache, schreibt Eleonore Büning. Morgen fällt die Entscheidung. Büning entwirft bittere Perpektiven: "Gewiss ist die Opernkrise in Berlin auch ein hausgemachtes Hauptstadtproblem; doch vor allem ist sie Indikator für tiefsitzende Strukturveränderungen im deutschen Kulturverständnis, die sich als erstes sichtbar an dieser hybriden musikalischen Kunstform, die extrem menschenintensiv, deshalb enorm subventionsabhängig ist, manifestieren - und an deren gesellschaftlicher Akzeptanz: Fällt ein Opernhaus in Berlin, wird sich auch im Rest der Republik nach dem Dominoprinzip das Opernhaus-Schleifen rasend beschleunigen. In zehn Jahren ist mit italienischen Verhältnissen zu rechnen: leere Stadttheaterhüllen überall."

Oh je, das klingt nicht gut! Folgende Erkenntnis nimmt Felicitas von Lovenberg von den Klagenfurter Literaturtagen mit: "Es herrscht eine seltsame, irritierende Blutarmut in der jungen deutschsprachigen Literatur, die sich nicht nur in einer extremen Handlungs- und Gefühlsarmut der vorgestellten Texte zeigte, sondern auch im ermüdenden, monotonen Kreisen um die eigene Befindlichkeit..." Die Texte der Autoren lassen sich auf der Website der Literaturtage nachlesen.

Weitere Artikel: Mark Siemons resümiert eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Wolfgang Schäuble, Zdislaw Krasmodebski und anderen über Habermas' "Kerneuropa"-Initiative in der Berliner Akademie der Künste. Gerhard Stadelmaier vermag nicht, sich über die Nicht-Verlängerung des Vertrags von Tom Stromberg am Hamburger Schauspielhaus aufzuregen ("Hier kann man nur scheitern. Es kommt aber auf die Substanz des Scheiterns an: ein Gradmesser für den Zustand nicht nur dieses Theaters. Ivan Nagel zum Beispiel scheiterte hier glanzvoll, Niels-Peter Rudolph qualvoll, Peter Zadek lustvoll lustlos, Frank Baumbauer schlau. Stromberg aber turbulent flau.") Christian Geyer stellt das Dokument "Ecclesia in Europa" vor, das die letzte Bischofssynode vor vier Jahren zusammenfasst. Dirk Schümer schreibt zum Tod des italienischen Autors Giuseppe Pontiggia. C. B. schreibt zum Tod des Kunsthistorikers Martin Sperlich.

Auf der letzten Seite berichtet Hans-Peter Riese über die Eröffnung des Museums für verfolgte Kunst und Künstler von Ashdod in Israel. Kerstin Holm berichtet, dass sich der Milliardär George Soros allmählich aus seinen russischen Stiftungen zurückziehen will. Und Jürgen Kaube kommentiert recht sarkastisch einen Abend in der Berliner "Jungen Akademie", wo der alternde Nachwuchs auf Posten wartet: "Beim Festakt in Berlin sprach das Grußwort ein Gerontologe, der von den Dreißig- bis Vierzigjährigen ständig als 'der Jugend' sprach, ihnen 'Pep und Pop' attestierte..." Auf der Medienseite berichtet Robert von Lucius über ein Buch dänischer Journalisten, die nochmals das Abenteuer mit der im letzten gescheiterten Zeitungsgründung Dagen erzählen. Paul Ingendaay setzt eine kleine Reihe über die öffentlich-rechlichen Sendeanstalten Europas mit dem Beispiel Spanien fort.

Besprochen werden eine Berliner Ausstellung über Kennedys Berlin-Reise vor vierzig Jahren (mehr hier), ein Konzert Jane Birkins mit Liedern Serge Gainsbourgs, Händels "Rodelinda" bei den Münchner Opernfestspielen und Sachbücher, darunter erste Bücher zum Irak-Krieg und Michael Mitterauers Buch "Warum Europa?"