08.07.2003. In der FR meditiert Richard Wagner über den Willen zur Identität. Die SZ bewundert die Unerschrockenheit der französischen Untersuchungsrichterin Eva Joly, die den größten Korruptionsskandal der neueren europäischen Geschichte aufdeckte. In der FAZ bespricht Kardinal Lehmann die Gedichte des Papstes. Die taz weiß: "Istanbul boomt." Die NZZ befasst sich mit der traurigen Lage des palästinensischen Bildungsfernsehens.
SZ, 08.07.2003
In einem Porträt der französischen Juristin
Eva Joly zeigt sich Alex Rühle sichtlich beeindruckt von der Unerschrockenheit der Frau, die mit ihren
Ermittlungen im Fall Elf- Aquitaine "den größten Korruptionsskandal der neueren europäischen Geschichte" aufdeckte. Was nicht ganz einfach war: "Jolys Kampf gleicht dem des wackeren Häufchens um
Captain Morpheus gegen die übermächtigen Agenten aus 'Matrix'. Als sie ihren Job als Untersuchungsrichterin begann, war ihr Büro schlechter ausgerüstet als ein deutsches Asta-Büro nach den Buhlmanschen Kürzungen: Joly musste sich den
Computer ihrer Tochter ausleihen, um die ersten Akten anzulegen."
In einem Text zu dem Anschlag in Moskau
beschreibt Sonja Zekri das Gefühl der
Unwirklichkeit, das in
Russland und Tschetschenien gleichermaßen herrsche: "Selbst wenn sich künftige Anschläge gegen Einkaufszentren oder Regierungsgebäude richten, ist doch auch dies eine Folge des Terrors: Dass die Menschen in Russland bezweifeln müssen, ob das, was sie auf der Bühne sehen, auch das ist, was tatsächlich geschieht. In Grosny ist man mit diesem
flirrenden Gefühl vertraut."
Weitere Artikel: Für die Reihe "Deutschland extrem"
besuchte Christian Kortmann
Weihenstephan, angeblich die älteste Brauerei der Welt. Joachim Riedl
informiert über den bevorstehenden
Bankrott der jüdischen Kultusgemeinde in Wien. Stefan Koldehoff
wundert sich, dass
Sotheby's vor Gericht muss, weil das Auktionshaus
keine Raubkunst verkaufen will. In einem kurzen Text
zitiert Thomas Steinfeld einen Bericht der schwedischen Tageszeitung
Svenska Dagbladet vom 7. Juli, wonach
Zarah Leander im Dritten Reich Kurier des
sowjetischen Geheimdiensts gewesen sein soll. Wolf Lepenies
resümiert ein Kolloquium
in Göttingen, das an
Maurice Halbwachs erinnerte, und Jörg Häntzschel
berichtet über die ebenso ungebremste wie
juristisch freihändige Kollektivübersetzung des neuen
Potters durch deutsche Fans
im Internet.
In Vorbereitung des 100. Geburtstags von
Adorno konstatiert "vobr" in der ersten Folge einer Kolumne namens "Teddie-Bär" vorläufige
Anschlussprobleme im Adorno-Büro der Stadt Frankfurt. In der "Zwischenzeit"
denkt Wolfgang Schreiber über Schopenhauer und das
Glücksgefühl der Deutschen nach, und "W.S."
kommentiert die Bedeutung möglicher
"Neulinge" - Marthaler, Schlingensief, von Trier - für kommende Inszenierungen auf dem
Bayreuther Hügel.
Auf der
Medienseite wird in der Reihe großer Journalisten heute
Theodor Fontane porträtiert, und Julia Bonstein
stellt die Ergebnisse einer
Studie vor, die wenn schon nicht erklärt, so doch zumindest zweifelsfrei feststellt:
je heißer, desto weniger Fernsehlust.
Besprochen werden der Münchner
Tourstart von
Robbie Williams,
Jules Massanets Oper "Werther" am Münchner Gärtnerplatztheater, die
Uraufführung von
Beat Furrers "Invocation" in Zürich,
Jeff Kanews Film über das Massaker von
"Babij Jar" und
Bücher, darunter neu veröffentlichte
Briefe und Gedichtbände von
Paul Celan, ein neuer
Band mit Erzählungen von
Jörg Matheis, eine
Studie über
NS- Wirtschaftspolitik und die
Lebenserinnerungen von
Paul Gaugin. (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr)
FR, 08.07.2003
In einer Beschreibung des
"neuen Status ethnischer Minderheiten" fordert der
Schriftsteller Richard Wagner, dass Integration heute anders definiert werden müsse. Ein zentrales Merkmal sei: "Man braucht kein eigenes Territorium mehr, um kulturell zu überleben. Für die Erhaltung der Identität genügt der
Wille zur Identität. Die Soziologie hat hierfür die Formel des long-distance-patriotism gefunden. Der Minderheitler, egal wo er sich befindet, ist heute nicht mehr allein. Im virtuellen Raum kann sich jeder als Teil einer Mehrheit fühlen. Er kann sein kulturelles Zentrum wann immer kontaktieren." Staatsangehörigkeit sage dabei "nicht alles über Persönlichkeit und Mentalität aus." Der
"Klebstoff unserer Gesellschaft" müsse deshalb "das verfassungsgebende Element, der von Menschen- und Bürgerrechten getragene Wertekatalog" sein. "Deshalb ist das Fortschreiben der
europäischen Magna Charta, im Augenblick durch die Formulierung einer EU-Verfassung, von größerer Bedeutung, als man denkt."
Verena Meyer
denkt in einem Essay über die Zeit, respektiver die
Freizeit nach, und weiß, warum der "Kampf der IG-Metall für eine Verkürzung der Arbeitszeit in Ostdeutschland von vorneherein zum Scheitern verurteilt" war: weil
Zeit "kein gültiger Maßstab mehr" sei. "Denn freie Zeit ist etwas, von dem es inzwischen tendenziell
zu viel gibt. Wo an die viereinhalb Millionen ohne Job sind, wo es um einiges schwieriger ist, den Tag mit Arbeit zu verbringen als ihn individuell zu vertrödeln, bedeutet freie Zeit zumeist nichts Gutes. Freizeit ist in unserer stellensuchenden Gesellschaft
kein Luxus mehr, sondern
ein Makel."
Weitere Artikel: Petra Kohse
berichtet über ein vielversprechendes
Theaterexperiment in Wismar, das jetzt vor der Zeit zu Ende geht. In Michael Tetzlaffs Kindheitserinnerungen aus der Zone
geht es um die
verdauungsbegünstigende Wirkung von Geräuschen, und in Times mager
gibt Jürgen Roth eine ebenso verblüffende wie tröstliche
"Antwort auf alles".
Besprochen werden eine
Inszenierung der
Schönberg-Oper "Moses und Aron" an der Württembergischen Staatsoper Stuttgart, zwei Pariser
Ausstellungen der Fotografen
Henri Cartier-Bresson in der
Bibliotheque Nationale und
Jacques Henri Lartigue im
Centre Pompidou, außerdem das übermorgen in Frankreich erscheinende
Buch der Untersuchungsrichterin
Eva Joli, die den
Elf-Aquitaine-Skandal ermittelte (mehr hierzu in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
TAZ, 08.07.2003
"Istanbul boomt" - das ist zumindest der
Eindruck von Daniel Bax nach seinem Besuch des diesjährigen
Istanbul Music Festival. "Das liegt auch daran, dass die Türkei seit ihrer Gründung den radikalen
Bruch mit ihrem osmanischen Erbe suchte. Lange verleugnete das Land darum seine kulturelle und religiöse Vielfalt. Doch seit geraumer Zeit boomt speziell in Istanbul die unabhängige Kulturszene - was nicht nur zu mehr Internationalität, sondern gleichzeitig auch zu einem
Revival multikultureller Traditionen geführt hat." Vor allem das traditionelle "Bohemequartier" Beyoglu (mehr
hier) erlebe eine
regelrechte Renaissance: mit metropolenüblichen Restaurants, Cafes und Buchläden.
Gerrit Bartels
wundert sich erneut über den "Hype" um
Siegfried Lenz' neuen Roman "Fundbüro". Der gründet, so Bartels trocken, vermutlich "wohl einmal mehr darauf, dass ein
großer, verlässlicher Name sich immer gut macht und
breit verkaufen lässt." Christian Rath
erklärt, warum auf dem diesjährigen
Tanz- und Folkfest Rudolstadt in Thüringen die
USA "keine Chancen" hatten und stattdessen politisch "verträglichere" Kultur aus
Kanada auf dem Programm stand. Und auf der Medienseite
konstatiert "stg" anhand der jährlichen Bestandsaufnahme des
Guardian, dass
Frauen in den englischen Medien langsamer voran kämen als in den deutschen.
Besprochen werden eine umfangreiche
Retrospektive des Fotografen
Allan Sekula in der Wiener
Generali Foundation und
Bücher, darunter S
ybille Bedfords Roman "Ein Vermächtnis", ein
Band über die Bankgesellschaft Berlin und damit den "bislang größten
Bankenskandal der Bundesrepublik", und ein
Buch über den DDR-Kritiker
Robert Havemann mit dem Untertitel "Wie die DDR sich erledigte" (mehr dazu in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
Und
hier TOM.
NZZ, 08.07.2003
Auch
palästinensische Kinder brauchen
Bildungsfernsehen,
erzählt Peter Schäfer in der
NZZ. Doch der Nahostkonflikt erschwere die Produktion von Kindersendungen wie der
"Sesamstraße" erheblich. Gemeinsame Dreharbeiten mit dem israelischen Fernsehen seien mittlerweile unmöglich geworden. Mit Unterstützung des
Children's Television Workshop (CTW) in New York würden nun neue Folgen unter Berücksichtigung der Ausgangssperren in den palästinensischen Gebieten gedreht, wobei der
Nahostkonflikt auch im Studio zu spüren sei. So wollen die Palästinenser gerne eine "politischere" Sesamstraße, in der "über Kampfflugzeuge, Soldaten und alles, was damit zusammenhängt, gesprochen werden darf", womit CTW jedoch Schwierigkeiten hat, sagt Schäfer. Auch sonst seien die Vorstellungen der amerikanischen CTW-Koordinatoren problematisch. Zum Beispiel hätten sie verlangt, unter der
Ausgangssperre zu drehen, "und einfach nicht verstanden, dass das lebensgefährlich ist".
Peter Hagmann
berichtet über
Christoph Marthalers Inszenierung der Oper
"Invocation" von
Beat Furrer, die im Rahmen der
Zürcher Festspiele in der
Schiffbauhalle uraufgeführt wurde. Der Oper liegt das Handlungsgerüst eines Romans von
Marguerite Duras zugrunde, der über weite Strecken in einem Cafe spielt und nach Ansicht von Hagmann "noch manchen Gedanken auslösen" wird.
Weitere Artikel: Roman Hollenstein
beschreibt Moshe Safdies neues
Peabody Essex Museum in Salem. Irene Binal
bespricht Daniel Masons Roman
"Der Klavierstimmer Ihrer Majestät" und Wolfgang Lange hat
Rainer Fabians Roman
"Das Rauschen der Welt" gelesen.
FAZ, 08.07.2003
Karl Kardinal Lehmann bespricht für die
FAZ einen Gedichtband des
Papstes ("Römisches Triptychon - Meditationen"): "Der Papst spricht vom Menschen, und er tut dies als
Mensch unter Menschen, in einer Poesie, die auch in ihrer Sprache Staunen - und darin auch
so etwas wie Demut - ausstrahlt." Das ist ja besser als Grünbein!
In
Elias Canettis viertem Memoirenband, der ab heute in der
FAZ vorabgedruckt und deshalb von Richard Kämmerlings vorgestellt wird, erfahren wir unter anderem, wie der Autor über
T. S. Eliot dachte: "ein Wüstling des Nichts, Ausläufer Hegels,
Schänder Dantes ... dünnlippig, kaltherzig,
frühalt, Blakes unwürdig wie Goethes".
Weitere Artikel: Kerstin Holm schildert die Atmosphäre in
Moskau nach dem tschetschenischen
Selbstmordattentat am Wochenende bei einem Rockkonzert. Reiner Burger freut sich, dass die
Dresdner Kunstsammlungen entgegen ursprünglicher Plänen der Kulturpolitik nicht auf verschiedene Städte verteilt wird. Andreas Rossmann lotet die Untiefen der
Kölner Kulturpolitik aus, die vom
Oberbürgermeister höchstpersönlich an der
Kulturdezernentin vorbei geführt wird. In der Reihe "Wir vom Bundesarchiv" stellt Michael Wettengel einen Aktenvermerk des Bundesjustizministers
Thomas Dehler zur Europäischen Verteidigungspolitik im Jahre 1952 vor. Andreas Eckert resümiert eine Historikertagung am Lononder
King's College über das
britische Empire. Matthias Pabsch stellt das neue Wahrzeichen
Dublins vor, den
"Spire of Dublin" eine 120 Meter hohe Stahlnadel des Londoner Architekten
Ian Ritchie. Gina Thomas schildert Auseinandersetzungen in der
Anglikanischen Kirche über die Frage, ob
Priester homosexuell sein dürfen.
Für die
Bücher-und-Themen-Seite hat Wolfgang Schneider vier Neuerscheinungen über
Günter Grass gelesen, darunter seinen
Briefwechsel mit der Verlegerin
Helen Wolff . Der irakische Autor
Hussain Al-Mozany schreibt über die (kaum vorhandene)
Musil-Rezeption in der
arabischen Welt. Für die
Medienseite hat Nils Minkmar zugesehen, wie
Hillary Clinton ihre Memoiren signiert (durch ein eingespieltes Personal, das ihr die Bücher hin- und sie dann weiterreicht, kam sie in London auf eine Signiergeschwindigkeit von
900 Büchern in zwei Stunden). Hans-Dieter Seidel hat sich beim
Münchner Filmfest neue
Fernsehfilme angesehen. Auf der
letzten Seite freut sich Christian Schwägerl, dass deutsche Wissenschaftler in der Gehirnforschung führend seien, und er nennt
Joachim Klose aus Berlin ("ein ruhiger, nachdenklicher Mann") und
Helmut Meyer aus Bochum. Paul Ingendaay erliegt dem Charme
David Beckhams, der jetzt für
Real Madrid spielt. Patrick Bahners begrüßt den Beschluss des höchsten texanischen
Gerichts,
homosexuelle Praktiken nicht mehr zu verfolgen - das Gericht berief sich dabei übrigens auf ein Urteil des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Besprochen werden
Beat Furrers Musikdrama "Invocation", inszeniert von
Christoph Marthaler in Zürich,
Ron Williams' Tourstart in Mänchen ("Das Rätsel heißt:
Spielt Robbie Williams, dass er Robbie Williams ist, oder
ist Robbie Williams er selbst?", fragt Rose-Maria Gropp) und
Jossi Wielers Inszenierung von
Schönbergs "Moses und Aron" in Stuttgart, nach Gerhard Rohde eine "zwingende, intellektuell wie emotional gleich
starke Aufführung".