Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2003. In der NZZ warnt Adam Krzeminski den armen Habermas: Die Randeuropäer kommen gewaltig, und zwar in den Kern. Die FAZ schildert, wie der Streik der Bühnenarbeiter in Frankreich die Festivals in Frage stellt und die kleinen Theater ruiniert. Auch die SZ sieht die gesamte französische Theaterlandschaft in Frage gestellt. In der schönen Adorno-Serie der taz wird der inkommenurable Teddy heute von Isabelle Graw gewürdigt.

FAZ, 11.07.2003

Die Festivals von Aix und von Avignon sind wegen des Streiks der Bühnenarbeiter abgesagt. Für kleine Theater in Avignon ist das eine Katastrophe, schreibt Joseph Hanimann. "Oft hoch verschuldet und mit ihren letzten Ersparnissen kommen sie alljährlich zu Hunderten in die Stadt, mieten für teures Geld einen Saal, leben unter prekären Verhältnissen, machen tagsüber in den Straßen Werbung für ihre Produktion und spielen in der Hoffnung, ein paar Zuschauer und eventuell einen Agenten in die Bude zu bekommen, der ihnen in der nächsten Saison ein paar Gastspielabende sichert. Sie sind gleichermaßen existenziell betroffen: von der neuen Arbeitslosengeldregelung für die Bühnenarbeiter und -künstler auf Zeit - und vom Streik, den die 'Intermittents' dagegen landesweit vom Zaun gebrochen haben."

Aus dem Espresso übernimmt die FAZ Umbertos Ecos Artikel über Berlusconis Populismus: "Sich aufs Volk zu berufen ist... eine Fiktion: Da das Volk als solches nicht existiert, ist der Populist derjenige, der sich ein virtuelles Bild vom Volkswillen erschafft. Mussolini tat dies, indem er hundert- oder zweihunderttausend Menschen auf der Piazza Venezia zusammenbrachte, die ihm akklamierten und als Schauspieler die Rolle des Volkes spielten. Andere können sich das Bild des Volkskonsenses schaffen, indem sie auf die Meinungsumfragen setzen oder einfach das Phantasma des 'Volks' beschwören." Im Original finden Sie den Artikel hier.

Weitere Artikel: Edo Reents legt eine kleine satirische Erzählung über den stornierten Italienurlaub des Kanzlers vor. Andreas Rossmann berichtet über drastische Sparmaßnahmen am Theater Münster. "bat." glossiert die geplante Seligsprechung des Architekten Antonio Gaudi. Andreas Rossmann würdigt die Leistungen des Schauspiels Oberhausen, dessen Intendant Klaus Weise nach erfolgreicher Leitung des Hauses nun nach Bonn zieht. Hannes Hintermeier berichtet von der jährlichen Wirtschaftspresskonferenz des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Kerstin Holm beobachtet in ihrem Resümee des Moskauer Filmfests eine Professionalisierung und Kommerzialisierung des russischen Kinos, das mit Gangsterfilmen und Komödien auch beim Publikum ankommt. Dieter Bartetzko präsentiert uns einen kleinen, aber offensichtlich exquisiten Hotelbau Max Dudlers in Mainz-Weisenau. Jordan Mejias schildert ausführlich die Leistungen der Oper von Los Angeles unter dem Intendanten Edgar Baitzel. Mark Siemons verfolgte in Berlin einen Vortrag des Historikers Carlo Ginzburg über seine Praxis der "Microstoria".

Auf der letzten Seite berichtet Felix Pirson über spektakuläre bronzezeitliche Funde in der Nähe von Pompeiji. Dietmar Polaczek porträtiert den Kunstbuchverleger Gabriele Mazzotta, dem jüngst das Bundesverdienstkreuz überreicht wurde. Ulrich Maximilian Schumann berichtet über Karlsruher Pläne, sein Dezernat für Stadtplanung aufzulösen. Auf der Medienseite stellt Heike Hupertz das "Project Greenlight" des Senders HBO vor, das als Reality Show die Herstellung eines Films in Hollywood begleitet. Jochen Buchsteiner meldet, dass in Pakistan ein Redakteur wegen eines angeblich blasphemischen Leserbriefs, den er veröffentlicht hat, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Und Kerstin Holm schildert eine politisch ausgedünnte Moskauer Medienlandschaft.

Wer's weniger trist liebt, lese Alphons Kaisers Artikel über die Pariser Haute-Couture-Schauen in "Deutschland und die Welt"!

Besprochen werden Zeichnungen von Terry Winters in der Münchner Staatlichen Graphischen Sammlung und Zwei Bücher australischer Autorinnen über die Stasi (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 11.07.2003

In der schönen Serie "Teddy, der Inkommensurable" zu Adornos hundertstem Geburtstag erzählt Isabelle Graw von einem Lektürekurs, den sie in der Frankfurter Städelschule hielt. "Nach drei Semestern kam der Eindruck auf, man habe sich ein wenig eingelesen, sich an Adornos Rhetorik, seine apodiktische, sentenzenhafte Sprache, seine Vorliebe für spiralenhaft gesteigerte Paradoxa und aporetische Konstruktionen gewöhnt. Zugleich war immer klar, dass diese Lektüre eine grundsätzliche Überforderung - und zwar aller Beteiligten - darstellen würde. Es gab Textstellen, die letztlich rätselhaft und unverständlich blieben und für die eine 'Technik des Überlesens' entwickelt werden musste. Andere erschienen uns so gelungen und treffend formuliert, dass wir sie einander vor lauter Begeisterung laut vorlasen und uns ihrem Sound überließen."

"Zwischen den Rillen" widmet sich Tobias Rapp den beiden Diven Beyonce Knowles und Ashanti. Auf der Medienseite stellt Clemens Niedenthal fest, dass die Zeiten der Bäckerblume vorbei sind. Die modernen Kundenmagazine böten nicht mehr nur Produktinformationen, sondern "konsumorientierte Lebensentwürfe in stilbildender Prosa". Womit für Niedenthal aus VW, RWE oder Lufthansa längst Medienkonzernen geworden sind.

Besprochen werden das Ausstellungsprojekt "Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle", mit dem die Essener Kokerei Zollverein "Formen des politischen Engagements im öffentlichen Raum" präsentieren will sowie das Stück "Wie hast du geschlafen?", das der Theaterregisseur Roberto Ciulli mit Forensik-Patienten erarbeitet hat.

Und Tom.

FR, 11.07.2003

Ladys First: Ursula März greift noch einmal den Frauen-Gipfel bei Sabine Christiansen mit Angela Merkel und Hillary Clinton auf, der sie doch nachhaltig befremdet hat. Denn die Damen ähnelten, meint März, "sehr ehrgeizigen, sehr erfolgreichen, sehr ambitionierten, sehr hart arbeitenden - und sehr braven Mädchen... Es war, mit Verlaub, die Stunde der Chefsekretärinnen."

Udo Feist erliegt "Hot Women", eine Kompilation des sexpolitisch inkorrekten Robert Crumb zu "Women Singers from the Torrid Regions of the World"- von Louisiana über die Antillen, Chile, Algerien und den Kongo bis zum Schmelz indischer Kurtisanen (Hörproben hier). "Erst fasziniert der Klang, später das Rätsel, was die Worte meinen. Nicht-Polyglotte wie Crumb verstehen sie zwar nicht, trotzdem weiß man es: Liebe und Kummer, Sehnsucht, Freude, Abschied, Launen oder dunkle Trauer, in wunderschön aufwühlende Chöre, Wechselgesang und stets weibliche Stimmen gefasst, die auf Rhythmen surfen."

Weitere Artikel: Micha Brumlik fragt sich, warum sich Deutschland immer wieder Figuren wie Michel Friedman schafft, um sie regelmäßig von ihrem Podest herunterfallen zu lassen. Alice Christians beklagt das drohende Aus der Schweizer Zeitschrift du. Tamedia, zweitgrößter Medienkonzern des Landes mit dem Flaggschiff Tages-Anzeiger möchte das Blatt für den symbolischen Preis von einem Schweizerfranken verramschen. Stefan Keim fühlt sich von Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma ein wenig an jenen Bürgermeister aus "Zar und Zimmermann" erinnert, der sich für den Besuch des Zaren in Kultur übte. Times mager heißt all die Geschöpfe willkommen, die uns Stammzellenforschung dank EU künftig bescheren wird.

Besprochen werden der sportive Film "3 Engel für Charlie", die Ausstellung "actionbutton" im Hamburger Bahnhof, die zeigt, was der Bund in den vergangenen Jahren so an Kunst eingekauft hat und Bücher, darunter Joyce Carol Oates Roman "Hudson River", Heinz Schillings Untersuchung der "Kleinbürger", Ruth Hofmann Studie zu Frauen in der rechten Szene "Weil die ohne Weiber gar nicht können!" und Britta Langes Rundgang durch deutsche Kriegsausstellungen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 11.07.2003

Adam Krzeminski, Kommentator der polnischen Wochenzeitung Polityka, fühlt sich durch Habermas' "Kerneuropa"-Initiative unangenehm an Kants Entwurf "Zum ewigen Frieden" erinnert: War es nicht "feige" von Kant, die russische Intervention in Polen (mit preußischer Beteiligung) im Oktober 1795 ohne Protest hinzunehmen? Auch heute sei der Osten in "Kerneuropa" nicht wirklich willkommen. "Während die USA von Anfang an demokratisch verfasst wurden, scheint Europa weiterhin sein feudales Gerüst zu pflegen. Über Jahrhunderte war es nach dem Senioritätsprinzip gebaut. Und auch jetzt versuchen sich die wirtschaftlichen und geistigen Recken des Abendlandes, verschreckt, dass die Barbaren die Außenmauer der EU doch eingenommen haben, in die hohe Burg von 'Kerneuropa' zurückzuziehen, wohl in der Hoffnung auf einen Entsatz durch Engelsscharen."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann meldet, dass die beiden größten und renommiertesten Festspiele in Frankreich, das Festival d'Avignon und das Festival d'Aix-en-Provence, auf Grund der Streikbewegung der freien Kulturschaffenden abgesagt wurden. Christoph Funke hebt die Übernahme des Berliner Hebbel-Theaters durch Matthias Lilienthal als "wichtigen Neuanfang" hervor. Cornelia Isler-Kerenyi freut sich über archäologische Funde in der Stadt Kerma im Sudan. Ursula Sinnreich bespricht die Gotthard-Graubner-Ausstellung der Kestner-Gesellschaft in Hannover (mehr hier).

Die Filmseite: Als Maja Turowskaja vor einiger Zeit Archivalien zur Geschichte des Studios Mosfilm im Jubiläumsjahr 1937 durchforstete, fand sie unter anderem zahlreiche Dokumente zur "Liquidierung" von Sergei Eisensteins Film "Die Beschin-Wiese". Der noch unfertige Film war damals "diskutiert, kritisiert, verboten und zuletzt gnadenlos vernichtet" worden. Nur Schnipsel sind erhalten geblieben. "Bei der Durchsicht all dieser irdischen Reste der sowjetischen 'konservativen Modernisierung' entdeckte ich, dass von den Beteiligten noch jemand lebt. Es gibt noch eine Zeugin dieser Phantasmagorie, sie ist durch die Hölle jener Zeit geschritten und hat das Material von Eisensteins Unglücksfilm in der Hand gehalten: Fira Tobak, die Cutterin von 'Die Beschin-Wiese', heute weit über neunzig. Voller Mutmaßungen, in was für einem Ruhmesglanz diese einzigartige Persona grata sich wohl sonne, rief ich sie an und bat um eine Audienz". Statt auf eine Heldin trifft Turowskaja dann jedoch auf eine Partisanin!

Weitere Artikel: Patrick Straumann lobt das 14. "Festival International du Documentaire" in Marseille (mehr hier). Günter Bitala fragt sich, warum sich der berühmte Regisseur F.W. Murnau ausgerechnet den Namen des kleinen Marktfleckens am Rand der Alpen gab.

Auf der Medien- und Informatikseite fragt sich S. B. wie eigentlich Google News funktioniert. Erstellt werde der Service "ausschließlich von Computer-Algorithmen und völlig ohne das Eingreifen von Menschen", habe Google erklärt. "Haben die Techniker von Google still und heimlich vollbracht, was seit 50 Jahren viele erstrebten, was aber niemand auch nur annäherungsweise erreichte: die Kreation künstlicher Intelligenz? Es findet sich niemand bei Google Deutschland, der uns die Funktionsweise dieses Algorithmus erläutern möchte..." (So viel können immerhin wir schon sagen: Google News findet nur Artikel, die frei im Netz stehen, liebe NZZ!)

Weitere Artikel: Stefan Heuer stellt ein Buch von Alec Klein über die unselige Hochzeit zwischen Time Warner und AOL vor.

SZ, 11.07.2003

C. Bernd Sucher kommentiert das Ende des Festivals von Avignon: "Das französische Theatersystem muss umstrukturiert werden, denn es funktioniert noch wie in den sechziger Jahren zu den reichen Zeiten von Andre Malraux... Das freie Theaterleben, das so reich ist wie in keinem anderen europäischen Land, funktionierte allein durch einen Sozialkontrakt, der den Freiberuflern innovative Arbeit durch großzügige Arbeitslosenunterstützung möglich machte. Eine solche Hilfe ist aber nicht gebunden an Leistungen. Wer diese einzigartige Unterstützung beibehalten will - wie die Streikenden - sieht in jeder anderen, projektbezogenen Förderung einen Eingriff in die künstlerische Freiheit. Wer, wie der Minister, nur eine Verschärfung der Zugangsbedingungen für diesen Geldtopf wünscht, ändert nichts an dem Problem, sondern verschärft es noch. Nicht allein die Streikenden tragen T-Shirts mit der Aufschrift 'Attention! Culture en danger', sondern auch viele Zuschauer, die nichts zu sehen bekamen."
Festivalleiterin Eva Wagner-Pasquier, erzählt Reinhard Brembeck im kurzen Interview von der ebenfalls deprimierten Stimmung in Aix.

Erinnert sich noch jemand an den "Dritten Weg", dieses Programm für fortschrittliches Regieren, für das einst Clinton, Blair und Schröder so einträchtig gestritten haben? Am Wochenende findet in London wieder einmal ein solcher Gipfel von Mitte-Links-Regierungen statt. Anthony Giddens, Direktor der London School of Economics, versucht, der Veranstaltung zu etwas Elan vital zu verhelfen. "Mitte-Links- Parteien haben zwar in den EU-Ländern unbestreitbar an Einfluss verloren, doch anderswo haben sie Boden gut gemacht. Regierungen links der Mitte kamen in der Tschechischen Republik, in Ungarn und in Polen an die Macht; in Schweden und in Deutschland wurden sie wiedergewählt. Sie alle folgen von revisionistischen Programmen, die stark von den Ideen und Grundsätzen des Dritten Wegs beeinflusst sind. Das gilt auch für die neue Regierung Brasiliens."

Weitere Artikel: Petra Steinberger nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, dass das US Army Peacekeeping Institute nun doch nicht geschlossen wird (die Website ist allerdings schon abgeschaltet), auch wenn dies keinerlei ideologische Kehrtwende bedeutete. In erster Linie verstünden sich die USA eben als "Peacemaker", nicht "Peacekeeper". Aus gegebenem Anlass schreibt Harald Eggebrecht eine kleine Heimatkunde zu Hannover, wo man noch zwischen Großer und Kleiner Düwelstraße zu differenzieren wisse. Adrienne Braun liefert einen Probenbericht von Rene Polleschs "LSD"-Inszenierung in Stuttgart. Fritz Göttler staunt, dass Katherine Hepburns Memoiren auf den Markt gekommen sind - zwei Wochen nach ihrem Tod. Arno Orzsessek berichtet, wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp beim Berliner Museumsforum das lichte Berliner Ausstellunsgwesen beschwor. Jürgen Berger sucht einen neuen Intendanten für Münster, der in der Lage ist, drei Millionen Euro einzusparen. Und "vobr" schließlich meldet, dass der Buchhandel im vergangenen Jahr ein Minus von 3,4 Prozent zu verkraften hatte.

Besprochen werden Ulrich Köhler Erstlingsfilm "Bungalow" (der laut Martina Knoben einen solchen Sog entwickelt, dass sie in Köhler schon einen deutschen David Lynch erkennen möchte), das Festival Jazz-Baltica im holsteinischen Salzau, ein Konzert von King Crimson in Stuttgart, die Ausstellung "Tischgesellschaften" in der Residenzgalerie Salzburg und Bücher, darunter Bohumil Hrabals Texte "Allzu laute Einsamkeit", Schriften von Eveline Goodman-Thau, Hans-Ulrich Seidt Lebensbeschreibungen des Militärs, Politikers und Wissenschaftler Oskar Niedermayer alias Kara ben Nemsi "Berlin, Kabul, Moskau" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr) .