Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2003. In der SZ warnt Willibald Sauerländer vor einem Rückfall in die ästhetische Unmündigkeit. Die FR hat einen deutschen Intendanten aufgespürt, der über eine Ausweitung seines Etats verhandelt. In der NZZ definiert Adolf Muschg das "Berliner Dilemma". Die taz porträtiert die Theaterautoren Andreas Sauter und Bernhard Studlar. In der FAZ erinnert Robert Gernhardt an den von Erich Kästner für heute annoncierten Weltuntergang.

SZ, 12.07.2003

Der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer macht einen "bescheidenen Vorschlag, einen neuen Ikonoklasmus betreffend": Bitte nicht "angesichts des Massenkonsums von Bildern in der 'Societe du spectacle' ... in die ästhetische Unmündigkeit" zurückfallen. Schlimmstes Beispiel für das Zusammenspiel "zwischen dem Business mächtiger Medienkonzerne und einer nach verstärkter ikonischer Präsenz gierenden Politik" war für ihn die visuelle Inszenierung von Präsident Bushs Besuch bei seinen siegreichen Truppen auf der USS Abraham Lincoln nach dem Ende des Irak-Krieges (Bilder). "Sie bediente sich - bewusst oder unbewusst - aus jenem Arsenal von militärischen Zeremonien und Bildern, welche uns die alten Römer auf ihren Triumphbögen und Triumphsäulen hinterlassen haben und das in der nachantiken europäischen Geschichte ein fürchterliches Nachleben geführt hat ... Mit solchen Bildern vermittelt sich die plebiszitäre Politik wie Werbung, nur kann man die auf den politischen Bildern fetischisierte Ware nicht kaufen, sondern man soll ihr glauben. Die Bürger sollen zu Ikonodulen werden." Der Text ist die Kurzfassung eines Vortrags, den Sauerländer in der Vortragsreihe "Iconic Turn" in der Münchener Universität gehalten hat. (hier können Sie den ganzen Vortrag hören.)

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld fragt sich, warum in Italien, Schweden, England und Polen plötzlich wieder Ressentiments gegen die Deutschen gepflegt werden. Sonja Zekri berichtet, wie Raubgräber die archäologischen Stätten im Irak verwüsten. Für Clemens Pornschlegel ist die Love Parade - dank Robbie Williams - wieder "in der historischen Normalität angekommen". Franziska Augstein erinnert noch einmal an den Leuna-Skandal, doch vergeblich - "15 Meter Akten" haben sich in Luft aufgelöst, die Bonner Staatsanwaltschaft wird die Ermittlungen wohl demnächst einstellen, befürchtet sie. Fritz Göttler meldet, dass der chinesische Filmregisseur Zhang Yimou (mehr hier) ein Museum abgeblockt hat, das die Poly Group ihm zu Ehren errichten wollte. Christina Weiss streicht Fördergelder für Ostdeutschland streicht, berichtet Steffen Krafft. Ulrich Deuter gibt der Bewerbung des Ruhrgebiets für den Titel "Kulturhauptstadt Europas" keine großen Chancen. In der Reihe "Briefe aus dem 20. Jahrhundert" wird ein 1914 geschriebener "Feld-Post-Brief eines kriegsfreiwilligen Kanoniers und Studenten der Philosophie" Hellmuth Falkenfeld an seinen Lehrer Heinrich Rickert vorgestellt.

Besprochen werden die Karnevalsoper "Torvaldo e Dorliska" bei den Rossini-Festspielen in Wildbad, die Schau "Neapel-Bochum-Rimini" im Westfälischen Industriemuseum Zeche Hannover, der Film "Großglocknerliebe", John Bocks Performance "ZeroHero" bei der "Grotesk!"-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter Hilary Putnams "The Collapse of the Fact", Karin Westerwelles Habilitationsschrift über die Imagination und die Kunst des Essays bei Montaigne, Frank Goosens Roman "Pokorny lacht" und Mirko Bonnes Gedichtband "Hibiskus Code" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende erklärt uns die Chansonsängerin Carla Bruni im Interview, wie ein Lied entsteht: "Ich habe vielleicht einen Rhythmus, der geht so: dada da dada da. Und dann fange ich mit beidem gleichzeitig an: mit einer Textzeile und einer musikalischen Phrase. Es ist ähnlich wie bei einem Kuss: Da weiß man auch nie, wer zuerst mit der Zunge im Mund des anderen war. Aber man weiß, dass da ein Kuss war." (Wie das im Ergebnis klingt, können Sie hier hören)

Weiteres: Henning Ahrens erzählt eine "Geschichte aus zukünftigen Kriegen". Willi Winkler zeichnet ein Sittenbild des Angestellten - geistig obdachlos, fremdbestimmt, bald wegrationalisiert. Benjamin Henrichs hat eine "philosophische Moselreise" flussabwärts unternommen, und Gerhard Matzig denkt über den Zusammenhang von Architektur und Entspannung nach.

FR, 12.07.2003

Im Feuilleton untersucht Peter Michalzik das Phänomen Matthias Hartmann, der als Intendant in Bochum über eine Ausweitung seines Etats verhandeln kann, während seine Kollegen im Rest des Landes nur noch Rückzugsgefechte führen können. Michalzik erklärt sich Hartmann als Gustaf Gründgens Urenkel: "Wie Gründgens leidet er vor allem darunter, dass die Bedeutung seiner Arbeit nicht anerkannt wird. Wie Gründgens deshalb auch mal Kortner sein wollte, so würde Hartmann am liebsten auch mal Castorf oder Marthaler sein. Er möchte jemand sein, der zu Beginn der Probe nicht weiß, wo sie ihn hinführt, der hier Erfahrungen macht, der hier wirklich Probleme durcharbeitet. Dabei ist Hartmann wie Gründgens einer, der die Affekte im Griff hat. Wie Gründgens ist Hartmann deshalb eine Figur, die den Fallen des Scheins, der Zwickmühle aus Inszenierung und Authentizität auch im Leben nicht entkommt. Vielleicht müsste man ein Lob der Gefallsucht schreiben, um Hartmann gerecht zu werden."

Weitere Artikel: Thomas Winkler schreibt ein ganz hübsches Porträt der Berliner Band Wir sind Helden, die Pop zum Protest machen wollte und nun in die Authentizitätsfalle zu geraten droht. "Darf man massenhaft Platten verkaufen mit Wetterei gegen Massenkonsum?" Klaus Bachmann berichtet aus Oostende, wie sich die Stadt mit dem Kulturfestival "2003Beaufort" den europäischen Touristen zu empfehlen versucht. Martin Krumbholz beklagt die Untergrabung der Sitten durch Politiker, Fußballspieler, Talkmaster, die eindeutig eine neue Dimension erreicht hat: "Sie heucheln nicht einmal mehr." 

Robert Kaltenbrunner denkt über Stadtentwicklung und Raumkonzepte nach, wobei er die Entwicklung der Stadt in einen unschlagbaren Vergleich fasst: "Bis zum Ende des Ancien Regime glich die Stadt einem gekochten Ei, wobei die Stadtmauern wie eine Eierschale eine äußerst dichte Mischung öffentlicher Gebäude, Handels- und Wohnhäuser umschlossen; bis zum Zweiten Weltkrieg war sie eher ein Spiegelei, wobei das Eigelb der alten Stadt vom Eiweiß der neuen, für das Industriezeitalter typischen Bezirke umgeben war, und über die letzten fünfzig Jahre hinweg haben wir uns hin zum Rührei bewegt." Und Renee Zucker widmet sich in ihrer Kolumne Zimt dem "King of Bob-Culture, his songwriting majesty" Bob Dylan, der sich für einen neuen Song offenbar zu eindeutig von einem Yakuza-Thriller hat inspirieren lassen.

In Zeit und Bild schildert Krystian Woznicki, wie die US Armee die Vorteile effizienten Denkens entdeckt und sich unter den Direktiven "Kreativität" und "Vernetzung" zu einem Global Player entwickelt: "Eine zeitgeistige Firmenphilosophie, hippe Werbeclips, vorbildlich-wegweisende Strukturen, die von Vernetzung, dezentralem Wissensmanagement bis hin zur Privatisierung reichen, sowie der Anspruch, weltweit präsent zu sein, lassen sie zum ökonomischen Vorbild avancieren, zu der Firma, die gegenwärtig die Standards in der Weltwirtschaft setzt. Diese Entwicklung dürfte insofern nicht verwundern, da Kriege nicht das Außen des globalen Kapitalismus, sondern immer schon dessen barbarisierte Innenseite waren. Doch was überraschen, ja beunruhigen muss, ist, dass diese Entwicklung nicht mehr irgendwo da draußen zwischen Angola und Kolumbien, sondern unter den Vorzeichen der New Economy in unserem unmittelbaren Umkreis eine kaum mehr greifbare Gestalt angenommen hat."

Navid Kermani erinnert sich in seiner Reihe "Vierzig Leben" an den tausendsaitigen Gehorsam und die blutigen Finger des Feridoun Zandschis. Besprochen werden Robert Calassos Essays "Die Literatur und die Götter", Richard J. Bernsteins Studie "Freud und das Vermächtnis des Moses" und Alan Sekulas Fotoband "Performance under Working Conditions" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). 

Im Magazin geht es um die Konkurrenz der Brüder Schumacher, brrrm, brrrm, um No-Limit-Poker in Las Vegas, um Stierkampf in San Sebastian und um den litauischen der zahlreichen Mittelpunkte Europas.

NZZ, 12.07.2003

Im Feuilleton unterhält sich Joachim Güntner mit Adolf Muschg über sein neues Amt als Präsident der Berliner Akademie der Künste. " Ich möchte keine einvernehmliche Akademie. Sie muss die Hände, die sie füttern, auch beißen", sagt er. Interessant auch, wie er das "Berliner Dilemma" definiert: "Berlin ist ja eine Stadt, der die geschichtliche Basis weggebrochen ist. Die aristokratische ohnehin, aber die großbürgerliche des 19. Jahrhunderts und die industrielle weitgehend auch. Aus der Zusammenlegung zweier Schaufenster - Westberlin und die sogenannte Hauptstadt der DDR - kann nicht plötzlich eine Produktionsstätte werden, die einen beliebigen Mehrwert für Kultur abwirft. Andererseits ist Kultur die Ressource Berlins geworden, der Rohstoff, mit dem es wuchern muss."

Besprochen werden eine Ausstellung über Ferdinand I. im Wiener Kunsthistorischen Museum, ein Brahms-Zyklus mit Wolfgang Sawallisch bei den Zürcher Festspielen und Carlos Sorins Film "Historias minimas".

Sabine Haupt schildert ferner erbitterte Reaktionen auf ein Westschweizer Mathematik-Schulbuch, in das der Karikaturist Barrigue einige recht grobe Mathematiker-Karikaturen einstreuen durfte

Literatur und Kunst wird durch einen Essay Martin Meyers über den Band "Augenzeugenschaft" des Historikers Peter Burke eröffnet. Klaus Bartels meditiert über Pietro Bembos Grabinschrift für den Maler Raffael in Rom. Judith Klein stellt Helene Cixous als "poetische Prosaistin" vor (und liest dafür einige nur auf französisch erschienene Bücher der Autorin). Christine Wolter stellt das Archivio dei Diari in der toskanischen Stadt Pieve di Santo Stefano vor, ein Archiv mit über 4.000 Tagebüchern, die hier von jedermann eingesandt werden können und die so zu einem "wahren Schatz menschlicher Erfahrungen eines ganzen Volkes" anwachsen.

Besprochen werden die (nur französisch vorliegen) Schriften der Fotografin Claude Cahun, das von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene "Museum der modernen Poesie" (mehr hier) und Novellen von Annie Saumont (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 12.07.2003

Von der "Lust am Geschichtenerzählen" in den Zeiten der weinerlichen Selbstbezogenheit schwärmt Claudia Gass in ihrem Doppelportrait der Theaterautoren Andreas Sauter und Bernhard Studlar (mehr hier). Und liefert gleich ein Beispiel aus ihrem Stück "A. ist eine Andere": "'Ich hielt den Mund. Und den Kranz. Die ganze Fahrt. Die Urne zwischen den Beinen. Bongo fuhr wie ein Irrer', berichtet Ehemann Gerd von der Fahrt zur unkonventionellen Beerdigungszeremonie." Ungewöhnlich ist auch die Arbeitsweise der beiden: "In der Tat schreiben die zwei ihre Texte von der ersten bis zur letzten Zeile zusammen, beim Tippen wechseln sie sich ab."

Weitere Artikel: Claus Löser erklärt uns den "Nekrorealismus" des Filmemachers Jewgeni Jufit. Henning Kober deliriert über die Rave-Society. Und Dorothea Hahn erläutert die Hintergründe der Künstler-Streiks in Frankreich.

Im taz mag porträtiert Pia Grund-Ludwig die erste Polizistin in Deutschland: Henriette Arendt. Jan Feddersen spricht mit Caterina Valente über fünfzig Jahre im Unterhaltungsgeschäft. Und Johannes Winter erinnert an den Nazi-Beamten Gerhard Wander, der ein Schlupfloch in den Nürnberger Rassegesetzen nutzte, um in den Niederlanden Juden vor der Deportation zu retten.

Schließlich Tom.

FAZ, 12.07.2003

Robert Gernhardt (mehr hier) liest noch einmal - ein letztes Mal? - Erich Kästners Gedicht "Das letzte Kapitel" von 1930, in dem der Untergang der Menschheit für den heutigen Tag annonciert wird. Gernhardts Meditationen dazu: "Kein Zweifel - Kästners Visionen sind zum Teil von der Wirklichkeit eingeholt worden, und Kästner-Lesern ist das nicht entgangen. Das Gedicht, höre ich, wurde der Redaktion dieser Zeitung in den letzten Monaten ungewöhnlich häufig zugeschickt, unverlangt und unaufgefordert. Weshalb? Ich vermute, als Botschaft. Ihr Inhalt: Da sagt's mal einer!"

Weitere Artikel: Walter Haubrich berichtet, dass Fidel Castro die kubanischen Dissidenten weiter isoliert und jetzt europäischen Botschaftern drohte, "sie vom politischen Leben in Havanna völlig auszuschließen, wenn sie der Anregung der Europäischen Union folgten, auch weiterhin gezielt Dissidenten zu den Veranstaltungen an ihren Nationalfeiertagen einzuladen". Jordan Mejias meldet, dass Katharine Hepburn eine Gesprächsbiografie fertig im Schrank hatte, um sie unmittelbar nach ihrem Tode erscheinen zu lassen. "Kate remembered" heißt der von A. Scott Berg betreute Band, dessen Existenz jahrelang geheimgehalten wurde. (Hier ein Auszug aus dem Band) Andreas Platthaus erzählt in der Leitglosse die Geschichte des ehemaligen Chefkochs von Kim Jong-il, der sich nach Japan absetzt und dessen Memoiren "Kim Jong-ils Chefkoch" nun unter dem Pseudonym Kenji Fujimoto in Japan und Südkorea von sich reden machen.

Henning Ritter resümiert einen Vortrag des Kunsthistorikers Willibald Sauerländer über die Wirkungsstärke der Medienbilder und ihren Einfluss auf die heutige Kunst (mehr hier). Dietmar Polaczek tröstet uns über die jüngsten antideutschen Ausfälle: "Das italienische Halbjahr in der Europäischen Union mag politisch problematisch werden - langweilig wird es nicht sein." Dieter Bartetzko freut sich über die Wiedereröffnung der römischen Villa borghese. Andreas Rossmann staunt über den Bonner Interimsintendanten Arnold Petersen, der sparte, ohne das Programm des Theaters auszudünnen. Rossmann meldet auch, dass Christoph Stölzl entgegen Gerüchten nicht als Museumsdirektor nach Köln gehen will. Joseph Croitoru liest osteuropäischen Zeitschriften, die sich mit dem politischen Status der Frauen in diesen Ländern befassen.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten wird Henning Ritters Laudatio auf den Historiker Wolfgang Schivelbusch zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises abgedruckt. Und Verena Lueken schreibt über das "grüne Bollwerk gegen die Barbarei der Welthauptstadt des Kapitals", den Central Park.

Auf der Medienseite schreibt Alexander Bartl über neueste Urteile zur Frage des Schutzes Prominenter vor Fotografen. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um Einspielungen von Kantaten Domenico Scarlattis, um den "Existentialisten-Rock" der Eels, um die neue CD des Liedermachers Bernd Begemann, um Brittens Violin-Konzert und Waltons Bratschenkonzet mit Maxim Vengerov und um Händel-Arien mit Lynne Dawson. Auf der Literaturseite wird unter anderem Machado de Assis' Roman "Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas" als Meisterwerk gefeiert.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des russischen Malers Ilya Repin im Saarland-Museum und Konzerte mit neuer polnischer Musik beim Festival International de Colmar, das glücklicherweise ohne Bühnenarbeiter auskommt und darum nicht bestreikt wird.

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Wapneweski ein Gedicht von Walther von der Vogelweide vor - "Owê daz wîsheit unde jugent"

"Owê, daz wîsheit unde jugent,
des mannes schoene noch sîn tugent
niht erben sol, sô ie der lîp erstirbet!
Daz mac wol klagen ein wîser man

(...)"