Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2003. Die FAZ greift nach reiflicher Überlegung in die Debatte um Ted Honderich ein. In der FR nennt Natan Sznaider Honderichs Buch "Nach dem Terror" einen Schandfleck für Suhrkamp. Auch die NZZ findet es grauenhaft. In der SZ empfiehlt der Bürgerrechtler Tom Hayden der amerikanischen Regierung einen Tyrannenmord im Irak. Die taz meldet sich aus Locarno. Die Zeit langweilt sich in Salzburg.

Zeit, 07.08.2003

"Die deutschen Industriekapitäne reisen wieder verstärkt nach Salzburg", meldet Claus Spahn. Wegen der Opern kann's nicht sein, die neuen Inszenierungen - Stefan Herheims "Entführung aus dem Serail" und erst David McVicars "Contes d'Hoffmann" - findet Spahn nämlich misslungen: Da kann das Sänger-Ensemble noch so erlesen sein, "da kann Kent Nagano die bräsigen Wiener Philharmoniker noch so sehr zu französischem Esprit animieren - so alt hat Oper in Salzburg schon lange nicht mehr ausgesehen."

Auch Peter Kümmel hat sich in Salzburg gelangweilt: der von Kresnik "globalisierungskritisch" inszenierte "Peer Gynt" ist ihm zu selbstzufrieden in seiner Amerikakritik. Da hat er mehr gelernt aus einem kleinen Zweikampf vor einem Salzburger Straßencafe: "Es ist eine beruhigende Salzburger Lehre, dass hier immer nur so lange gekämpft wird, bis einer 'Zahlen!' ruft."

Wohin dann? Nach Bayreuth, fordert Slavoj Zizek und erinnert an die von Habermas geforderte Wiederbelebung der Werte Kerneuropas: "Wenn es heute ein kulturelles Ereignis gibt, in dem sich diese europäische Tradition verkörpert, dann ist es Bayreuth."

Weitere Artikel: Jens Jessen grübelt, wie sich der Irak verwestlichen lässt: Müssen Politik und Wirtschaft vorangehen und die Kultur folgt, oder ist es in Wahrheit genau anders herum? Thomas E. Schmidt stöhnt angesichts des Baustopps von Günter Behnischs Neu-Altbau der Berliner Akademie der Künste über die "geradezu artistische Tolpatschigkeit" Berlins. Und Ralf Grötker porträtiert den Philosophen und Liberalismuskritiker Raymond Geuss, der gerade auf Deutschlandtournee ist.

Besprochen werden der dänische Film "Okay" mit der wunderbaren Paprika Steen, die neue CD von Kraftwerk, Joel Schumachers Film "Nicht auflegen!", Richard Perles vergriffener Roman "Hard Line" von 1992 und die Traversi-Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie.

Im Aufmacher des Literaturteils schreibt Susanne Mayer über Susan Sontags Essay "Das Leiden anderer betrachten" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 07.08.2003

Nach reiflicher Überlegung greift nun auch die FAZ in die Debatte um das Buch "Nach dem Terror" von Ted Honderich (mehr hier) ein. Der Suhrkamp-Verlag hat gestern nach Micha Brumliks offenem Brief in der FR und Habermas' Entschuldigung ebendort erklärt, das Buch nicht weiter verlegen zu wollen. Christian Geyer mag nicht entscheiden, ob Honderich Antisemit ist: "Er ist aber ein Propagandist für den palästinensischen Terror gegen Israel. Das Buch mit dem Titel 'Nach dem Terror' ist für Honderich ein Buch zum Anlass. Sein wirklicher Titel müsste lauten: 'Für den Terror'." Patrick Bahners nutzt in einem zweiten Artikel die Gelegenheit, um doch noch mal die Debatte um Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" aufzunehmen, die uns im letzten Jahr so prächtig unterhielt. "Wie konnte es geschehen, dass ein so schäbiges Buch im Suhrkamp Verlag erschien?" Und dies trotz der ausdrücklichen Weisung dieser Zeitung?

Weitere Artikel: Zhou Derong porträtiert den Schanghaier Verleger Ye Juelin, der die von der Kommunistischen Partei dominierte Verlagsszene der Stadt jüngst mit einem heftigen Thesenpapier angriff. Der Literaturhistoriker Peter Demetz porträtiert den amerikanischen, aber irgendwie auch österreichischen Autor John Wray, dessen Roman "Die rechte Hand des Schlafes" im letzten Jahr ein gewisses Aufsehen erregte. Heinrich Wefing freut sich um die Restaurierung des Barnsdall Parks in Los Angeles - jetzt muss nur noch die dort befindliche von Frank Lloyd Wright entworfene Villa vor dem Verfall gerettet werden. Jürg Altwegg meldet, dass Frankreich, schon aus Angst vor streikenden Kulturarbeitern, seinen Kulturetat erhöht.

Auf der Filmseite konstatiert Andreas Kilb in einem kleinen Essay, dass "Matrix 2" und "Terminator 3" in der gleichen Zukunft feststecken. Und Verena Lueken bespricht zwei Ausstellungen zum hundertsten Geburtstag O. E. Hasses. Auf der letzten Seite stellt Brita Sachs das Bamberger Künstlerhaus Villa Concordia vor. Wolfgang Sandner porträtiert die Sängerin Laura Aikin. Und Kerstin Holm hat in Moskau der karikaturhaft-radikalen Lyrik Eduard Limonows und anderer Nationalbolschewisten gelauscht. Auf der Medienseite stellt Dietmar Dath die amerikanische Serie "24" vor, die neue Maßstäbe in der Seriendramaturgie setzt und trotzdem von einem deutschen Privatsender gekauft wurde.

Besprochen werden Joel Schumachers Film "Nicht auflegen!" (eine "raffiniert choreographierte Kammeroper für vier Kameras", schwärmt Verena Lueken), eine Ausstellung mit Franz-Liszt-Fotos in der Villa Wahnfried, eine Richard-Artschwager-Ausstellung in Krefeld und Mark Tompkins' Tanzspektakel "Song and Dance" in Wien (Wiebke Hüster ist entzückt: der Abend war "so leicht und extravagant wie die musikalische Komödien der dreißiger Jahre, so mitreißend und exzessiv wie ein Rockkonzert, so phantastisch und bewegt wie einst die Shows von Prince").

FR, 07.08.2003

Die Debatte um Ted Honderichs umstrittenes Buch "Nach dem Terror" geht weiter. Der israelische Autor Natan Sznaider geißelt in seinem Kommentar alle Beteiligten der "Gewaltfantasien" gegen Israelis: Erstens den Suhrkamp-Verlag, für den die Veröffentlichung ein "Schandfleck" der eigenen Geschichte bleiben werde. "Für das bildungsbürgerliche Lesepublikum von Suhrkamp ist das alles vielleicht hoch spannend. Was spielt überhaupt noch eine Rolle, wenn die globale Schickeria sich im Sessel zurücklehnt und sich durch den Nahostkonflikt unterhalten lässt?" Zweitens Jürgen Habermas, dessen "Drehungen" ihn in den Augen auch vieler nichtjüdischer Menschen suspekt gemacht haben. Drittens natürlich Honderich, der "offen für den Mord an Israelis plädiert" und das Ganze dann auch noch als Ethik bezeichne. "Sogar die Hamas würde da laut lachen. Denn sie wissen genau, was sie dazu antreibt. Nicht die schlechte Lebensqualität, wie Honderich so philosophisch traktiert, kein marxistischer Determinismus, der Menschen zu Verzweiflungsaktionen antreibt (so die ersten Kapitel des Honderich-Traktats), sondern schlichter Judenhass. Und das ist es auch, was hinter diesem Buch steht." Dazu wird gemeldet wird dazu, dass Suhrkamp das Buch nicht wieder auflegen will.

Peter Michalzik liefert eine kleine Chronik des Untergangs der Städte, unausweichlich und verschuldet von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. "Die wirkliche Stadt wird sich zwischen der Global City und der Telepolis im Nichts auflösen und bald nur noch als Vorbild einer virtuellen Realität denkbar sein. Denn niemand fühlt sich mehr für die alte Stadt zuständig, niemand wird es gewesen sein. Es wird einfach so passieren."

Weiteres: In ihrer Gerichtsreportage erzählt Verena Mayer die Geschichte von Peter B., der seiner Frau half, sich umzubringen, selbst aber daran scheiterte und sich nun wegen Totschlags verantworten muss. In Times mager schwant Gunnar Lützow Übles, wenn Berlin sich jetzt als coole Kapitale bezeichnet. Auf der Medienseite gratuliert Katrin Wilkens gewohnt unterhaltsam dem vielbeschriebenen Bild-Kolumnisten Franz Josef Wagner, dem "mit dem Überschriftenkrebs", zum Sechzigsten. Detlev Brechtel weiß auch nicht genau, was Haim Saban mit ProSieben und Sat1 anfangen wird.

Besprochen wird Joel Schumachers Telefonzellen-Thriller "Nicht auflegen", eine Ausstellung mit Installationen des österreichischen Künstlers und Institutionenkritikers Heimo Zobernig in Düsseldorf sowie diverse gelungene Pianokonzerte junger Musiker auf dem Klavierfestival Ruhr.

NZZ, 07.08.2003

Dass der Suhrkamp Verlag die Schrift des britisch-kanadischen Philosophen Ted Honderich "Nach dem Terror" nicht wieder auflegen wird, dürfte Andreas Breitenstein zufriedenstellen. Denn auch er meint, dass eine Rechtfertigung des palästinensischen Terrors in der "edition suhrkamp" nichts zu suchen hat. "Ted Honderich entblödet sich nicht, sich, gestützt auf seinen revolutionären Masterplan von der Verbesserung der Welt, zum Herrn über Leben und Tod aufzuspielen. Es wäre untertrieben, solche Darlegungen nur als geschmacklos zu bezeichnen. Intellektuelle Dürftigkeit verbindet sich hier mit monströser Selbstherrlichkeit." Breitenstein sieht in Honderichs Schrift jedoch ein Symptom: "Seine Publikation fällt in eine Zeit, da viele deutsche Intellektuelle im Nachgang zum Irak-Krieg einmal mehr daran werkeln, die moralischen Unterschiede zwischen der Bush-Administration und der Terrororganisation Al Qaida einzuebnen und das 'Imperium' der USA zur Wurzel allen herrschenden Übels zu erklären" (mehr zur Debatte hier und hier).

Ansonsten gibt es Rezensionen. Besprochen werden die Ausstellung "Auf eigene Gefahr", die die Frankfurter Schirn zu einer "Kampfzone des persönlichen Risikokalküls" ausdehnt, und Bücher, darunter Schriften von D. C. Dennett über die Freiheit und von M. Tomasello über die Sprache, Christian Müllers Biografie Graf von Stauffenbergs und ein Sammelband zu "Nachhaltigkeit und Denkmalpflege" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.08.2003

Anke Leweke meldet sich kinotrunken von den Filmfestspielen in Locarno, die ihre Retrospektive diesmal dem Jazz im Kino gewidmet haben. "Ein wahres Juwel der Reihe ist "St. Louis Blues" von 1929, enthält er doch die einzigen Filmaufnahmen der legendären Sängerin Bessie Smith. Dudley Murphys Kurzfilm versteht sich als Verneigung vor der "Empress of the Blues" und der noch jungen Kunstform. Wenn sich Bessie Smith ein Bier hinter die Binde kippt und dabei Leid und Trauer über ihre unglückliche Liebe in einem Song ausschüttet, dann scheint ihr Gesang aus dem tiefsten Inneren einer geschundenen Seele zu kommen, dann ist ihr wuchtiger wogender Körper ein einziger Blues."

Auf der Tagesthemenseite erfahren wir von Jutta Hees, wie in Ströbeck in Sachsen-Anhalt jahrhundertelang alle verrückt nach Schach waren, wann das Spiel zum Schulfach wurde und warum nun keiner mehr ans Brett will.

Auf der Medienseite erwartet Heiko Dilk von Haim Sabans ProSiebenSat1-Übernahme mehr Konkurrenz auf dem deutschen Fernsehmarkt. Arno Frank gratuliert dem notorischen Bild-Täter Franz-Josef Wagner zum sechzigsten Geburtstag.

Die Besprechungen widmen sich Joel Schumachers Suspense-Thriller "Nicht auflegen" und Jesper W. Nielsens behaglicher filmischer Komödie "Okay".

Schließlich Tom.

SZ, 07.08.2003

Der amerikanische Autor und Bürgerrechtler Tom Hayden empfiehlt seiner Regierung einen baldigen und perfekt inszenierten Tyrannenmord im Irak, bevor die Kriegsstimmung in Amerika kippt. "Um möglichst viele Zuschauer zu erreichen, wird es wahrscheinlich an einem Werktag in allen Zeitzonen übertragen werden, so vermeidet man die leidige Konkurrenz mit den Sportereignissen des Wochenendes. Brandopfer sowie die triumphale Enthüllung des Leichnams müssen dazu gehören, schließlich geht es um ein 'Blutritual', eine 'Beschwörung der Kameradschaft' im verunsicherten Amerika."

Willibald Sauerländer betrachtet mit Sorge, wie die Provinz ihre Kulturschätze von den Metropolen zurückfordert. "Noch in den kleinsten Städten wird musiziert, eröffnen Ausstellungen und Heimatmuseen, finden Tagungen und historische Feste statt. Die Kultur ist aufs Land gegangen." Diese Entgrenzung kann nur schaden, findet Sauerländer, in Paris ebenso wie in München und Dresden. Denn "die Metropolen haben die Landesteile ja nicht nur ausgesogen und geplündert, sie haben sie auch bereichert und erleuchtet. Dank seiner Sammlungen wurde Paris, um ein Wort Paul Valerys zu gebrauchen, zur Idee und Essenz Frankreichs. Es hat den Provinzen viel genommen, aber mehr noch gegeben."

Eine neue Reihe untersucht die derzeitige Völkerwanderung in Deutschland, die Bevölkerungswissenschaftler mit jenen des Dreißigjährigen Krieges vergleichen, wie es in der Vorrede heißt. Sonja Zekri schildert im ersten Teil den Exodus aus den neuen Bundesländern. "Wie soll man die Leute auch halten - bei Löhnen unter Osttarif, bei Firmen, die dem Bewerber mitteilen, in den ersten Monaten könne man natürlich kein Gehalt zahlen, bei einer Arbeitslosigkeit von 22 Prozent im Winter?"

Weitere Artikel: Alexander Kissler würdigt das Projekt 1000 Fragen der Aktion Mensch, das heute endet. "jby" hält die Verzögerungen beim Neubau des Akademiegebäudes am Pariser Platz für ein typisches Berliner Meisterstück. Alexander Kissler weiß, wie man mit Terror Geld verdienen kann: einfach in den Fonds des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani investieren. C. Bernd Sucher lässt uns in seiner Kolumne von den Salzburger Festspielen am Rätselraten teilhaben. "vobr" klärt in der Teddy-Bär-Kolumne, warum Amorbach bei Adorno eine so große Rolle spielte. Gemeldet wird, dass Suhrkamp Ted Honderichs umstrittenes Buch "Nach dem Terror" nicht mehr verlegen wird und dass der österreichische Historiker, Kunstkritiker und Kurator Robert Fleck neuer Direktor der Hamburger Deichtorhallen wird.

Ansonsten geht es ums Kino: Anke Sterneborg durfte sich mit "Phone Booth"-Star Colin Farrell unterhalten, der freimütig gesteht: "Als ich Al Pacino zum ersten Mal begegnete, habe ich mir fast in die Hosen gemacht." Fritz Göttler verliert ein paar Details über den sehnlichst erwarteten neuen Ingmar-Bergman-Film "Saraband". Für das Star-Album porträtiert Susan Vahabzadeh diesmal Kiefer Sutherland.

Auf der Medienseite stellt uns Cathrin Kahlweit Barbara Dickmann vor, die neue Chefin von "Mona Lisa". Peter Burghardt erinnert an den kubanischen Journalisten Raul Rivero, der als "Konterrevolutionär" 20 Jahre Gefängnis auf Kuba vor sich hat (mehr hier und hier). Senta Krasser annonciert einen Arte-Themenabend über die italienische Krimiszene.

Besprochen werden eine Ausstellung im italienischen Sant'Anna, wo Oliviero Toscani seine Fotografien der Überlebenden des berüchtigten SS-Massakers im gleichen Ort zeigt, John Stockwells weiblicher Surferfilm "Blue Crush", Jesper W. Nielsens vergnüglich eindringliche Komödie "Okay", die misslungene Aufführung der "Fledermaus" von Johann Strauß auf dem Glyndebourner Opernfestival, und Bücher, darunter Frederic Spotts' aufschlussreiche Studie über "Hitler and the Power of Aesthetics", Claudia Kopperts erstklassiger Roman "Allmendpfad" sowie Lydia Hausteins Einführung in die "Videokunst" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).