Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2003. In der FAZ graust es Mario Vargas-Llosa vor der schiitischen Frömmigkeit im Irak. Die NZZ sucht in afrikanischer Literatur nach einer Antwort auf die Frage, ob Afrika ein Hort der Gewalt sei. Die taz fährt mit der Bimmelbahn durch den Themenpark des Philly-Souls. In der FR macht sich der Rechtsphilosoph Günter Frankenberg Gedanken über die europäische Zivilgesellschaft. Die SZ beschwert sich: Entweder die Alten sind alt oder kreuzfidel. Beides zusammen geht nicht gut.

FAZ, 13.08.2003

Der peruanische Autor Mario Vargas-Llosa (mehr hier und hier) hat einige Wochen im Irak verbracht und veröffentlicht heute eine eindringliche Reportage aus den schiitischen Städten Nadschaf und Kerbela, wo er dem Ayatollah Hakim (hier die offizielle Website) - einer durchaus düsteren Erscheinung - und einer feindseligen Bevölkerung begegnete. Angesichts der konvulsivischen Glaubensbezeugungen in den Moscheen verbietet er sich selbst einen Vergleich mit Lourdes oder Fatima: "Ist es das gleiche? Ich glaube nicht. Die großen katholischen Wallfahrtsstätten sind wie hemmungslose Kommerz- und Touristikunternehmen des Glaubens, was diesen banalisiert und ungefährlich macht. Das ist hier nicht der Fall. Hier ist der Glaube rein, echt, uneigennützig, extrem; das einzige, was viele dieser von Elend und Armut gebeutelten Menschen, die weinend und schreiend beten, in ihrem Leben besitzen. Und dieser unbedingte Glaube kann von einem charismatischen Ajatollah, wie dem von mir in Nadschaf besuchten, leicht in Gewalt, in einen Heiligen Krieg oder Kreuzzug, umgelenkt werden."

Weitere Artikel: Mark Siemons vermisst pünktlich zum 13. August echte Mauermonumente in Berlin, die die Monstrosität dieses Bauwerks erahnen lassen: "Im munter neutralisierten neuen Berlin ist die so nah in die Gegenwart hineinragende Wirklichkeit des Staatsterrors kaum mehr zu erahnen." "miga" amüsiert sich in der Leitglosse über die SPD-Politikerin Andrea Nahles, die eine "Säkularisierung" ihrer Partei befürchtet, nachdem Olaf Scholz einen Abschied von der Vision des "demokratischen Sozialismus" forderte. Joseph Croitoru liest israelische und arabische Zeitschriften, die sich mit dem Zaun in Israel auseinandersetzen. Jürg Altwegg berichtet, dass sich die neue konservative Mehrheitspartei in Frankreich, die den an eine lateinamerikanische Bananenrepublik gemahnenden Titel "Union de la majorite presidentielle" trägt, mit einer Parteienstiftung ausstatten will, um ihren Einfluss weiter zu festigen.

Auf der Medienseite setzt Erna Lackner die Serie über die öffentlich-rechtlichen Sender dieser Welt mit dem Beispiel Österreichs fort. Auf der Stilseite feiert Oliver Jungen das fünfzigste Jubiläum des Liederbuchs "Die Mundorgel". Auf der letzten Seite erinnert Hannes Hintermeier an den österreichischen Katholiken Franz Jägerstätter, der den Wehrdienst verweigerte und von den Nazis hingerichtet wurde - heute wird er als Heiliger verehrt. Andreas Platthaus porträtiert den französischen Kunsttheoretiker und -funktionär Michel Laclotte, der sich um die Dezentralisierung in den französischen Museen verdient macht. Jochen Staadt findet an den neuerlichen, in der Welt vorgebrachten Enthüllungen über Günter Wallraffs angebliche Stasi-Mitarbeit nichts Neues und Beweiskräftiges. (In der heutigen Welt macht Wallraffs ehemaliger Verleger Hannes Schwenger dem Autor Vorwrüfe: "Günter Wallraff kennt die Spielregeln der Tarnung und Konspiration wie kein anderer - und will sie ausgerechnet in Ostberlin vergessen haben? ")

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Tschechows "Möwe" in Edinburgh ("er hält sich dieses blutkomische Drama der Verzweifelten mit vornehm desinteressiert spitzen Fingern vom Leib", schreibt ein enttäuschter Gerhard Stadelmaier), Francois Ozons Film "Swimming Pool" und das Festival "Mitte Europa" in Franzenbad mit Barockopern von Jiri Antonin Benda.

NZZ, 13.08.2003

Oft genug ist Afrika als "Hort der Gewalt" beschrieben wurden. Janos Riesz hat sich europäische und afrikanische Literatur daraufhin angesehen, wie sie sich der Frage nach den Ursachen der Gewaltsamkeit stellen. Dabei stellt Riesz unter anderem zwei afrikanische Autoren vor. "Es gibt durchaus auf afrikanischer Seite, in literarischen Texten vor allem, ein Nachdenken über die endogenen Ursachen von Gewalt und Grausamkeit auf dem Kontinent. In zwei Romanen togolesischer Autoren, die seit über 10 Jahren im europäischen Exil leben, wird die Problematik in Form eines Berichts über eine Reise zurück ins 'Land der Geburt' behandelt. In dem preisgekrönten 'La Fabrique de Ceremonies' des in Frankreich lebenden Kossi Efoui erscheint die Gewalt quasi mechanisch, von jeder Ursache abgelöst, der afrikanische Kontinent als Abenteuerspielplatz für Amerikaner und Europäer, die auf starke Sensationen aus sind. In dem Roman 'Lisahohe' des in Deutschland lebenden Theo Ananissoh wird die Erforschung der Vergangenheit vor allem mit Blick auf die Ereignisse nach der Implosion der Sowjetunion und den gescheiterten Demokratisierungsversuchen nach 1990 betrieben."

Weiteres: Andreas Maurer berichtet vom Internationalen Filmfestival Locarno. Andrea Köhler fragt, ob Arnld Schwarzenegger Chancen hat, Kaliforniens "Governator" und später vielleicht sogar Amerikas erster österreichischer Präsident zu werden.

Besprochen werden eine Dokumentation über Lateinamerika von Michael Wood "Auf den Spuren der Konquistadoren", Ulf Stolterfohts Gedichtband "fachsprachen X-XVIII" und Peter Kurzecks neuer Roman "Als Gast" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 13.08.2003

Harald Fricke porträtiert den Cellisten und Arrangeur Larry Gold, der in den Sixties einer der Erfinder des orchestralen Philly-Souls war und seit 1995 wieder groß im Geschäft ist: Die jetzt erschienene CD "Larry Gold presents Don Cello and Friends" (hier zwei Hörproben) ist, so Fricke, "eine Bimmelbahnreise durch den Themenpark des Philly-Soul, doch auf der Tour sind eine Menge Helden der Gegenwart dabei: Mit Black Thought, dem Frontrapper der Roots, hat Gold ein orchestral flirrendes Remake des Tanzflächenstompers 'Aint no stopping us now' aufgenommen, das elastisch unter der Discokugel schwingt, als hätten die starren Beats und Loops von House oder Street-Soul dort nie wirklich Fuß gefasst."

In der Serie "Streifzüge durch Europa" anlässlich der geplanten Erweiterung der EU 2004 berichtet Uwe Rada heute aus der polnisch-ukrainischen Grenzstadt Brest. Er stellt fest: "Jedes Land hat seinen Osten. Deutschland hat die ehemalige DDR, in Ostdeutschland dagegen liegt der Osten schon in Polen. In Polen wiederum ist alles Osten, was östlich der Weichsel liegt, also arm und rückständig ist und in den Zeiten der Teilung russisch war. Und auch in Weißrussland gibt es einen Westen - die Regionen, die einmal polnisch waren - sowie den (schon immer russischen) Osten."

Weitere Artikel: Henrike Thomsen porträtiert das Kunstarchiv des brandenburgischen Städtchens Beeskow, in dem riesige Bestände an DDR-Auftragskunst lagern - die in letzter Zeit immer häufiger nachgefragt würden. Und der stellvertretender Chefredakteur der Russischen Nachrichtenagentur Nowosti, Boris Kaimakow, kommentiert russisch-tschetschenische Befindlichkeiten nach dem jüngsten Selbstmordanschlag: "Wie Israel braucht Tschetschenien offenbar eine 'Roadmap', denn offenbar haben sich alle verlaufen."

Schließlich Tom.

FR, 13.08.2003

Der Frankfurter Rechtsphilosoph Günter Frankenberg analysiert die europäische Zivilgesellschaft als eine zunehmend "fragwürdige Ständestruktur", die eher als "raffiniertes Regierungswesen" funktioniere denn als Demokratie. Gleichwohl spricht er eine Entlastung aus: weder die europäische noch die globale Zivilgesellschaft "sollten daran gemessen werden, ob sie den Interessen mächtiger Staaten und multinationalen Unternehmen ein neues Recht entgegen zu setzen oder gar die extrem ungleiche Verteilung des globalen Wohlstands zu korrigieren vermögen. Ihre Aufgabe ist es, Missstände zu skandalisieren, nicht unbedingt die Welt zu retten.

Weitere Artikel: Peter Neitzke unterzieht Zaha Hadids 1999 für die Landesgartenschau in Weil am Rhein gebauten Pavillon einer Re-Vision. In einem Interview resümiert der Generaldirektor der staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Martin Roth, noch einmal die Flutkatastrophe des vergangenen Jahres und deren Folgen. Und in Times mager kommentiert Silke Hohmann das Gerangel um die geplante RAF-Ausstellung der Berliner Kunstwerke.

Besprochen werden der Film "Whale Rider" der neuseeländischen Regisseurin Niki Caros und zwei Ausstellungen in Wien: eine umfassende Werkübersicht des italienischen Manieristen Parmigianino im Kunsthistorischen Museum und ebenfalls dort ist eine Schau mit Gemälden und Fotografien über die "Brücke von Mostar" als Symbol zu sehen (mehr Informationen hier).

SZ, 13.08.2003

Burkhard Müller fordert eine Neuauslegung des Generationenvertrags. Müller entwickelt seine Argumentation aus einem der kürzesten Märchen der Brüder Grimm -"Der alte Großvater und der Enkel" - und kommt zu dem Schluss: "Man muss dem Wort 'alt' wieder die Bedeutung zurückerstatten, die es einmal hatte, das heißt: aus Altersschwäche unfähig, seinen Teil für das Ganze zu leisten, und darum ganz und gar von fremder Hilfe abhängig; steinalt, wie das Märchen sagt. Den Hilflosen zu helfen, das ist der Sinn aller Versicherungen. Dass aber einer, wie es heute oft geschieht, mit achtundfünfzig Jahren in den Vorruhestand tritt, frisch an Leib und Seele, und dann weitere fünfunddreißig Jahre schlechterdings gar nichts mehr zu tun braucht als fidele Radtouren rund um den Bodensee zu unternehmen, gut versorgt und jeder Verantwortung ledig: Das kann auf die Dauer nicht gut gehen."

Ulrich Kühne resümiert ein Gutachten, das in "21 Belegen" auflistet, wie die US-Regierung die Wissenschaften "manipuliert, infiltriert und verfälscht". Ein Beispiel: "Aufgrund ihrer ideologischen Voreingenommenheit habe die Bush-Administration die Lehrer angewiesen, im Unterricht ausschließlich die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe als probates Mittel gegen Sexualkrankheiten und ungewollte Schwangerschaften zu behandeln - als habe man noch nie etwas von Kondomen gehört."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Ulrich Holbein durchwatet das "Wechselbad der gefühlten und erinnerten Temperaturen" ("Von der Nordpolschmelze zum Reisanbau an der Donau - nur ein kleiner Schritt, aber ein großer vom Schwitzen zum Schlottern"). "bgr" stellt die "Gesellschaft zur Stärkung der Verben" vor, eine "Anlaufstelle für schwache und geknochtene Verben, denen der Weg in die Unregelmäßigkeit erlirchten werden soll." "dip" begrüßt die Rettung des Etats der Kölner Bühnen, "alex" sorgt sich um die Folgen der zunehmenden "Vergreisung" des Weltalls, und C. Bernd Sucher erzählt vom Theaterbazar Salzburg die Geschichte einer "höflichen Rache".

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Tschechows "Möwe" in Edinburgh, die Jazzoper "The Magic of a Flute" von George Gruntz auf dem Hamburger Kampnagel, Valery Gergievs Aufführung der Saint-Saens-Oper "Samson et Delila" bei den Salzburger Festspielen, eine Ausstellung deutscher Zeichnungen zwischen Barock und Romantik im Frankfurter Städelmuseum und zwei Filme: "Swimming Pool" von Francois Ozon (hier) und "Das Wunder von Bern" von Sönke Wortmann (hier).

Und natürlich Bücher, darunter Elias Canettis Nachlasswerk "Party im Blitz", ein Sammelband über Kapitalismus als Religion, ein Roman über Albert Einsteins Gedankenexperimente, die neue Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "fundiert" (mehr hier), eine Studie über den "Liberalismus nach dem Ende des Kommunismus" sowie zwei Bände über die Strukturen und Arbeitsweisen von Al Qaida (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).