Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.08.2003. Die NZZ feiert den Autor Juri Andruchowytsch aus Iwano-Frankiwsk, der so "spannend-weltläufig" über seine Heimat schreibt, "dass wir über unsere eigene Provinzialität erschrecken". In der FR fordert Claus Leggewie einen europäischen Imperialismus. In der taz spricht Regisseur Martin Wuttke über ferne Kriege, die ihm so nah sind. In der SZ prangert Sonja Margolina die Gleichschaltungspolitik der "Tschekisten um Putin" an.

SZ, 19.08.2003

Sonja Margolina warnt davor die Gleichschaltung des renommierten Meinungsforschungsinstituts Wziom in Moskau als Fußnote zu betrachten. Gegründet von Juri Lewada hat es bereits zur Zeit der Perestroika Verdienste erworben, schreibt sie. "Obwohl es nicht gewinnorientiert arbeitet, wird es in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, 'privatisiert' - und zwar vom Staat, der alle Aktien behält. Aktionäre sind Vertreter der Ministerien und der Präsidialadministration; Lewada und seine Mitarbeiter sind im Vorstand nicht mehr vertreten. Gerüchten zufolge waren die Tschekisten um Putin erbost, dass bei den neuesten Wziom-Umfragen die Regierungspartei 'Einheit Russlands' am schlechtesten abgeschnitten hat und weniger als ein Drittel der Bevölkerung den Tschetschenienkrieg befürwortete, während über 60 Prozent der Befragten für Verhandlungen mit den Terroristen eingetreten sind." (Siehe dazu auch den Kommentar in der Literaturnaja Gazeta).

Die Krisenherde, so der Befund von Willi Winklers historischem Streifzug, sind offenbar ein englische Spezialität. All die Konflikte in Afghanistan, Indien, Pakistan und im Nahen Osten entzündeten sich bereits im British Empire. Winklers - guter Lektüre entlehntes - Fazit: "Großbritannien hat mit seinem Kolonialreich 'die moderne Welt geschaffen', wie Niall Ferguson im Untertitel seines Buches 'Empire' erklärt. Die USA drängten schließlich darauf, dass England auf seine Kolonien verzichtet. Die Kolonien sind fort, der Schaden bleibt. 'Die Ursprünge eines Imperiums sind oft Anlass für Kummer; seine Auflösung immer', heißt es bei Evelyn Waugh."

Weiteres: Vor dem Hintergrund des umstrittenen Berliner RAF-Ausstellungsprojekts resümiert Jürgen Busche die RAF-Prozesse als den "Ernstfall für die deutsche Justiz". In einem Interview erklärt ein Rosenheimer Reiseveranstalter, weshalb er trotz Geiseldramen wieder Anmeldungen für Abenteuerfahrten in die Wüste hat ("Auf der Autobahn kann man auch verunglücken"). "sus" erklärt, warum die US-Kinos trotz Stromausfall Kasse machten. In der Kolumne Zwischenzeit räsoniert Evelyn Roll über die Bedeutung des Daumens in Zeiten von SMS etc. und "lmue" wundert sich über Umfrageergebnisse von "Marie Claire".

Besprochen werden die Ausstellung "Sound Systems" im Salzburger Kunstverein, die Uraufführung der Oper "die schöne wunde" von Georg Friedrich Haas in Bregenz, eine Aufführung von Monteverdis "Orfeo" in Innsbruck, Alvis Hermanis' lettische "Revisor"-Produktion im Rahmen des des "Young Directors"-Projektes bei den Salzburger Festspielen (hier) und die neue Version der "Palast Revue" von Max Raabe, derzeit am Hamburger Thalia-Theater.

Rezensiert werden auch Bücher, darunter Anatole Frances "kühler Boudoir"-Roman "Die rote Lilie", Christina Griebels Erzähldebüt "Wenn es regnet, dann regnet es immer gleich auf den Kopf", Adornos Vorlesungen über Negative Dialektik sowie eine kunstgeschichtliche Untersuchung der "Deschi da parto" in der Frührenaissance (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 19.08.2003

Claus Leggewie (mehr hierdenkt über die Demokratisierung der islamischen Welt nach und sieht den demokratischen Imperialismus der USA im Irak scheitern, während sich die Türkei im Banner Europas demokratisiert: "wenn Westeuropa sich nur ebenfalls als Empire betrachten und die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens als seine ureigene Mission annehmen könnte. Würden die Europäer das tun, könnten sie ein Exempel statuieren, wie man Demokratie mit gar nicht so sanftem Druck, aber ohne militärische Einmischung vorantreiben kann." Müssen wir den Irak dann in die EU aufnehmen?

Ina Hartwig wundert sich über die Allgegenwart der Themen "Frauen" und "Adorno" in den Feuilletons und greift der von Evelyn Roll in der SZ vom Wochenende avisierten "Herbstdebatte" schon einmal vor. So findet Hartwig es "rätselhaft, dass die antwortenden Damen, die bis eben noch vornehm im Gender-Sorbet herumstocherten, plötzlich wieder 'Frau' sein wollen und sich als solche bekennen, wo doch eben noch die Konstruiertheit alles Geschlechtlichen die Gemüter in begeisterte Wallung brachte. Hier stimmt etwas nicht. Beides war lange out - Frauen und Adorno -, und plötzlich ist beides wieder da."

Weitere Artikel: Hannelore Schlaffer denkt über die Konstruktion des "Inbegriffs von Lebensglück" in der Formation "alternder Mann mit junger Frau" nach. Michael Tetzlaffs Kindheitserinnerungen aus der Zone geben genaueste Einblicke in das Reglement von Ernteeinsätzen. In "Times mager" berichtet Petra Kohse von ihrem Besuch beim Tag der offenen Tür im Bundesverteidigungsministerium, und Sylvia Staude berichtet vom 15. Tanzfest Berlin.

Eine ausführliche Rezension beschäftigt sich schließlich mit den jetzt auf Deutsch erschienen Vorlesungen von Michel Foucault über das Anomale und den Staat (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 19.08.2003

In einem Interview erklärt Regisseur Martin Wuttke, der derzeit die "Perser" von Aischylos auf einem Flugzeughangar in Neuhardenberg inszeniert, inwiefern "auch der entfernteste Krieg" unsere Wahrnehmung verändere. "Ich glaube, dass das etwas mit unserer Lebensrealität und der Wahrnehmung des Krieges zu tun hat, der uns nicht unmittelbar betrifft - man sieht Bilder, dann geht man wieder einkaufen, kümmert sich um die Kinder, lebt weiter und ahnt doch, dass sich das Gefühlsleben der Gesellschaft ändert." Über das Stück von Aischylos und dessen Beziehung zum Inszenierungsort nahe der Seelower Höhen sagt er: "Das Ungewöhnliche an dem Stück von Aischylos, der an der Schlacht (von Salamis) auf der Seite der Griechen teilgenommen hat, ist, dass es aus der Perspektive der Besiegten erzählt wird. Man weiß plötzlich nicht mehr, wo Osten und Westen ist, wo haben diese Kriege stattgefunden, wer sind die Sieger, wer die Besiegten. Die Gedenkstätte der Schlacht bei den Seelower Höhen hatte noch bis zur Wende den Sieg der sowjetischen Armee und damit die Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus gefeiert.

Weitere Artikel: Gerrit Bartels kommentiert den allfälligen Hype ("jede Woche ein rasend wichtiges Buch"), der sich allmählich wirklich (oder hoffentlich?) totläuft. Und auf der Medienseite beleuchtet Carla Palm die Wichtigkeit von Landkarten für die Kriegsberichterstattung - die allerdings häufig "veraltet oder fehlerhaft und manchmal sogar bewusst manipuliert" seien. Und auf der Wahrheitseite erklärt Barbara Häusler, warum man keinesfalls nach Pullach fahren sollte, beziehungsweise ein Abstecher dorthin nachgerade vollkommen überflüssig ist.

Besprochen werden in der Sektion Bücher für Randgruppen ein ethnologisches Grundlagenwerk über die Schweizer Hochseeschifffahrt und Fridolin Schleys Erzählband "Schwimmbadsommer" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 19.08.2003

Ilma Rakusa feiert den ukrainischen Dichter, Romancier und Essayisten Juri Andruchowytsch ("Das letzte Territorium") aus Iwano-Frankiwsk, dem ehemaligen galizischen Stanislau, der so "spannend-weltläufig" über seine Heimat schreibt, "dass wir über unsere eigene Provinzialität erschrecken". "Um Anschaulichkeit nie verlegen, gibt Andruchowytsch Einblick in die 'Wodkazone', wo mit Begeisterung Russenpop gehört, wo Kaninchenfellmützen, weiche Wolltücher und sackförmige Trainingsanzüge getragen werden, wo Straßenmärkte europäische Secondhand zu Schleuderpreisen anbieten und das Schielen nach Westen nur billigen Supermärkten gilt. Wer kann, geht von hier weg. Andruchowytsch stellt dies mit einer gewissen Bitterkeit fest, ebenso wie die 'Vermüllung' des Westens, der seinen Glanz verloren hat, 'ohne von der Wärme des Ostens dazugewonnen zu haben'."

Weiteres: Barbara Villiger Heilig hat sich den Montblanc-Pen-Klub in Salzburg angesehen, den Wettbewerb der jungen Regisseure, bei dem offenbar großes Interesse an der "Vertierung des Menschen" herrschte. Martin Haag würdigt zum 250. Todestag den "mirakulösen" Barockbaumeister Balthasar Neumann (mehr hier oder auf den 50-Euro-Scheinen).

Besprochen werden eine Ausstellung zur Bildhauerei aus dem faschistischen Italien im Henry Moore Institute Leeds und Bücher, darunter zwei Rechtsgeschichten des christlichen Abendlandes, ein Band über die wichtigsten Couturiers und ein Lexikon zeitgenössischer Komponisten (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 19.08.2003

Der ehemalige FAZ-Herausgeber (und Sänger) Johann Georg Reißmüller fragt ohne ersichtlichen Anlass oder Aufbietung neuer Dokumente, ob General Friedrich Dollmann, Oberbefehlshaber der 7. Armee in Frankreich am 28. Juni 1944 auf Weisung Hitlers ermordet worden ist. Christian Geyer wundert sich, wie der jüngst verstorbene Idi Amin so umstandslos vom Völkermord in den saudiarabischen Ruhestand wechseln konnte. Andreas Kilb resümiert das Filmfestival von Locarno. Hans-Peter Riese besucht National Constitution Center in Philadelphia, ein Museum, das allein der amerikanischen Verfassung gewidmet ist. Werner Jacob besichtigt die vom Architektentrio Miller/Maranta/Conzett erbaute Markthalle im schweizerischen Aarau, welche sich rühmen kann, mit dem "Aargauer Heimatschutzpreis" ausgezeichnet worden zu sein (hier Eindrücke von der Einweihung der Markthalle). Gisela Haker stellt in der Reihe "Wir vom Bundesarchiv" einen Brief Helene Weigels an einen hohen Funktionär vor, den sie von der "Vernunft und Notwendigkeit des Gedankens", Gemüsekonserven für Kinder zu fertigen, zu überzeugen suchte

Auf der Medienseite bespricht Michael Hanfeld eine allen Ernstes im ZDF am Sonntag veranstaltete "Ostalgie-Show" als "Supergau des Unterhaltungsfernsehens". Und "aba." greift den Fall des von amerikanischen Soldaten im Irak erschossenen Reuters-Kameramanns auf.

Auf der Bücher-und-Temen-Seite liest die 1954 geborene Pia Reinacher eine Menge Bücher junger Schweizer Schriftsteller und konstatiert, was die nicht mehr ganz Jungen schon immer die Jüngeren konstatierten: "Junge Literaten sind zu Stichwortgebern des Zeitgeistes geworden, aber sie bedienen sich seiner natürlich auch." Gina Thomas berichtet über eine Polemik des britischen Autors Tibor Fischer, der sich erlaubt, das neue Buch seines etwas bekannteren Kollegen Martin Amis so schlecht zu finden, "dass man nicht wisse, wo man hinschauen soll".

Auf der letzten Seite berichtet Bettina Erche über die schwierige Zuschreibung angeblicher oder tatsächlicher Frühwerke van Goghs und verschiedene Streitigkeiten hierüber in den Niederlanden und Belgien. Michael Althen begibt sicht mit der Bild-Zeitung und der Primatologin Shelly Williams auf die Spur eine "neuen, mysteriösen Affenart, die den Körperbau eines Gorillas, aber die Züge eines Schimpansen hat, die nachts jagt, den Mond anheult und von den Eingeborenen 'Löwenkiller' genannt wird". Und Uwe Walter verweist auf einen Artikel des Catchers Jesse "The Body" Ventura, der heute Gouverneur von Minnesota ist und Schwarzenegger Tipps für die Gouverneurswahl in Kalifornien gibt.

Besprochen werden Stephen Lawless' Inszenierung der "Fledermaus" in Glyndebourne, eine Fotoausstellung Walter Mayrs zu Thomas Manns Novelle "Tonio Kröger" im Lübecker Buddenbrookhaus und eine Paul-Signac-Ausstellung in der Fondation Gianadda in Martigny.