22.08.2003. In der FAZ rät der Genetiker Steve Jones, mal in ein Glas Wasser zu ejakulieren und über das Ergebnis zu meditieren. Außerdem erleben wir, wie sich Gottfried Benns Großhirnrinde nach oben biegt. Die SZ hat Musiker weinen sehen: in Claudio Abbados Luzerner Festival-Orchester. Die NZZ bereist die kolumbianische Stadt Popayan. In der FR schaudert es den kubanischen Autor Rolando Sanchez Mejias vor der "behaarten, kalten Schnauze" des Traditionalismus.
SZ, 22.08.2003
Wolfgang Schreiber
jubelt über
Claudio Abbados neu gegründetes Luzerner Festival-Orchester: "Es entstand in Luzern so etwas wie ein
Familiengefühl musikalischen Gebens und Nehmens - neues Spiel, neues Glück für Musiker, die eigentlich nichts mehr erschüttern kann. Viele von ihnen waren überzeugt vom einzigartigen Elan solchen Musizierens, jemand sagte, er fühle sich auf dem Podium
wie in Trance, ein anderer wollte sich seiner
Tränen beim Musizieren nicht geschämt haben. Ein Hauptmotiv einte alle: 'Wir sind hier für Claudio Abbado'." Das Resultat: "Die Konzerte unter Abbados Leitung, gehören zum Dringlichsten, das ein abgebrühter Gewohnheitshörer vernehmen kann."
Schriftsteller
Georg M. Oswald (mehr
hier) hat die Urteile des
Münchener Landgerichts I fürchten gelernt, das kürzlich schon Autobiografien zu Sachbüchern erklärte und nun die Causa
Maxim Biller (mehr
hier) in der Hauptsache verhandelt: "Es ist der
Kurzschluss zwischen Erkennbarkeit und Persönlichkeitsrechtsverletzung, der den Fall 'Esra' so
bedrohlich für die Kunstfreiheit macht, denn so entsteht der Eindruck, es genüge schon, sich in einem Text unvorteilhaft dargestellt zu finden, um ihn verbieten lassen zu können."
Weiteres: Sonja Zekri
erzählt vom berühmt-berüchtigten
Hotel Moskwa am Roten Platz, in dem sich Pablo Neruda, Guy Burgess,
Jurij Gagarin und
Marschall Schukow von ihrem Kampf für die sowjetische Sache erholen durften. Nun soll es abgerissen und mit gleicher Fassade als Fünfsternehotel wiederaufgebaut werden. Dirk Peitz
fragt anlässlich neuer Hochhausvorhaben in
Köln: "Kann eine Stadt, die ohnehin zu den
unansehnlichsten der Republik gehört, dadurch noch unansehnlicher werden, dass man ihrer erratischen Silhouette ein paar Hochhäuser hinzufügt?" Eva-Elisabeth Fischer
unterhält sich mit der Berliner Performance-Künstlerin
Astrid Endruweit, die als
tanzendes Höllenschwein von sich reden gemacht hat. Volker Breidecker
amüsiert sich über den
Operngipfel, zu dem Gerhaud Schröder und Silvio Berlusconi heute versehentlich in Verona zusammentreffen werden.
Susan Vahabzadeh
bemerkt, dass Hollywood den bebrillten, schrulligen, von Natur aus hässlichen
Geek für sich entdeckt. Wolfgang Jean Stock
gratuliert dem Fotografen
Henri Cartier-Bresson zum Fünfundneunzigsten. "G.K."
schreibt einen Nachruf auf den Münchner Architekt und Städtebauer
Detlef Schreiber. Und auf der Medienseite
stöhnt Marcus Jauer über die
Ost-Shows.
Besprochen werden die
Schau von
Paul Klees Spätwerk in der
Fondation Beyeler bei Basel, die
Ausstellung zum großen russischen Maler
Ilja Repin in der
Alten Nationalgalerie Berlin und
Bücher, darunter die deutsch-französische
Lyrikanthologie "Vers Schmuggel / Mots de passe",
Steffen Kaudelkas Studie über die deutsche Rezeption französischer Geschichtswissenschaft ,
Manfred Ostens Goethe-Buch "Alles veloziferisch" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
NZZ, 22.08.2003
Knut Henkel hat sich von der Friseuse Dona Maria die Geschichte von
Popayan erzählen lassen. Die
"prächtige Kolonialstadt" war einst eine der reichsten und wichtigsten Städte Kolumbiens, heute erwacht sie nur noch während der
Osterprozessionen zu alter Größe, wenn die Touristen kommen. "Doch zum Leidwesen Dona Marias ist deren Zahl in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen. Immer öfter hält sie vor ihrem Salon vergeblich Ausschau nach Kundschaft. Die Region um Popayan gilt wegen des
Bürgerkriegs als gefährlich. Die Stadt ist nur noch über den Luftweg sicher zu erreichen. Außerhalb der Karwoche versinkt sie in einen Dämmerzustand."
Weitere Artikel: Heinz Stalder hat die estnische Schriftstellerin
Viivi Luik (mehr
hier) im luzernischen Willisau
besucht.
Otfried Höffe berichtet über den
21. Weltkongress der Philosophen in Istanbul. Hubertus Adam
schreibt zum Tod des britischen Architekten
Cedric Price. Roman Hollenstein
wünscht sich, dass der Bund die
Villa Favorita kauft, einen Herrensitz am Luganer See, den die derzeitige Besitzerin,
Baronin Thyssen-Bornemisza, in einen privaten Villenpark umzuwandeln droht. Und Sieglinde Geisel
warnt vor
Tätowierungen. Sonst wird man sich im Altersheim "dereinst an die f
altigen Totenköpfe gewöhnen müssen, die mit Flammengeloder und satanischem Blick von sterblichen Armen grinsen". Besprochen wird die
Ausstellung "Paradise" in der Londoner
National Gallery .
Auf der Filmseite
stellt Christoph Egger den Regisseur
Vincent Pluss vor, der für
"On dirait le sud" mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde. Besprochen werden der
Film "
Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl" mit
Johnny Depp,
Cristina Comencinis Film "Il piu bel giorno della mia vita" und die
Ausstellung "Innan Ingmar blev Bergman" (Bevor
Ingmar zu Bergman wurde, mehr
hier) mit Texten, Skizzen und Fotos aus den ersten Schaffensjahren 1938-46 im Bergman-Archiv in Stockholm
Auf der Medien- und Informatikseite
widmet sich Heribert Seifert ausführlich den
Verschwörungstheorien zu den Anschlägen vom
11. September. Und Konrad Lischka
stellt die
künstliche Intelligenz im Computerspiel "Republic" vor.
TAZ, 22.08.2003
Madeleine Bernstorff
berichtet, dass dem Londoner Filmverleih
Cinenova, der sich um experimentelle
Filme von Frauen verdient gemacht hat, das
Aus droht. Und anlässlich der neuen CD von
Blumfeld "Jenseits von Jedem" schreibt Andreas Merkels die
Kurzgeschichte "Beschreibung eines Kampfes" im Stile Franz Kafkas.
Besprochen werden die
Kompilation der
Neptunes "The Neptunes present Clones" und
T. C. Boyles neuer
Roman "Drop City" (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Auf der Meinungsseite
ist Christian Semler gar nicht damit einverstanden, dass die SPD den
"demokratischen Sozialismus" aus ihrem Programm streichen will. Schließlich sei er kein "
alter, tattriger Großonkel im Ideenhaushalt der sozialdemokratischen Familie", meint er, sondern die "dichte Konzentration von Gerechtigkeitsvorstellungen", schlicht: die
Solidarität, ohne die "die Postulate individueller Freiheit und Selbstbestimmung
gänzlich substanzlos" wären.
Schließlich
Tom.
FR, 22.08.2003
Der kubanische, seit 1997 in Barcelona lebende Schriftsteller
Rolando Sanchez Mejias (mehr
hier)
wirft einen Blick auf die derzeitige
kubanische Literatur, in der der
Nationalismus zur Zeit seine Wiedergeburt feiert. "Was ist los mit der kubanischen Intelligenzia, die sich um jeden Preis nationalisieren will? Was man versucht sein könnte, als nostalgische Note abzutun, gehört eigentlich zur
Krankheit der kubanischen Kultur. Selbstverständlich ist es eine Krankheit, die so alt ist wie die kubanische Kultur selbst. Die Krankheit, die ihre
behaarte, kalte Schnauze zeigt, die Panik im Land und im Exil verbreitet. Jedes Mal, wenn man
einen Toten auf sich zu kommen sieht, sollte man ihn fragen, was er will. Seine Antwort wird stets zuverlässig lauten:
Tradition."
Weiteres: Zur Angelegenheit
Ole von Beust erinnert Ulf Erdmann Ziegler daran, dass der homosexuelle Mann zu Hamburg gehört "wie die Brise, die von der Elbe her weht", und dass ein
homosexueller Mann nicht unbedingt
schwul ist. Käthe Trettin
berichtet vom
21. Weltkongress für Philosophie in Istanbul. Olaf Karnik
unterhält sich mit
Karlheinz Stockhausen, der heute fünfundsiebzig wird. Und Michael Rudolf hat das
Paradies gefunden: Es befindet sich "zirka
sechs Kilometer von hier entfernt, und zwar wenn man nach der zweiten Waldwegkreuzung links abbiegt".
Besprochen werden
Rick Famuyiwas Film "Brown Sugar" und politische Bücher:
Ferdinand Sutterlütys Untersuchung von "Gewaltkarrieren",
Hans Jörg Henneckes Blick auf "Die dritte Republik", Matthias Hambrocks
Studie zum
Verband nationaldeutscher Juden 1921 - 1935 und Ashti Marbens
Erinnerungen an ihr Leben im
Irak "Im Schatten des Diktators" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 22.08.2003
Begriffsstutzigen hilft die Unterzeile nach: Wir haben es mit einer
"literarischen Sensation" zu tun. Die
FAZ druckt
Gottfried Benns ersten Prosatext ab, der 1911 in der
Frankfurter Zeitung, "der Vorläuferin dieser Zeitung", erschien, und "Unter der Großhirnrinde" betitelt ist. Der Literaturwissenschaftler
Andreas Kramer, der den Text wiederentdeckte, vermutet, dass Benn ihn der Vergessenheit anheim gab, weil er die darin entwickelten Themen später gültiger formulierte: "Denkbar auch, dass Benn diese Prosa noch für
zu traditionell befand."
Ein Auszug: "Hast Du mal gesehen, wie
Affen Äpfel fressen? So knabberig, so schlupferig - lutschend. So hatte ich zuletzt immer das Gefühl, als fräße mein Intellekt
mein Gehirn auf; von unten rauf, sachte es aushöhlend; ich sah manchmal förmlich die
äußerste Rinde sich nach oben biegen, weil unten schon alles fortgeschaufelt war."
Hierzu passt ein Interview mit dem Genetiker
Steve Jones (in der
FAZ firmiert er allerdings als "Steven Jones"), der in seinem Bestseller
"Y" das
männliche Geschlecht zur
Episode in der Naturgeschichte erklärt. Auf ihn ist die
FAZ im Rahmen ihrer schonungslosen, nun schon lange andauernden Erforschung
männlichen Machtverfalls gekommen, der jüngst in einer nie gesehenen Zeitungskrise kulminierte. Im Gespräch mit Christian Schwägerl erklärt er: "Die
männliche Strategie erinnert sehr stark an die eines
Parasiten, eines Bandwurms etwa, der sich auf Kosten seines Wirts vermehrt. Er überträgt sein Erbgut auf die Frau, ohne sich bei der
Produktion von Nachwuchs weiter anstrengen zu müssen." Und er gibt uns Männern folgenden
melancholischen Tipp: "Ich rate jedem Mann, in einem unbeobachteten Moment in ein
Glas kühles Wasser zu ejakulieren und sich das Ergebnis genauer anzuschauen. Eine
kleine Meditation kann sehr aufschlussreich sein." Nur dass ein Glas Wasser nicht sehr sexy ist!
Weitere Artikel: Heinrich Wefing
liest amerikanische Bestseller, die je nach politischer Position entweder den Liberalen oder den Reaktionären
finstere Medienverschwörungen unterstellen - die Kolumnistin
Ann Coulter wirft den Linken und Liberalen in ihrem jüngsten Buch
"Treason" "instinktive Idiotie" vor, was sich gut verkauft. Dietmar Polaczek schildert eine italienische Kontroverse um den österreichischen Komponisten
Peter Androsch, der ein Stück gegen
Berlusconi schrieb und sich nun von der ihm
hörigen Presse beschimpfen lassen muss. Jürgen Paul Schwindt gratuliert dem Philologen
Michael von Albrecht zum Siebzigsten. Dietmar Polaczek klagt über den Verfall der Mosaiken in der
Villa Casale (
Bilder) bei Piazza Armerina, die durch eine Plexiglasabschirmung unsachgemäß präsentiert werden (Plexiglas lässt UV-Strahlung durch).
Auf der
Medienseite erzählt Zhou Derong, wie sich
korrupte Beamten und
korrupte Journalisten den Profit aus der Privatisierung der
Medien teilen. Michael Hanfeld resümiert den vorgestrigen
Fußballabend im ZDF. Gemeldet wird, dass nun ARD auch ein
"Bunte TV" mit Prominententratsch geben soll, wofür wir selbstverständlich gern Gebühren zahlen. Auf der
letzten Seite porträtiert Jürg Altwegg den gefürchteten französischen Literaturkritiker
Angelo Rinaldi, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zum Chef des
Figaro litteraire gekürt wurde. Und Joseph Croitoru schildert, wie die
ultraorthodoxen Juden auf den jüngsten Jerusalemer
Selbstmordanschlag reagieren.
Besprochen werden eine Ausstellung der Schätze der
Fondation Maeght im Bremer
Museum Weserburg,
Frank Gehrys Debüt als Bühnenbildner im
Bard College mit
Janaceks Oper "Osud", die "Historias Minimas", ein Film des argentinischen Regisseurs
Carlos Sorin und
Benjamin Leberts neuer
Roman "Der Vogel isst ein Rabe" (mehr
hier), der die Kinderbuchkritikerin der
FAZ, Monika Osberghaus, durchaus zu begeistern wusste.