Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2003. Die Zeit mag die deutsche Politik nicht mehr: "Zu viel Alltag, zu wenig Eros". Die SZ zeigt, wie sich Dänemark an die Entsozialdemokratisierung seiner Kultur macht. Der FR sind die globalen Rating-Agenturen nicht geheuer. Und in der FAZ fürchtet Hussain Al-Mozany die Radikalisierung der Schiiten im Irak.

Zeit, 04.09.2003

Vielleicht kein vollwertiges Adorno-Special, sieben Besprechungen und drei Seiten im Feuilleton sind es aber dann doch geworden: Im Aufmacher erinnert sich Jürgen Habermas (mehr und mehr), wie er 1956 aus Bonn an das Frankfurter Institut für Sozialforschung kam, wo die "Lava des Gedankens im Fluss" war. "Ich kam mir vor wie in einem Balzacschen Roman - der unbeholfen-ungebildete Junge aus der Provinz, dem die Großstadt die Augen öffnet Ich wurde mir der Konventionalität meines Denkens und Fühlens bewusst. Akademisch war ich in den herrschenden, also in den durch die Nazizeit ununterbrochen fortgeführten Traditionen groß geworden und fand mich jetzt in einem Milieu wieder, in dem alles das lebte, was die Nazis eliminiert hatten. Es ist leicht, sich an die fremden Inhalte zu erinnern, die es nun zu lernen gab. Aber schwer zu beschreiben, wie sich ein Universum von Begriffen und eine Mentalität dadurch verändern, dass sich eine neue Welt auftut. " Im darauffolgenden Essay entlarvt Thomas Assheuer den Jubilar als "den wahren Konservativen" und räumt auf mit dem Gerücht, Adorno sei in der Ablehnung verharrt.

Außerdem im Feuilleton: Claudia Herstatt lugt in die Welt der Kunstdiebe und der bestohlenen Museen, die ohne großes Aufheben ihre Schätze zurückkaufen. Konrad Heidkamp stellt uns den Franzosen Michel Portal vor, der mit den Musikern von Prince den Jazz zurück nach Amerika bringt. In "Das Letzte" erfahren wir, dass Crackrauchen effizienter ist als das Besuchen von Boxveranstaltungen. Tilman Baumgärtel besichtigt die "schrägen Aktionen" diverser Künstler (ein Beispiel), die sich gegen die wachsende Videoüberwachung auflehnen.

Angenehm hintergründig reflektiert Gunter Hofmann über den schwindenden Einfluss des Parlaments in dieser Republik, der auch selbstverschuldet sei. Ein Auszug aus Hofmanns Kritikkatalog: "Abgeordnete, die nur Bäume sehen, aber nicht den Wald. Langweilige Debatten. Große Fragen zu selten auf der Tagesordnung und dann nicht 'groß'. Zu unaktuell. Zu viel Alltag, zu wenig 'Eros'. Es fehlt, mit einem Wort, Politik."

Besprechungen widmen sich einem neuen Stück aus Karlheinz Stockhausens Opernzyklus "LICHT", einer ertragreichen Ausstellung zu Albrecht Dürer in der Albertina in Wien, der heftig umstrittenen Schau chinesischer Kunst im Pariser Centre Pompidou sowie Isabel Coixets traurig-leichtem Film "Mein Leben ohne mich".

Den Aufmacher des Literaturteils widmet Ludger Lütkehaus den neuen Adorno-Biografien.

SZ, 04.09.2003

Christoph Bartmann hat sich mit dem dänischen Kulturminister Brian Mikkelsen und dessen verbissener Arbeit an der "Entsozialdemokratifizierung Dänemarks" befasst. "Wie soll er nun aussehen und wie gar zu einem siegreichen Ende geführt werden, der Wertekampf?", fragt Bartmann also. "Mit einem Mal ist 'bürgerlich' zum Kampfbegriff geworden. Der Premierminister, den alle nur für einen begabten Technokraten hielten, will seine Eignung zum Ideologen unter Beweis stellen. Ein Kreuzzügler, ein Fanatiker der guten Sache will er werden, wie Tony Blair, nur von rechts. Ökonomisch ist derzeit auch für Dänemark nicht viel zu gewinnen, die Mitgliedschaft in der 'Koalition der Willigen' muss ihre Rendite erst noch abwerfen: da gibt der Kampf um die Diskurs-Hoheit einen attraktiven Nebenschauplatz ab. Ein Systemwechsel, eine geistig-moralische Wende soll die Sozialdemokraten für immer in die Knie zwingen."

Klingeltöne sollen die Popindustrie sanieren, informiert Andrian Kreye "Schon jetzt gibt es Telefone mit Musikspieler, an die man einen Stereokopfhörer anschließen kann - und auch die ersten kommerziell erfolgreichen Klingelton-Hits. Beyonce Knowles und Jay Z veröffentlichten ihren Song 'Crazy in Love' gleichzeitig als Single und als Klingelton. Der Dancehall-Reggae-Star Sean Paul verkaufte von seinem letzten Hit 'Get Busy' sogar mehr Klingeltöne als Singles. Andy Volonakis, der bei der amerikanischen Telefonfirma Sprint die Abteilung für Klingeltöne leitet, verstieg sich gegenüber der New York Times zu der Prognose: 'Klingeltöne werden wirklich bald zu dem, was die Single einst war'."

Weiteres: Rainer Gansera hat sich auf dem Filmfest in Venedig Gedanken über den Stand der Dinge und über den durch die Filme möglicherweise schwebenden Zeitgeist gemacht. "G.K." gratuliert dem Architekten der olympischen Anlagen von Tokio und Mammut der Moderne" Kenzo Tange (mehr hier) zum 90. Geburtstag. "jhl" lästert über die 19-jährige US-Soldatin Jessica Lynch, die ihre Memoiren schreibt, obwohl sie sich nicht mal an die gefakete Befreiung aus einem irakischen Krankenhaus erinnern kann, der sie ihre Prominenz verdankt.

Außerdem wird gemeldet, dass sich rund drei Monate nach dem Diebstahl der 'Saliera', eines aufwändig gestalteten Salzfasses des italienischen Renaissance-Bildhauers Benvenuto Cellini, die Diebe gemeldet haben und 5 Millionen Euro Lösegeld für das Kunstwerk fordern, dessen Wert insgesamt auf 50 Millionen Euro geschätzt wird.

Besprochen werden Hendrik Handloegtens Frank-Goosen-Verfilmung "Liegen Lernen" (hier ein Gespräch mit Handloegten), Armin Holz Berliner Inszenierung von Oscar Wildes "Salome", ein Konzert der Münchner Philharmoniker mit Ligeti, Brahms und Wuorinen, die (durch Feridun Zaimoglu inspirierte) Ausstellung "Accessoiremaximalismus" in der Kunsthalle Kiel (über Stile und Moden der multikulturellen Gesellschaft, feine und grobe Unterschiede zwischen Migranten und Deutschen) und Bücher, darunter Graham Swifts, vom Rezensenten als "grandios schlicht" bejubelter Roman "Das helle Licht des Tages" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 04.09.2003

Claus Leggewie ist der Einfluss, den sogenannte Rating-Agenturen nicht nur auf die Einstufung der Bonität von Wirtschaftsunternehmen sondern auch ganzer Länder oder Bundesstaaten haben, nicht geheuer: "Gewiss muss es neutrale Einrichtungen geben, die Kreditrisiken bewerten, Schuldverschreibungen beurteilen ... Dabei lenkt weder eine überirdische Instanz noch eine unsichtbare Hand den Finanzmarkt, sondern konkrete Agenturen mit Sitz an der Wall Street oder in der Eurocity Frankfurt am Main, wo ein ganz bestimmter Typus von Wirtschaftsabsolventen ein homogenes, um nicht zu sagen: borniertes Milieu bildet. In ihre Bewertungen fließen neben den üblichen Wirtschaftsindikatoren politische Faktoren ein, und beide orientieren sich strikt am neoliberalen Dogma. Die Vereinigten Staaten rangieren deswegen stets vor Kanada, die Schweiz vor Schweden, und das Oligopol der drei Rating-Agenturen gilt heute als einflussreicher als die ... Vorgaben von Weltbank und Internationaler Währungsfonds..... Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sieht in den Rating-Agenturen 'die größte unkontrollierte Machtstruktur im Weltfinanzsystem.'" (Hier Links zu den großen Drei: Standard & Poor's, Moody's und Fitch).

Weiteres: Petra Kohse porträtiert Matthias Lilienthal, der die Nachfolge Nele Hertlings als Intendant des Berliner Hebbel-Theaters antreten wird. Peter Michalzik empört sich über den Versuch, dem Theater Hannover mit einer happigen Etatreduktion das Wasser abzugraben und lässt durchblicken, dass Intendant Wilfried Schulz gute Chancen hat, Christoph Marthaler in Zürich zu beerben. Verena Mayer befasst sich im Donnerstagskriminalfall sehr hintergründig mit einem Scheckkartenbetrüger. In der Kolumne Times Mager fürchet sich Michael Rudolf ein wenig vor der Rheinkultur: "Schließlich ist der Rheinländer genuin expansiv disponiert. Seine Bonner Ultras sind schon nach Berlin umgezogen, die Popkomm bald dito. Und seine Lautsprecher Wolfgang Niedecken, Britta von Lojewski und Dieter Gorny sind nach wie vor auf freiem Fuß." Besprochen wird Hendrik Handloegtens Film "Liegen lernen".

NZZ, 04.09.2003

Für Andrea Köhler zeigt der Streit um die Mitschnitte vom 11. September, deren Veröffentlichung die New York Times per Gerichtsurteil einklagt hat, wie prekär noch immer das Gleichgewicht zwischen öffentlichem Gedenken und individueller Erinnerung ist. "Mit ihrer kurz nach dem elften September 2001 begonnenen Serie kleiner Nachrufe auf die annähernd 3000 Toten hat die New York Times die einzelnen Opfer dem Mahlstrom des Massengrabes entrissen und vielen der in den Trümmern begrabenen Körper ein Gesicht und eine Geschichte zurückgegeben; die 'Portraits of Grief' sind inzwischen als Buch erschienen. Die Veröffentlichung der Mitschnitte ihres Sterbens aber zerrt einen gespenstischen Chor aus dem Jenseits ins Rampenlicht, dessen Sprecher teilweise identifiziert, größtenteils aber anonym sind. Dieses tonlose Konglomerat aus Schreien, Stammeln und verzweifelt um Ordnung bemühten Funksprüchen dividiert noch einmal die Toten in Individuen mit einem Namen und eine gesichtslose Masse. Der Informationswert dieser Notschreie und Beruhigungsversuche - 'O Gott', 'O mein Gott. Wir sitzen in der Falle', 'Atme erst einmal durch, Süsse, okay?' - ist jedenfalls nicht sehr hoch."

Joachim Güntner gibt schon mal einen Ausblick auf die Frankfurter Buchmesse und bemerkt, dass die Verlage vielleicht gar nicht so schlecht dastehen, wie es die allgemeine Moll-Stimmung in der Branche vermuten lasse würde: "Hanser hat zu seinem Glück den Tochterverlag Zsolnay mit den Bestsellern von Henning Mankell; Rowohlt wird sich, sollte die Belletristik nicht einschlagen, mit populären Sachbüchern wie Uwe Seelers Erinnerungen über Herbst und Winter retten. Ammann zehrt von dem Riesenerfolg mit Eric-Emmanuel Schmitt, und der kleine Schöffling-Verlag soll bereits jetzt seinen angestrebten Jahresumsatz erwirtschaftet haben. Von 'Sonderkonjunkturen' spricht Wolfgang Ferchl, Verlagsleiter bei Piper. Mehr als eine Million deutscher Ausgaben von Michael Moores Pamphlet 'Stupid White Men' habe Piper mittlerweile verkauft. 'Wir fahren euphorisiert an die Messe', sagt Ferchl."

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel schreibt einen Nachruf auf den amerikanischen Philosophen Donald Davidson.

Besprochen werden eine Ausstellung der Deutschen Malerei aus den Jahren 1765-1815 im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, diverse Orchester-Aufnahmen von Erich Kleiber sowie W.E.B. Du Bois' Essaysammlung "The Souls of Black Folk" und Natasza Goerkes Kurzroman "Rasante Erstarrung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 04.09.2003

In nostalgischen Verständigungsfilmen wie Hendrik Handloegtens "Liegen Lernen" hat Gerrit Bartels hinter der flächendeckenden Verständigung über die westdeutschen Achtziger- und Neunziger Jahre die Westalgie entdeckt. "Das Problem all dieser Filme: Sie kommen vor lauter Westalgie, vor lauter historisch-korrekter Ausstattung nicht wirklich in die Gänge. Sie sind merkwürdig leblos, die Zeitgeschichte und vor ihrem Hintergrund die mühsam verknüpften Erzählstränge wirken merkwürdig statisch, regelrecht eingefroren. Da werden keine neuen Erzählräume geöffnet, sondern sich starr an die Romanvorlagen gehalten, die ja sowieso nicht die großen Erzählungen sind, sondern Episodenromane, Monologe oder zusammengestückelte Erinnerungen. Wenn es dann doch mal 'freier' zugeht, wird wie in 'Soloalbum' oder 'Herr Lehmann' höchstens noch eine Schippe mehr an peinlichem Deutsch-Humor draufgepackt.

Weitere Themen: "BX" berichtet, dass die Musikindustrie in den USA in die Offensive gegangen ist und die Nutzer von Internet-Tauschbörsen verfolgt. Cristina Nord schickt einen Bericht vom Filmfest in Venedig, wo sie unlustig die schwülen Fantasien eines alternden Bertolucci zur Kenntnis genommen hat.

Besprochen werden Isabel Coixets Spielfilm "Mein Leben ohne mich" und eine Peter-Doig-Ausstellung im Bonnefanten Museum in Maastricht.

Schließlich Tom.

FAZ, 04.09.2003

Der Autor Hussain Al-Mozany (mehr) resümiert das Lebenswerk des ermordeten Großayatollah Muhsin al-Hakim. Der geistliche Führer der Schiiten wollte den Irak zu einem islamischen Staat machen, nach al Hakims Tod ist nun Muqtada as-Sadr, der Sohn eines alten Rivalen, am Zug. Sollte es ihm gelingen, schreibt Al-Mozany, "die verarmten, religiös motivierten Schiiten zu mobilisieren, die Unterstützung Irans und der gleichgesinnten libanesischen Hizbullah zu gewinnen und womöglich die subtile syrische Schaltzentrale aller radikalen Bewegungen und Aktionen im Nahen und Mittleren Osten hinter sich zu bringen, muß das demokratische Modell im Irak scheitern."

Kerstin Holm jubelt über die originalgetreue Restaurierung der Marienkathedrale von Nowgorod - "Spitzenwerk" altrussischer Baukunst und UNESCO-Kulturerbe -, von der nach dem Zweiten Weltkrieg nur ein Steinhaufen übriggeblieben war. Susanne Klingenstein wundert sich, dass bei der großen Konferenz in Harvard zu der sich verschlechternden Lage der Schwarzen in Amerika niemand darauf gekommen ist, dass es an der Bildung liegt. "apl" erregt sich über die hässlichen touristischen Hinweisschilder auf den Autobahnen, in Schattenrisstechnik und furchtbarem Hellbraun. Laura Weissmüller gratuliert dem Architekten Kenzo Tange (mehr) zum Neunzigsten. Gemeldet wird, dass der geschasste Leiter des Italienischen Kulturinstituts Ugo Perone nun doch in Berlin bleiben kann und dass der Maler Sir Terry Frost (mehr) gestorben ist.

Auf der Filmseite beklagt Dierk Schümer, dass der neue Botschafter des deutschen Films und germanische Melancholiker Horst Krause nicht nach Venedig gekommen ist. Andreas Kilb skizziert das iranische Kino im Dilemma zwischen West-Sponsoring und Verwestlichung. Etwas kalt und blutleer findet Andreas Platthaus "Destino" (mehr), die nun in Venedig gezeigte Rekonstruktion eines Trickfilmprojekts von Salvador Dali.

Joseph Hanimann schildert, wie Hector Berlioz nach 200 Jahren in Frankreich gewürdigt wird: als romantischer, tragischer Künstler. Auch nach der neuerlichen Umwandlung mehrer Todesstrafen in lebenslängliche Haft sind sich die USA in Sachen staatlicher Tötung keineswegs einig, betont Heinrich Wefing. Camilla Blechen bewundert die "Mom of Pop", die ehrwürdige wie unvoreingenommene Galeristin Ileana Sonnabend, die einige Tage in Berlin weilte.

Besprochen werden die eindrucksvolle Schau "Flämische Malerei 1520 bis 1700" in der Essener Villa Hügel, die Ausstellung über "Freuds verschwundene Nachbarn" natürlich im Wiener Sigmund-Freud-Museum, eine Zürcher Ausstellung zu Leben und Werk Theodor W. Adornos, Hendrik Handloegtens unterhaltsam-belanglose Romanverfilmung "Liegen lernen", und Bücher, darunter Veit Heinichens bravouröser Triest-Krimi "Tod auf der Warteliste". (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).