Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2003. Hat er? War er? Die Feuilletons spekulieren über Günter Wallraff und seine Kontakte zur Stasi. Außerdem hat die FAZ niemand Geringeren als die "letzte Schlesierin" getroffen. Die SZ findet die Auswanderung aus Deutschland recht rational. Die FR rettet uns mit Adorno vor der "sanften Verblödung". Und die taz feiert HipHop aus Eimsbüttel.

FAZ, 05.09.2003

Ein kleiner Schwerpunkt widmet sich den neuen Spekulationen um Günter Wallraffs angebliche Tätigkeit als A-Quelle der Stasi. Wallraff selbst hält die Vorwürfe für "absoluten Schwachsinn" und sorgt sich viel mehr um die Republik. "Wenn mir jetzt, der ich mir wegen dieser Kontakte nichts vorzuwerfen habe, eine solche Lawine entgegenschlägt, wie erst dann, wenn das gesamte Rosenholz- und Sira-Material mal an die Öffentlichkeit kommt? Ich hoffe, dass die Republik das aushält und nicht aus den Fugen knallt." Davon unbeeindruckt betont Andreas Platthaus in seinem Artikel, dass der Verdacht durch die neuen Belege sehr wohl erhärtet werde.

Frank Schirrmacher hat sich ins Riesengebirge begeben und die "letzte Schlesierin" aufgesucht, die siebenundneunzigjährige Schwägerin Gerhart Pohls (mehr), der späte Freund des späten Gerhart Hauptmann. Am Ende seiner Passionsgeschichte der vertriebenen Schlesier verspürt Schirrmacher den Atem der Geschichte, wenn er Louise Pohl so ansieht, die sich nie hat vertreiben lassen: "Hier, in diesem holzgetäfelten Wohnzimmer, in dieser Hütte im südwestlichen Polen, fand ich, was sie alle sein wollten: die Hauptmann und Becher und Schukow. Ich fand die Siegerin der Geschichte."

Andreas Rossmann und Thomas Wagner unterhalten sich auf einer ganzen Seite mit Kasper König, dem Direktor des Museums Ludwig, über Köln, die Kultur und Königs Pläne. Das Gespräch startet zögerlich:
"FAZ: Wie kommt man [Köln] wieder aus dem Loch heraus?
König: (Lange Pause, Seufzen)
FAZ
: Lässt sich Köln denn gar nicht wieder flottmachen? "

Weiteres: Regina Mönch plädiert für den "Fichtebunker" in Kreuzberg (mehr) als geeigneten Ort für ein "Zentrum gegen Vertreibungen". Michael Althen meldet sich aus Venedig, er hat Filme von Bruno Dumont, Takeshi Kitano und Joel Coen gesehen. Zhou Derong weiß, dass Hollywood bei der Schilderung der chinesischen Mafia ausnahmsweise gewaltig untertreibt. "gey" wünscht sich von einem deutschen Kanzler ein wenig mehr Manieren.

Auf der Medienseite erklärt Frank Kaspar, was sich bei den Kulturradios durch die groß angelegten Programmreformen ändern wird. Hans-Dieter Seidel empfiehlt "Annas Heimkehr" auf Arte und porträtiert nebenbei eine Veronica Ferres "auf der Höhe ihres Anspruchs".

Auf der letzten Seite lesen wir Stefan Arends Hommage an Karl Bernhardi, der 1843 die erste Sprachkarte Deutschlands veröffentlichte. Jordan Mejias porträtiert den amerikanischen Politikpolemiker Al Franken als schüchternen Progressiven. Und Hannes Hintermeier hofft auf Dieter Bohlen, um wieder für mehr Manieren bei Random House zu sorgen.

Besprochen werden die entfesselnde Retrospektive des Werks von Bridget Riley in der Tate Britain, Isabel Coixets filmische Verzauberung "Mein Leben ohne mich", und ein Buch, nämlich Marijane Meakers Erinnerung an ihre Beziehung mit Patricia Highsmith (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 05.09.2003

In einem Essay mutet der Autor Marcus von Schmude Adorno Unerhörtes zu: Er entlarvt "musiko-mystische Unterströme" in dessen Philosophie. Die Beweisführung ist bestechend: "Adornos gesamte Philosophie und Soziologie kann gelesen werden als Nachdenken darüber, wie die Erfahrungen, die ihn beim Schubert-Hören und beim vierhändigen Klavierspiel seiner Kindheit überfielen, allgemein lebbar wären, ohne Verrat an den Menschen zu begehen - und ohne Verrat am kritischen Bewusstsein. Wie, mit anderen Worten, können Bedingungen geschaffen werden, in denen Mystik möglich ist - ohne dass sie ein Verbrechen wäre, weil sie ein Schweigen über so viele Untaten impliziert? Adorno wendet damit Mystik 'materialistisch', im Marx'schen und philosophischen Sinn, weil er im Gegensatz zu neo-spirituellen Volksbewegungen damals wie heute weiß, dass erst das Fressen kommt und dann die Erleuchtung. Dass man erst einmal gedacht haben muss, um das Denken transzendieren zu können. Dass ein Ich erst einmal vorhanden sein muss, um es zu verlieren. Alles andere läuft auf sanfte Verblödung hinaus."

Ulrich Speck kommentiert - bereits nachrufartig - den Fall Günter Wallraff: "In die Haut eines anderen zu schlüpfen, mit Schminke und falschem Bart über Wochen geduldig auszuharren, am liebsten ganz unten, war die Methode, die er virtuos beherrschte und die ihn zu Recht berühmt machte. Bevorzugt übernahm er die Rolle des Opfers - um anschließend dessen Peiniger an den Pranger zu stellen... Zu diesem selbstaufopferndernden Inszenierungs-Spiel gehörte es, am Ende die Karten aufzudecken und die Peiniger zu entlarven. Und damit zugleich die Widersprüche eines Systems. Nun scheint es - wenn die Vorwürfe tatsächlich zutreffen -, als hätte das System Wallraff selbst Widersprüche in sich getragen, die es der Aufdeckung entzog: den Westen angeprangert, gegenüber dem Osten beide Augen zugedrückt; öffentliche Moral eingefordert, sich selbst aber ausgespart."

Weitere Artikel: Aus Venedig informiert Daniel Kothenschulte über neue Filme von Bellocchio, Winterbottom, Benton, Ridley Scott, den Coen-Brüdern, Bruno Dumont und Takeshi Kitano. Und in der Kolumne Times mager ermutigt Alexander Kluy - ja, verdammte Scheiße noch mal - zum ausgiebigen Fluchen.

Besprochen wird die Fotoausstellung "Architektur der Obdachlosigkeit" in der Münchner Pinakothek der Moderne, die irgendwie auch den zehnten Geburtstag des - wirklich gut gemachten - Obdachlosenmagazins "Biss" begeht. Rezensent Adam Olscheswski merkt kritisch an: "Grundsätzliche Zweifel und die Frage keimen auf, ob nicht jede Begegnung mit einem Obdachlosen eine noch so gelungene Ausstellung ersetzen könnte." Außerdem wird die CD der Woche vorgestellt, die IMMER eigentlich mehrere sind, in diesem Fall Einspielungen von Bruckner, Mendelssohn-Bartholdy und Prokofjew. Eine Meldung informiert schließlich über das Programm der Leipziger Film.

TAZ, 05.09.2003

Hat er? War er? Offenbar hat und war er. Wallraff. Stasi-Mit- und Zuarbeiter. Die Tagesthemenseiten berichten: Zwar weist er die Vorwürfe, "IM Wagner" gewesen zu sein, im Interview noch immer "empört von sich": "Diese Zuordnungen haben mit mir absolut nichts zu tun... Und in der DDR gab es Beamte, die mit solchen falschen Zuordnungen sich wichtig machen oder ihre Karriere befördern wollten. Es handelt sich hier nicht um einen Polit-Thriller, sondern um eine makabre Groteske." Dagegen hält es der Stasi-Experte Hubertus Knabe, ebenfalls im Interview, "für ausgesprochen wahrscheinlich", dass Wallraff als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi gearbeitet habe, während die Birthler-Behörde glaubt, dass der Deckname "Wagner" eindeutig Günter Wallraff zuzuordnen sei.

"Wie der Acker, so die Ruam, wie der Vatter, so di Buam, wie der Lehrer, so die Töchter, nur ein ganz klein bissl schlechter". Was das soll? Dies ist das Motto beziehungsweise die (orientierende?) Voranstellung des Porträts, das Stefan Kuzmany von Monika Hohlmeier, der Tochter von Franz Josef Strauß zeichnet.

Im Kulturteil geht es heute schwerpunktmäßig sehr musikalisch zu. Zunächst mal mit jeder Menge Hamburg. So feiert Uh-Young Kim auf satten 390 Zeilen die Eimsbüttler HipHop-Szene (die eigentlich gar nicht existiert), genauer deren Repräsentanten, sprich die Beginner und ihr neues Album: "Das sagenumwobene Eimsbush, von dem die Beginner immer wieder in ihren Stücken rappen, verhält sich zum real existierenden Stadtteil Eimsbüttel so wie Disneyworld zu Neuschwanstein: Es ist eine Fantasiewelt." Thomas Winkler bespricht das neue Album der Hamburger Band Fink, "Haiku Ambulanz", das einen "Ausweg" aus dem Dilemma deutsch gesungenen Countrys versprechen soll.

Als "unverschämt naiv" beurteilt Harald Fricke "das Märchen von der guten Popkultur", das der japanische Zeichentrickstar Leiji Matsumoto im Animefilm "Interstella 5555" in Szene setzte und zu dem das französische House-Duo Daft Punk den Soundtrack lieferte. Und Kolja Mensing stellt die CD "Lichtjahre voraus" der Band Britta vor.

Cristina Nord berichtet aus Venedig über einen "schönen Beitrag zur Controcorrente-Reihe" von Michael Schorr, "Schultze gets the Blues", und den ersten "Langfilm" von Royston Tan, "15", in dem Teenager aus Singapur über den Selbstmord sinnieren. Detlef Kuhlbrodt räsoniert derweil über Graffiti und ihre (Hamburger) Feinde.

Und hier Tom.

NZZ, 05.09.2003

Joachim Güntner kommentiert auf der Medienseite den Fall Günter Wallraff, von dessen "aktiver" Stasi-Mitarbeit die Birthler-Behörde jetzt für die Jahre 1968-1971 ausgeht: "Es sieht nicht gut aus für Günter Wallraff - genauer: für den Moralisten Wallraff und seine ethische Selbstgewissheit. Von einem Publizisten seiner Statur wäre, sollten sich alle Verdachtsmomente erhärten, ein kritischerer Umgang auch mit sich selbst zu erwarten gewesen. Indessen wird man darauf achten müssen, dass die Debatte über den Fall Wallraff Person und Werk auseinander hält. Seine Recherchen über üble Arbeitsbedingungen oder die Machenschaften der Bild-Zeitung haben juristischer Prüfung standgehalten."

Weiteres: Zum zweihundertsten Todestag erinnert Ursula Pia Jauch an Choderlos de Laclos, der sich mit einem "gewaltigen Knalleffekt auf der Bühne der Welt" präsentiert hatte: mit dem Roman "Gefährliche Liebschaften". Jürgen Schläder, Professor für Theaterwissenschaft an der Uni München, interpretiert Martin Kusejs Stuttgarter "Fidelio"- Inszenierung. Joachim Güntner hofft auf einen Wechsel des Hannoveraner Intendanten Wilfried Schulz nach Zürich und dabei auf die Unterstützung des knauserigen Kulturminister von Niedersachsen. Gemeldet wird, dass Musiker Bobby Burri, Christy Doran, Urs Leimgruber und Fredy Studer den Kunst- und Kulturpreis 2003 der Stadt Luzern erhalten.

Auf der Filmseite gibt es einen Ausblick auf das anstehende Animationsfilm-Festival "Fantoche" im Schweizer Baden und Rezensionen: zu Stephen Frears' Film über illegale Einwanderer "Dirty Pretty Things" ("Bald suggeriert der intelligente Film den Stellenwert dieser Sans-Papiers, bald hämmert er ihn uns ein"), Paolo Poloni Roadmovie "Viaggio a Misterbianco" und Samuel Fullers Lebensbericht "A Third Face".

Besprochen werden die Adorno-Ausstellung im Zürcher Strauhof und die Schau "Der Turmbau zu Babel" im Schloss Eggenberg über "Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift".

SZ, 05.09.2003

In der Reihe "Völkerwanderung in Deutschland" versucht Wirtschaftsredakteur Nikolaus Piper im Feuilletonaufmacher zu erklären, warum zunehmend "Betriebe und Arbeitskräfte das Land verlassen" und Deutschland damit derzeit "zum Auswanderungsland" wird. Zentral seien dabei die sogenannte "Standortfrage" und das Verhältnis von "Versorgungsniveau" und "Abgaben". "Die Migration von Kapital und Arbeit macht vielen Menschen Angst, vor allem wenn sie die Dimension begreifen, die diese Migration inzwischen erreicht hat. Aber es liegt auch eine Chance darin, wenn Migration auch als Auswanderung wahrgenommen wird. Dann erkennt man: Migration ist nicht auf das Wirken anonymer Mächte zurückzuführen sondern das Ergebnis meist sehr rationaler, individueller Entscheidungen."

Willi Winkler würdigt in der Reihe "Lebenslügen" den Kopfschmerz ("Der Schmerz tanzt. Natürlich kann er's nicht, aber das ist ihm wurschtegal.") Verständlicherweise "flau im Magen" war Stefan Rebenich, der mit vierzig und graumeliert nach 20 Jahren Privatdozentendasein wieder als Lehrer an die Schule zurückging. Kein "Erlebnisbericht", sondern sieben konkrete Vorschläge an die Lehrerausbildung sind sein Fazit. Was die französischen Medien veranstalten, seit Marie Trintignant von Bertrand Cantat erschlagen wurde, erinnert Alex Rühle schon ein bisschen an den "kollektiven Trauerschock, der die Welt nach dem Tod von Lady Diana erfasste": "Bloß dass gar nicht so sehr um die 'dunkle Prinzessin'getrauert wird." Sondern um Cantat, dessen Platten sich bestens verkaufen.

Zweimal Venedig: Susan Vahabzadeh informiert unter anderem über Marco Bellocchios Wettbewerbsbeitrag "Buongiorno, Notte", und Fritz Göttler berichtet von der Export Union und fragt sich, wie gut der deutsche Film wirklich ist und wie stark man ihn im Ausland vermarkten kann. Gerhard Persche orientiert über den "Opernszenesammelpunkt" auf dem Aarhus Festival. Und auf der Medienseite gibt Maximilian von Schell Auskunft über seine Liebe zum Fußball, dumme Schauspieler, langweilige Präsidenten und Fernsehserien.

Burkhard Müller erklärt in aller Kürze die Oktoberfest-Affinität der Italiener, "holi" geißelt (oder beschwärmt?) die neuerdings auch musikalisch tätige "Göttin der Langeweile", Kate Moss, und RJB erklärt die Preissenkungen bei CDs.

Besprochen werden Jörg Grünlers Film "Der zehnte Sommer", der Sommerhit 2003 von den Anti-Stars von "Tribalistas" und Bücher, darunter Uwe Timms Kriegsgeschichte seiner Familie, die "Liebeserklärung" von Michael Lentz, eine Reportage von Mariusz Wilk aus der russischen Seele und eine Studie über den Mythos des heiligen Grals (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).