Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2003. In der SZ beschreibt Wolfgang Sofsky den politischen Mord als Teil moderner Kriegskunst. Die FR freut sich, dass die Adorno-Schüler nun endlich ohne ihren Lehrer auskommen. Und die FAZ hätte lieber auf die Wiedervereinigung verzichtet. In der NZZ wirft Hans Magnus Enzensberger der SZ nochmals vor, "das Opfer einer Vergewaltigung auszuspionieren".

SZ, 29.09.2003

Mit dem sogenannten Kopftuch-Urteil hat die große Diskussion um Glaubensfreiheit, Christentum und Laizismus gerade erst angefangen, notiert Armin Adam. "Schon jetzt zeigt die Diskussion über das Kopftuch im Unterricht merkwürdige Verzerrungen und Risse innerhalb der politischen und ideologischen Lager auf: Die linksliberale Position kann sich kaum entscheiden, ob sie ihrem Leitstern interkultureller Toleranz folgen, also für das Kopftuch plädieren soll, oder ob sie ihrem ebenso klassischen Gebot der Laizität folgen und also dagegen votieren soll. Ebendieses Gebot weltanschaulicher Neutralität macht sich, auf der anderen Seite, die konservative Position bei ihrem Ruf nach einem Verbot des Kopftuches im Unterricht zu eigen. Das liegt natürlich daran, dass den Konservativen das Kopftuch als Ausdruck einer fremden, einer befremdenden Kultur erscheint. So fordern ausgerechnet vor allem jene den Eingriff in das Grundrecht der Glaubensfreiheit, die gegen das Kruzifix-Urteil protestiert haben."

Politischer Mord gehört zwar nicht zum klassischen Repertoire der Kriegskunst, setzt sich aber immer mehr durch, stellt der Soziologe Wolfgang Sofsky (mehr hier) mit Blick auf Bagdad, Tripolis, Saigon, Santiago oder Ramallah fest. "In Zeiten des Schreckens ist alles erlaubt. Die Formen politischer Gewalt gehen ineinander über. Die Grenzen zwischen Krieg und Verbrechen, Kampf und Jagd, Staatsstreich, Tyrannenmord und Terrorismus verschwimmen. Demokratien greifen nun auch offen zu illegaler Gewalt. Das alte Recht der Staatenkriege gilt ohnehin nicht mehr. Debatten über die Legalität oder Legitimität einzelner Methoden sind nicht auf der Höhe der Zeit. Mit politischer Kriminalität ist der heutige Terrorkrieg keinesfalls zu verwechseln. Er ist kein Fall für Polizei und Strafjustiz, sondern für Spezialkommandos und Geheimdienste. Terror ist nicht länger ein politisches Verbrechen, sondern eine Taktik des wilden Krieges."

Weitere Artikel: Das "Fähnlein Streiflicht-Autoren" schildert höchstselbst und wie immer anonym die Entgegennahme des Sprachpreises 2003 in Weimar. Das neue biomorph geformte Kunsthaus in Graz (so sieht es aus) nimmt Gerhard Matzig zum Anlass, den Abgesang auf die Bio-Architekten anzustimmen, deren "blähbauchhaftes Acrylplatten-Alien" schon jetzt alt aussehe. "tost" informiert uns, dass auch Schweden jetzt eine Königin der Herzen hat: Anna Lindh. Schlicht und beherzt "Kanaille" nennt Helmut Schödel den ÖVP-Kunststaatssekretär Franz Morak, der die Verträge der erfolgreichen Festivalleiter der Grazer Diagonale einfach nicht verlängern will.

Christie's versteigert heute das einzige Van-Gogh-Aquarell der Brücke in Arles, bemerkt Stefan Koldehoff. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Film- und Sprachakrobaten Donald O?Connor. Gemeldet wird, dass Dito Tsintsadzes Film "Schussangst" in San Sebastian gewonnen hat.

Im Gespräch mit dem dynamischen Chef der New York Times Company, Artur Ochs Sulzberger, haben sich die krisengeschüttelten SZ-Redakteure ein wenig Mut geholt. "Ich weigere mich, das Wort Krise zu benutzen. Als Zeitung sind wir nicht im Papiergeschäft, sondern im Nachrichtengeschäft. Und solange wir uns über das Wort Nachrichten definieren, haben wir auch eine glänzende Zukunft vor uns." Hans Hoff etikettiert den Deutschen Fernsehpreis sehr schön als Günther-Jauch-RTL-Festspiele.

Besprochen wird die enttäuschende Schau "Berlin-Moskau" im Martin-Gropius-Bau, die lieber auf ihren Titel verzichten hätte sollen, zwei Inszenierungen, Jürgen Kruses "Salome" und Nicolas Stemanns "Käthchen" in Berlin, Doris Dörries frische Version von Puccinis "Turandot" an der Berliner Staatsoper, und Bücher, darunter Lukas Hammersteins pseudorebellisches Roman-Placebo "Die 120 Tage von Berlin", Alvaro Escobar-Molinas Kolumbienträumereien "Der schlafende Berg" sowie Gerhard Wolters "Die Zone der totalen Ruhe", Augenzeugenberichte von deportierten Russlanddeutschen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 29.09.2003

Mit Kleists Käthe am Deutschen Theater in Berlin entdeckt Nicolas Steman, einst Regisseur des verhinderten politischen Engagements, nun endlich das Gefühl, frohlockt Peter Michalzik. "Die Bühne dreht sich, aus dem Himmel regnen Federn und aus dem Videobild steigt ein blonder Engel mit engem Paillettenkleid und hohen Absätzen. Aylin Esener spielt den Traum. Und Stemann gibt uns die Romanze. Liebesglück, wie es sich der Mann zweihundert Jahre nach Kleist erträumt, Nächte in weißem Satin, Liebe, wie sie die Gefühlsindustrie millionenfach reproduziert. Stemann inszeniert nicht das Käthchen, er inszeniert nicht Kleist, er durchleuchtet in einem Stück, das 'Wetter vom Strahl' heißen müsste, die Liebe in Zeiten der Bildermacht. Die Röntgenstrahlen, die er dabei verwendet, sind die Phantasien des jungen Mannes, der so schön 'eigentlich' sagt."

Weitere Artikel: Die internationale Theodor-W.-Adorno-Konferenz in Frankfurt am Main hat Hilal Sezgin gezeigt, dass Adornos Schüler ihren Lehrer gar nicht mehr brauchen. In Times mager widmet sich Christian Thomas rätselhaft-wehmütig der für uns im Netz unsichtbaren Welt hinterm Horizont. Gemeldet wird, dass der amerikanische Entertainer Donald O' Connor, der mit seiner Tanznummer in "Singin' in the Rain" weltbekannt wurde, im Alter von 79 Jahren gestorben ist, und dass "Schussangst" (hier mehr) von Dito Tsintsadze beim Internationalen Filmfestival von San Sebastian die "Goldene Muschel" gewonnen hat.

Auf der Medienseite kommt Oliver Gehrs nach der Diekmann-taz zu dem Schluss, dass in dieser Redaktion die letzte Spaßgesellschaft zu Hause ist. Stefan Behr stöhnt, was bei bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises "zusammengeblökt, -gequatscht und -salbadert" wurde. Hier die Liste der Preisträger.

NZZ, 29.09.2003

Aldo Keel ruft die Zusammenhänge um die legendäre Rettung eines großen Teils der dänischen Juden im Herbst 1943 ins Gedächtnis. Derek Weber beschreibt die Probleme österreichischer Kulturinstitutionen mit nicht zahlungsfähigen Sponsoren. Finanzielle Nöte auch bei der Zunft der Übersetzer, die am Wochenende auf dem Genfer See einen Preis verliehen und sich ganz der deutsch-französischen Übersetzung gewidmet hat, wie Sabine Haupt berichtet. "Zit" verweist erfreut auf das außergewöhnlich gut ausgestattete Budget der französischen Kulturinstitutionen im nächsten Jahr. Markus Jakob hat die katalanischen Arbeiterkolonien aus dem 19. Jahrhundert besichtigt. Und schließlich ärgert sich "jak" über die schlechte Renovation der Colonia Güell und Gaudis Krypta. "sda" schließlich meldet den Tod des Regisseurs Elia Kazan.

Besprochen werden die Schweizer Erstaufführung "Tag der Gnade" in der Schiffbau-Box in Zürich von Neil LaBute, eine Uraufführung von "Das goldene Zeitalter", einer Koproduktion verschiedener Regisseure des Zürcher Schauspielhaus, die Gastspiele des Balletts der Berliner Staatsoper unter den Linden am Basler Musical-Theater. Außerdem Bücher, darunter eine Biografie über Erich Honecker von Norbert F.Pötzl.

Und noch ein Nachtrag aus der NZZ am Sonntag zur Debatte um die Anonyma, deren Identität von der SZ enthüllt wurde. Joachim Güntner hält Jens Biskys Verdächtigungen gegenüber ihrer Autorschaft für Murks: "Gutwilligkeit kann man Bisky gewiss nicht vorwerfen. Aber leichtgläubig ist er schon: gegenüber eigenen Verdachtsphantasien. Für sein Misstrauen nennt er im Gespräch zwei Motive: erstens seine generelle Skepsis bei allem, 'was aus der Marek-Ecke kommt'. Kurt Marek habe in seinem Buch 'Wir hielten Narvik' schon 1941 gezeigt, wie er aus Tagebuchaufzeichnungen literarische Plots zu bauen verstehe. Zweitens hätten ihn Leserbriefe auf Sprachwendungen hingewiesen, die in Berlin ganz ungebräuchlich seien. Ist das die ganze Basis des überaus harschen Verdikts, 'Eine Frau in Berlin' sei 'als zeithistorisches Dokument wertlos'? Nicht die ganze, aber wohl die wesentliche."

Dazu gibt es auch ein Interview mit Hans Magnus Enzensberger, der Bisky die "Profilneurose eines Enthüllungsjournalisten" und eine "Befriedigung darin, das Opfer einer Vergewaltigung auszuspionieren", unterstellt: " Was Biskys Angriff angeht, so vermute ich einen politischen Subtext aus der umgekehrten Richtung. Ihm geht es offenbar um die Ehre der Roten Armee. Er verfährt mit einer bewährten Methode der linken Propaganda: Wenn du die Tatsachen, die dir missfallen, nicht leugnen kannst, versuche, die unliebsame Zeugin zu diskreditieren."

TAZ, 29.09.2003

Die feindliche Übernahme vom Samstag sitzt der taz noch in den Knochen. Stefan Kuzmany erinnert sich, wie Jürgen Fliege salbadernd durch die Gänge der Redaktion stolzierte, und staunt: "Manche tazler gewöhnen sich überraschend leicht an den neuen Arbeitsstil." Beeindruckt ist er aber vor allem von Diekmann, dem Entscheider: "Diekmanns Handy klingelt, er will jetzt nicht rangehen, wirft das Gerät in hohem Bogen durch den Raum, ein geschulter Mitarbeiter fängt es, beeindruckendes Kunststück."

Im Feuilleton schreibt Daniel Bax einen Nachruf auf Edward Said. Besprechungen widmen sich Gary Ross' Jockey-Film "Seabiscuit", der die symbolische Ordnung von Mann und Pferd wiederherstellen möchte, sowie Bohdan Slaamas einfach tschechischem Streifen "Wilde Bienen" (mehr).

Die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises erinnert Martin Weber auf der Medienseite nur an die Gleichförmigkeit mittlerweile aller Preisverleihungen. Höhepunkte sind da selten. "Wie üblich frisurentechnisch auch ganz weit vorn: Antonia Rados, geehrt für die beste Reportage, deren Haupthaar auch bei einer medialen Festivität so prima sitzt wie beim Bombardement Bagdads." Ob der Kanzler heute die expansionslüsternen Verleger befriedigen wird, fragt sich "stg".

Schließlich Tom.

FAZ, 29.09.2003

Christoph Marthaler ist immer noch geeignet, Gerhard Stadelmaier (mit zwei a) glücklich zu machen. Zu Beginn seiner letzten Saison als Intendant des Zürcher Schauspielhauses bringt er sein Spektakel "Das Goldene Zeitalter" mit viel Musik von Haydn und Mozart. Und der Kritiker sah ihn "höchstselbst auf seiner Bühne tanzen und schweben und hüpfen und kobolzen wie ein erlöstes, glückliches Springböckchen".

Klaus-Peter Krause prangert das "deutsche Watergate" an, als das er das Verbot der Rückgabe von 1945 bis 49 enteigneten Eigentums in der Ex-DDR empfindet. Constanze Paffrath, Autorin einer "summa cum laude"-Dissertation zum Thema hat jetzt nach Krause nachgewiesen, dass die Russen niemals auf einer solchen Regelung bestanden, schreibt Krause, der mit der Hauptthese Paffraths konform geht: "Selbst dann, wenn Sowjetunion und DDR das Rückgabeverbot als unabdingbar gefordert hätten, hätte die Bundesregierung dieser Forderung weder gemessen am Grundgesetz noch an vorausgegangenen höchstrichterlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechen dürfen - selbst um den Preis der Wiedervereinigung nicht." Manch einer wäre da heute froh!

Weitere Artikel: In einer kommentierenden Meldung (einem im FAZ-Feuilleton gern gepflegten Genre) freut man sich unter Bezug auf den Artikel von Gustav Seibt am Samstag, dass die SZ die Vorwürfe gegen die Herausgeber des Buchs "Eine Frau in Berlin" der Anonyma abgemildert habe. "miga" kommentiert die Umbenennung des Orchesters der Beethovenhalle Bonn in Beethoven Orchester Bonn (kurz: Bob). Paul Ingendaay resümiert das Filmfestival von San Sebastian, dessen Hauptpreis an eine deutsche Produktion, den Film "Schussangst" von DitoTsintsadze geht. Andreas Rosenfelder hat einer DFG-Tagung über "Lage und Lager der Germanistik" im Kloster Irsee zugehört.

Auf der letzten Seite freut sich Joseph Hanimann über die Rückkehr eines von Andre Breton und anderen Surrealisten entworfenen Tarot-Spiels nach Marseille, wo die wunderschönen Vorlagen für das Spiel - der Auflösung von Bretons Nachlass glücklich entronnen - nun im Musee Cantini eine Heimstatt gefunden haben. Hannes Hintermeier porträtiert die mutige Lektorin Tanja Graf, ehemals Piper, die nun zusammen mit dem Fotobuchverleger einen Belletristikverlag gründet, den Schirmer Graf Verlag. Und Dietmar Dath kommentiert den traurigen Umstand, dass am Ende der jetzt auch in Deutschland gelaufenen Serie "24" mal wieder die Deutschen schuld waren.

Auf der Medienseite interviewt Michael Hanfeld den Talkstar Reinhold Beckmann. Michael Hanfeld kommentiert die Verleihung der deutschen Fernsehpreise. Michael Hanfeld fürchtet, dass Bundeswirtschaftsminister Clement die Ministererlaubnis oder Schlimmeres für die Fusion von Berliner Zeitung und Tagesspiegel gibt. Michael Hanfeld würdigt, die Feindes-taz vom Samstag, in der Bild-Cefredakteur Kai Diekmann ein denkwürdiges Interview mit Helmut Kohl publizierte. Und Hajo Friedrich sieht die Pressefreiheit nicht nur von Berlin, sondern auch von Brüssel in Gefahr gebracht, weil man nicht nur Tabakwerbung sondern auch ein redaktionelles Anpreisen des Rauchens unterbinden wolle.

Besprochen werden die Berliner Ausstellung "Berlin-Moskau 1950-2000" ("Der gnadenlose Kampf des Individuums ist das neue Thema der russischen Kunst", schreibt Niklas Maak), Christoph Schaubs Film "Stille Liebe", ein Konzert von Lloyd Cole und Heather Nova, Puccinis "Turandot", inszeniert von Doris Dörrie, dirigiert von Ken Nagano, an der Berliner Staatsoper und Sachbücher, darunter Olaf B. Raders "Grab und Herrschaft" über die geschichte des politischen Totenkults.

Welt, 29.09.2003

In der Welt verteidigt Nilüfer Göle, Studiendirektorin an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris, das Kopftuch. "Nicht-Moslems sehen üblicherweise im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung der mohammedanischen Frauen. Statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Moslems nun zum Zeichen des positiven Bekenntnisses zu ihrer islamischen Identität geworden. Mädchen, die in französischen und deutschen Schulen das Kopftuch tragen, stehen in vieler Hinsicht (etwa in Bezug auf die Jugendkultur, ihr Modebewusstseins und ihre Sprache) ihren Mitschülern näher als ihren an die Wohnung gefesselten, ungebildeten Müttern. Indem sie in Europa das Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen, verändern diese Mädchen unbeabsichtigt das Symbol und die Rolle der mohammedanischen Frauen."
Stichwörter: Europa, Kopftuchdebatte