Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2003. In der SZ erklärt Ernst-Wilhelm Händler, warum Moral gut ist für die Wirtschaft. In der taz plädiert Julius H. Schoeps für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibung. In der NZZ wundert sich Reinhard Jirgl über die Ostalgie-Welle. In der Welt erklärt Wolfgang Büscher, warum die achtziger Jahre so populär sind (Hitler ist schuld). Die FAZ schildert die missliche Lage der Berliner Opern.

SZ, 02.10.2003

Ernst-Wilhelm Händler ("Wenn wir sterben"), der nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein mittelständischer Unternehmer ist, erklärt, warum ein Unternehmer über die Moral der Wirtschaft und des Marktes nachdenken sollte: "In den realexistierenden Märkten sind ... Modellbedingungen niemals gegeben. Moral spielt hier die Rolle einer Korrekturinstanz gegen Marktversagen. Die Einhaltung moralischer Maßstäbe erzeugt über Zuverlässigkeit und Vertrauen Bindungen zwischen den Marktteilnehmern, die die Transaktionskosten senken. Für die Nachfolger der Klassiker gilt also weiter, dass ökonomisch gutes Handeln moralisch gutes Handeln ist. Aber der Mensch hat jetzt einen ethischen Freiraum, den er sachgerecht nutzen soll. Der Zweck der Ökonomie besteht in der Bedarfsdeckung bei effizienter Allokation aller Ressourcen (das heißt einfach, die bestehenden Mittel werden so eingesetzt, dass möglichst viel erwirtschaftet wird). Moral ist geboten, weil sie die effiziente Allokation der Ressourcen erleichtert."

Die tschetschenische Journalistin Mainat Abdulaewa erzählt im Interview von der Zerstörung der Kultur ihres Landes durch die Russen: "Wenn ein Museum einmal getroffen wird, ist das möglicherweise Zufall, vielleicht auch beim zweiten Mal. Aber wenn fast zehn Jahre lang alles zerstört wird, was wir wieder aufbauen - das Theater spielte gerade zwei Monate, bevor es getroffen wurde -, dann ist das Absicht."

Christopher Schmidt hat einen gewichtigen Einwand gegen die Warnungen vor den Gefahren des Rauchens. "Zigaretten können zu verstopften Arterien, zu Herzinfarkt, Schlaganfall, zu Lungenkrebs und Raucherbein, zu vorzeitiger Hautalterung und Durchblutungsstörungen und schließlich zum Tode führen. Manchmal führen sie auch zu großer Literatur."

Weitere Artikel: Lothar Müller hofft, dass die Aussetzung der Entscheidung über den Wiederaufbau des Berliner Schlosses für zwei Jahre zumindest die Museumsinsel schneller in der Zukunft ankommen lässt. "skoh" meldet, dass im Irak die Plünderungen von Kulturgütern anhalten; Jürgen Otten gratuliert den "Freunden Guter Musik Berlin" zum zwanzigjährigen Bestehen. Jörg Häntzschel hat unter dem ondulierten Edelstahl von Frank Gehrys neuer Walt Disney Concert Hall in Los Angeles erlebt, wie nahe bei den Eröffnungsproduktionen Triumph und Versagen selbst für das gut eingespielte Team Placido Domingo und Edgar Baitzel noch beieinander liegen. Von Adrienne Braun erfahren wir, das die Kunsthalle des Schraubenfabrikanten und Kunstmäzens Reinhold Würth aus Schwäbisch Hall jetzt in Oslo eine Zweiggalerie eröffnet hat. Jürgen Berger teilt mit, dass der Heidelberger Intendat Günther Beelitz überraschend auf die Verlängerung seines Vertrages verzichtet hat, und hier kann man lesen, wieso die Bayern nicht die Texaner Deutschlands sind.

Besprochen werden Stephen Norringtons Actionfilm "Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen" (hier ein Kurzporträt von Protagonist Sean Connery), Leander Haußmans Verfilmung von Sven Regeners Roman "Herr Lehmann", die Ausstellung "nackt!" im Frankfurter Städel, Angela Christliebs Film "Cinemania" und Bücher, darunter Alexander Osangs Erzählungsband "Lunkebergs Fest" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 02.10.2003

Warum geht eigentlich alles schief ? fragt Michael Rutschky und liefert Überlegungen zur Apologie des Regierungshandelns: "Die USA führten den Krieg doch, um den Terror zu beseitigen oder wenigstens einzudämmen. Sie hatten eben keine Konzeption, wiederholt der Beobachter. Er wiederholt es auch im Hinblick auf die Reform des Arbeitsmarktes, wo die Vorschläge von Herrn Hartz keineswegs eindeutig die Effekte zeitigen, die er erwartete, höhö. Bloß pflegt das bei allen Plänen (Konzepten) so zu verlaufen (wie jeder aus seiner Lebenserfahrung weiß): In der Verwirklichung ist der Plan selten restlos wiederzuerkennen. Michail Gorbatschow wollte die Ökonomie der Sowjetunion so umgestalten, dass sie endlich funktioniere; am Ende war die Sowjetunion verschwunden."

Weitere Artikel: Ulrich Clewing beschreibt, wie die Berliner Kunstmesse Art Forum mit hoher Qualität um den Klassenerhalt im internationalen Kunstmessenwettbewerb kämpft. Für die Kolumne Times Mager hat Michael Rudolf offensichtlich die Strapazen einer Ballonfahrt auf sich genommen. Jürgen Otten hat wunderbare Konzerte beim Berliner Fest der Kontinente gehört. Und so stellt sich der österreichische Schriftsteller Antonio Fian ein Gespräch zwischen Fernsehpastor Fliege und Rainer Maria Rilke vor.

Besprochen werden die Ausstellung "nackt!" im Frankfurter Städelmuseum und Calixto Bieitos erfolgreiche Inszenierung von Verdis "La Traviata" in Hannover.

TAZ, 02.10.2003

"Mich überzeugt der Plan, nicht nur das Vertreibungsschicksal der Ostpreußen, Schlesier oder Sudetendeutschen zu untersuchen", schreibt der Historiker Julius H. Schoeps auf der Meinungsseite in einem Plädoyer für das umstrittene Europäische Zentrum gegen Vertreibung, "sondern auch jenes der Albaner, Armenier, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Georgier, Inguschen, Krimtartaren, Polen, der Sinti und Roma, der Tschetschenen und Zyprioten griechischer Herkunft. Alle diese Volksgruppen sind Vertreibungsmaßnahmen unterworfen gewesen und haben ein ähnliches Schicksal wie die deutschen Vertriebenen erlitten. Jede dieser Gruppen hat schmerzhafte Erfahrungen gemacht, die heute aus unterschiedlichen Gründen beschwiegen, verdrängt oder schlicht geleugnet werden."

Besprochen werden Christoph Marthalers Abgesang auf seine Züricher Zeit "Das Goldene Zeitalter" am Zürcher Schauspielhaus, Fred Schepisis Film "Es bleibt in der Familie" mit Kirk und Michael Douglas, Leander Haußmanns Verfilmung des Regener-Romans "Herr Lehmann", Steven Norringtons Film "Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen" mit Sean Connery, Andreas Hartmann stellt die Comic-Reihe vor, auf der der Actionfilm basiert. Und Michael Braun hat sich noch einmal Oliver Stones Castro-Porträt "Comandante" angesehen: Stone musste auf Wunsch des Fernsehsenders HBO auf Kuba nachdrehen.

Schließlich TOM.

NZZ, 02.10.2003

Im Grunde wisse ja "jeder ehemalige DDR-Mensch, dass seine Identitätsfindung niemals über Konsumgüter stattgefunden hat", schreibt der (1953 in Ostberlin geborene) Schriftsteller Reinhard Jirgl. Deshalb wundert er sich auch über die derzeitige Ostalgie-Welle mit der Wiederauferstehung scheinbar identitätsstiftender DDR-Produkte: "Je schneller der Warenzyklus dreht, desto rascher unterliegen Ware und Kundschaft zentrifugalen Kräften. In solch letaler 'Atomisierungstendenz' scheinen mir die Kommerzialisierung von Historie und die ephemere, rückwärts gewandte Identitätssuche mit dem Kadaver DDR in eins zu fallen. Ihn nachträglich zu schönen, zeugt von tiefer narzisstischer Kränkung im Heute. Und in der verbissen hergezeigten guten Laune, mit der solch nostalgischen Neigungen öffentlich gefrönt wird, erkenne ich vor diesem Hintergrund nur noch eine Form von Selbstverstümmelung. Statt ironischer Gesellschaftskritik also vollkommen unironisch die selbst verfügte und somit selbst verschuldete Entmündigung inmitten ohnehin mediatisierten Daseins."

Max Nyffeler beschreibt die Erfolgsgeschichte des französischen Klassiklabels "Harmonia Mundi", das sich trotz der allseits beweinten Situation der Musikindustrie international etabliert hat. Immerhin "bringt das Label mit dem Schwerpunkt vorklassische Musik heute pro Jahr rund fünfzig Neuproduktionen heraus, weit mehr als die ächzenden Majors, die sich seit Jahren vorwiegend auf Wiederveröffentlichungen beschränken."

Besprochen wird eine Ausstellung im Historischen Museum Basel, die dem Modeschöpfer Fred Spillmann gewidmet ist und Bücher, darunter die Wladimir Makanins Roman "Underground oder ein Held unserer Zeit" und Pavel Lemberskys Erzählungen "Fluss Nr.7" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 02.10.2003

Wolfgang Büscher ("Berlin - Moskau") hat darüber nachgedacht, warum die achtziger Jahre so populär sind. Das hat alles mit Hitler zu tun, meint er. "Was ist denn die ganze nostalgische Liebe zu den achtziger Jahren, die putzige Ostalgiewelle anderes als der Versuch, so etwas wie eine kleine, aber genießbare Geschichte auf dem kleinen, aber nicht kontaminierten Zeitacker n. A.H. zu pflanzen? Eine neue Geschichte, sehr jung, sehr einsam, sehr arm: ohne weise Großväter, alle Brücken verbrannt. Aber mit einem unschätzbaren Vorteil, den sämtliche Großväter egal welcher Generation zeitlebens nicht kannten: mit Happy End. Wann gab es das zuletzt: deutsche Geschichte mit Happy End? Im Mai 1945? Im November 1918? Beim ersten Versailles im Januar 1871?"

FAZ, 02.10.2003

Eleonore Büning schildert den äußerst misslichen Zustand der demnächst vereinigten Berliner Opern, die trotz der Hilfe durch Kulturstaatsministerin Christina Weiss Hunderte von Stellen streichen müssen und denen wegen der Baufälligkeit der Staatsoper dennoch die Pleite droht. Und Büning warnt: "Berlins Opernstiftung ist kein modellhaftes Rettungsboot, sondern ein Sparstrumpf mit Löchern - eine Kleinkleckersdorf-Reform, die sich über kurz oder lang als probates Instrument erweisen kann zur allerletzten 'Rettung': einer Opernfusion."

Weitere Artikel: "Si." kommentiert die Nachricht, dass an die Stelle des abzureißenden Palastes der Republik "bis weiteres: nichts", und schon gar kein Stadtschloss treten wird. Heinrich Wefing gibt in einem Zwischenbericht aus Kalifornien Arnold Schwarzenegger gute Chancen und interpretiert dies als "latentes Unbehagen an der repräsentativen Demokratie". Dieter Bartetzko berichtet über die Schwierigkeiten, die in Fragmenten trotz der Zerstörung durch die Taliban erstaunlich gut erhaltenen Bamian-Buddhas zu sichern. Dietmar Dath hat einer Diskussion der beiden altlinken Kombattanten Henryk Broder und Wolfgang Pohrt im Berliner Tempodrom über das "deutsche Massenbewusstsein der Gegenwart" zugehört. Verena Lueken schreibt einen Nachruf auf den Literaten, Herausgeber der Paris Review und Mayflower-Abkömmling George Plimpton. Jürg Altwegg erzählt von dem Buch "Ma fille, Marie", in dem Nadine Trintignant "Trauer und Zorn" über den gewaltsamen Tod ihrer Tochter in die Welt hinausschreit - die Anwälte des Rockstars Bernard Cantat, der sie erschlagen haben soll, wollen es verbieten lassen. "gel." schildert einen Rechtsstreit um Klimt-Gemälde aus dem Nachlass des Sammlers Ferdinand Bloch-Bauer vor dem Supreme Court in Washington. Rainer Hermann berichtet aus Kairo über die bevorstehende Eröffnung einer deutschen Universität im Beisein von Kanzler Schröder.

Auf der Filmseite bespricht Dirk Schümer eine Ausstellung mit Fotografien des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami im Turiner Filmmuseum. Hans-Jörg Rother stellt einige neue ost- und westdeutsche Dokumentarfilme vor. Und Michael Althen beklagt, dass viele Filme bekannter Autorenfilmer heute den Weg in die deutschen Kinos schon gar nicht mehr finden.

Auf der Medienseite greift Jürg Altwegg mehrere Fälschungsskandale in Schweizer Medien (und besonders im Blick) auf. Michael Hanfeld schildert Auseinandersetzungen um die Auslandsberichterstattung im ZDF. Christian Schubert meldet, dass der Independent seit dieser Woche sowohl im Tabloid-, als auch im gewohnten großen Format zu kaufen ist.

Auf der letzten Seite besucht Mark Siemons die Neustadt von Hoyerswerda, die jetzt als Altlast abgerissen wird. Zuvor finden dort noch, wie er eindrücklich reportiert, Diskussionen und Kunstaktionen zum Thema "Schrumpfende Städte" statt - ein Schicksal, das bekanntlich auch dem Westen blüht. Gerhard Stadelmaier porträtiert Friedrich Schirmer, der ab 2005/6 das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg leiten wird. Und Friedmar Apel plädiert gegen jede weitere Erforschung der Quellen von "Eine Frau in Berlin", wie sie von Gustav Seibt in der SZ gefordert wurde, weil sie nur dem "postmodernen Postulat des Konstruktionscharakters aller Realität und der Unmöglichkeit von Bedeutungszuweisungen" widersprechen würde.

Besprochen werden die Comicverfilmung "Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen", das 8. Jazzforum des Jazzinstituts Darmstadt und eine Installation von Jannis Kounellis im Kunsthaus Innsbruck.