Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2003. Die NZZ bietet einen grandiosen Schwerpunkt zur russischen Literatur - unter anderem mit einem Text von Andrzej Stasiuk. In allen Zeitungen wird selbstverständlich der Literaturnobelpreis für J. M. Coetzee kommentiert, und alle Zeitungen sind sich einig: Er hat ihn verdient. Die FAZ bringt eine Erzählung des Autors. Wir verlinken auch auf einen ganz neuen Essay Coetzess in der New York Review.

NZZ, 04.10.2003

Die Beilage "Literatur und Kunst" ist ganz Russland gewidmet, dem Gastland auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Die Schweizer haben das mal wieder am besten gemacht.

Andrzej Stasiuk (mehr hier) erzählt von seinem Russland. Hier der Anfang: "Die früheste Erinnerung an Russland, das damals noch die Sowjetunion war, ist eine Erinnerung an lähmende Langeweile. In den frühen siebziger Jahren hatten wir zu Hause einen Schwarzweißfernseher, und die schlimmste Tortur waren die sich endlos hinziehenden Reden sowjetischer Führer. Unsere redeten auch weitschweifig, sinnlos, an hölzerne Marionetten erinnernd, doch ihre Präsenz auf dem Bildschirm erschien uns natürlich. Sie waren einfach eine gewisse Kontinuität der langweiligen Welt der Erwachsenen, mit der man sich abfinden musste, so wie man sich mit den zu erledigenden Aufgaben abfand. Wenn jedoch Breschnew oder Kossygin auftauchte, wehte einem vom Fernseher eine erdrückende, greifbare Leere entgegen. Während die Gomulkas und Giereks trotz allem Repräsentanten einer bestimmten Wirklichkeit waren, traten die sowjetischen Führer nur als Zeichen des Nichts auf. Hinter ihrer monotonen Präsenz steckte nichts. Sie konnten nicht einmal für einen Moment die kindliche Aufmerksamkeit fesseln. Sie wirkten wie leblose Mineralien."

Wladimir Sorokin (mehr hier) wagt einen "kleinen Versuch über Russland und seine große Müdigkeit": "Russland will schlafen. Russland ist müde. Von Kriegen und Revolutionen, von Tschernobyl und Perestroika, von schwachen Zaren und starken Diktatoren, von Weißen und Roten, von Kommunisten und Demokraten. Am meisten ermüdet aber ist Russland von Ideen. Das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch war Russland Versuchsgelände für Ideen, fremde wie eigene."

Weitere Artikel: Ulrich M. Schmid denkt über das Bild nach, das wir Westler "uns von Russland mach(t)en". Felix Philipp Ingold stellt russische Gegenwartsliteratur vor. Sonja Margolina beschreibt die russische Verlagsszene nach dem Zusammenbruch des Sozialismus. Und Marina Rumjanzewa erklärt uns den Vorrang des Verbalen in der russischen Kultur. 

Im Feuilleton ist die Rede abgedruckt, die Imre Kertesz (mehr hier) zur Feier der deutschen Wiedervereinigung in Magdeburg hielt. Andreas Wilink beschreibt Saisonstart und Intendantenwechsel an Rhein und Ruhr. Michael Mayer schreibt zum 100. Geburtstag des Psychiaters Medard Boss. Und Beatrice Eichmann-Leutenegger meldet neue Funde aus Brechts Schweizer Zeit.

Besprochen werden Bücher, darunter eine neue Geschichte der russischen Literatur (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.10.2003

J. M. Coetzee auch in der SZ: Lothar Müller preist den künftigen Nobelpreisträger als Meister aus Afrika. Besonders hat es ihm Coetzees fiktive Autorin Elizabeth Costello angetan. "Mrs. Costello hält skandalöse Vorträge über Massentierschlachtung, Auschwitz und die Götter Hölderlins. Sie ist eine unerbittliche Moralistin wie ihr Autor, ein mobiles Einsatzkommando der Literatur, das eine Spur intellektueller Verzweiflung hinter sich zurücklässt." Zur Ergänzung druckt die SZ eine Passage aus Coetzees jüngst erschienenen "Acht Vorlesungen", und zwar seine Version des Chandos-Briefs.

Wir verweisen auf den Link des Tages im Perlentaucher. Dort verlinken wir auch auf einen ganz neuen Essay Coetzees in der New York Review of Books.

Weitere Artikel: Volker Breidecker freut sich schon auf die Auswertung des in Zürich entdeckten Arbeitsdepots von Bertolt Brecht. Dieter Bohlens zweites Buch darf vorerst nicht ausgeliefert werden, eine etwas frustrierte Julia Encke ist sich aber sicher, dass es auch nach etwaigen Änderungen trotz allem wieder zu Tausenden über die Ladentische gehen wird. Was sonst? Ijoma Mangold meldet, dass Random House die Verlage Econ Ullstein List nun an die Bonnier Gruppe verkauft. "dip" mokiert sich über die geplanten Kultureinsparungen in Nordrhein Westfalen. Thomas Thieringer schreibt zum Tod des Schauspielers Gunther Philipp, der außerdem einmal schnellster Brustschwimmer Europas war. Jürgen Berger glaubt, dass das Stuttgarter Modell der vier gleichberechtigten Intendanten auch in Zukunft möglich sein wird. Die Bundesrepublik begann mit einem moralischen Desaster, weiß Arno Orzessek nach einer Tagung über Nazi-Eliten nach dem Krieg. Kristina Maidt-Zinke referiert eine Tagung über Adornos Einfluss auf die Musik. Friedrich Wilhelm Graf stellt einen Brief von Adolf Harnack an Hans Pöhlmann aus dem Jahr 1910 vor.

Auf der Medienseite porträtiert Claudia Tieschky Peter Sodann, seines Zeichens sowohl Tatort-Kommissar als auch Intendant.

Besprochen werden Sandra Wernecks unerbittlich klarer Film "Amores possiveis", Fred Schepisis Streifen "Es bleibt in der Familie" mit vier Mitgliedern der Douglas-Schauspielerdynastie, ein Konzert mit "Console", "The Notwist" und vier weiteren Bands aus der gleichen bayerischen Kleinstadt, die unter dem Titel "Weilheim auf Achse" durch Deutschland ziehen, eine Schau mit dem grafischen Werk des Schweizer Zeichners Rudolf Meyer in der Alten Pinakothek München, die Retrospektive des Architekten Daniel Libeskind im Jüdischen Museum in Berlin, Niklaus Helblings Inszenierung von Goethes "Tasso" am Schauspiel Köln, die Uraufführung von Mauricio Kagels TheaterKonzert in Duisburg, und Bücher, darunter die von Giuliano Campioni betreute Rekonstruktion von Nietzsches persönlicher Bibliothek, Matthew Battles Geschichte der Bibliothek sowie "Cäsars Schatten", Michael Thimanns glänzende Geschichte des Büchersammlers Friedrich Gundolf (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende sinniert der Schriftsteller Arnold Stadler (mehr) auf das Schönste über seine Heimat, den von ihm so getauften Fleckviehgau. "Seit der Landnahme der Alemannen (rote Zahl im Geschichtsunterricht: 250 nach Christus) gab es bis zum Dreißigjährigen Krieg und dann erst recht bis nach dem Zweiten Weltkrieg und den Russen, die die letzten Jahre kamen, wenig Fluktuation. Anders gesagt: es ist eine relativ überschaubare Zahl, die am sogenannten Geschlechtsverkehr (noch so ein Unwort der deutschen Sprache, das eigentlich aus dem Verkehr gezogen gehört) teilnahm. Und so sind wir alle irgendwie miteinander verwandt im Geniewinkel. Aber da dies doch kein richtiger Name ist, habe ich die Gegend Fleckviehgau getauft."

Des weiteren: Holger Gertz meditiert über die Allmacht des Fußballs und wie er uns alle retten kann. Der Autor Eckhart Nickel (mehr) schreibt eine Hommage an den ZDF-Nachrichtensprecher Claus Kleber, der so gut aussieht, dass er nicht schlecht sein kann: "Gibt es ein sprechenderes Detail für die Geradlinigkeit eines Menschen als diese älteste und souveränste Form, mit der Herren ihr Haar teilen können?" Auf der letzten Seite spricht Schauspieler Christoph Waltz mit Alexander Gorkow über die Posen des Lebens und seinen achtmonatigen Sohn, der posenlos eine Fliege zermatscht.

TAZ, 04.10.2003

Der Soziologe Peter Fuchs bricht eine Lanze für die sogenannten Abweichler innerhalb der SPD-Fraktion. "Wo, wenn nicht dort, müsste die renitente Intelligenz von unten Heimatrecht haben? Ging es nicht gerade im sozialdemokratischen Projekt um Widerstand gegen die da oben, die Basta-Sager dieser Welt? Gegen die Verbote, selbstständig zu denken?" Das scheint sich mittlerweile erledigt zu haben: "Die Oberen (die Bonzen?) schwingen die Knute, sie erzwingen paradoxen Konsens. Sie erpressen die Mitglieder der Fraktion, und man macht keine überflüssige Anmerkung, wenn man darauf verweist, dass im Wort Fraktion der Bruch und das Brechen schon angelegt ist, allerdings nicht als Struktur, in der es um das Brechen von Willen geht."

J. M. Coetzee (Kurzporträt) und der Literaturnobelpreis sind bei der taz ein Tagesthema: Punkt für Punkt geht Cristina Nord die Begründung des Nobelpreiskomitees für die Wahl durch und kann nur bestätigen: "Die Landschaften, die Coetzee entwirft, sind keine Orte des Erhabenen. Sie sind staubig, verlassen und karg, angesiedelt am äußeren Rand der von Menschen bewohnten Gebiete." Martina Schwikoski betont dagegen die große Bedeutung des Preises für die Literaturszene Südafrikas in der Post-Apartheids-Phase.

Auch im Feuilleton geht's um Literatur Katharina Granzin meditiert anhand dreier Romane über das Frauenbild in der russischen Literatur (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Besprochen werden das Tanzstück "Stationen" von Thomas Lehmen, das im Berliner Podewil Premiere feierte, Troy Millers mittelmäßiger Film Dumm und Dümmerer und das solide Art Forum für Gegenwartskunst in Berlin.

Phillip Maußhardt bedauert auf der Meinungsseite die Zeitungsverleger, die, vom Machtvirus zerfressen, sich alle irgendwann für die "Herrgöttle von Biberach" halten. Auf der Medienseite verabschiedet Jenny Zylka den "Scheibenwischer" und Sebastian Sedelmayer erklärt, warum der Verband kommunaler Unternehmer seinen Journalistenpreis einem Hörfunkreporter wieder aberkannt hat.

Im tazmag lesen wir einen Vorabdruck aus Stefan Reineckes Biografie von Otto Schily (Porträt). Darin fragt Reinecke nach den Gründen für den Gesinnungswandel des ehemaligen RAF-Anwalts und jetzigen innenpolitischen "Hardliners": "War es die Entführung der 'Landshut', mit der die RAF eine Aktion akzeptierte, die ihrem eigenen Grundsatz, nie 'das Volk' anzugreifen, beiseite fegte? War es das in Entebbe endende Kidnapping eines Airbus der Air France, der Tod der jüdischen Geisel Dora Bloch? Der Mord an Siegfried Buback? An Gerold von Braunmühl?" Reineckes Fazit wird Schily nicht freuen. "Er ist ein Jurist, der sich an die Regeln hält. Er ist ein Politiker, der weiter kommen will. Und er hat weder Lust noch Talent, zurückzuschauen."

Außerdem: Annette Jensen stellt fest, dass sich die Lage der arbeitenden Mädchen und Jungen Nicaraguas nach dem Verbot der Kinderarbeit (Hintergrund) verschlechtert hat. Andrea Roedig erinnert an den Philosophen Otto Weininger (sein Leben), der die "Auslöschung der Geschlechter" betrieb und sich heute vor hundert Jahren erschossen hat. Dorothea Hahn verfasst einen Nachruf auf den belgischen Liedermacher Jacques Brel (Porträt), der nun seit fünfundzwanzig Jahren tot ist, gerade aber eine zumindest musikalische Renaissance erlebt.

FR, 04.10.2003

J. M. Coetzee beschäftigt die FR gleich dreifach: Sehr zufrieden zeigt sich Ina Hartwig mit der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, der mit dem Literatur-Nobelpreis für Coetzee schon wieder eine "tadellose, beglückende Wahl" gelungen sei. Wie bei Imre Kertesz verbindet sich bei Coetzee eine "als Katastrophe erfahrene, große historische Strömung mit einer literarischen Bewältigung höchsten Ranges." Im nachfolgenden Porträt beschreibt Peter Michalzik den südafrikanischen Autor als Kafka-Verwandten mit einem "Hang zum Vegetativen". Christian Thomas widmet sich der sportlichen Spannung, die die Kür des Nobelpreises alljährlich in der Welt der Literatur auslöst. In ihrer Kolumne Zimt gelingt es schließlich Renee Zucker, noch 50 000 auf dem Ozean umherirrende Schafe mit Coetzee in Verbindung zu bringen.

Weitere Artikel: Udo Feist gräbt nach der Wurzel der "christlichen Schizophrenie der US-Rockkultur" und stößt auf den eloquenten Erweckungs-Priester Jonathan Edwards, der vor 300 Jahren geboren wurde. Hannelore Schlaffer zögert, den Philosophen Otto Weininger zu würdigen, der nicht nur nach Ansicht seiner damaligen Doktorväter die "schärfste, abschätzigste Beurteilung des weiblichen Geschlechts" abgeliefert hatte, "die theoretisch überhaupt jemals formuliert" wurde.

Auf der Medienseite tröstet Judith von Sternburg alle Freunde Dieter Hildebrandts: es geht weiter mit dem Scheibenwischer, allerdings ist Hildebrandt in Zukunft nur noch Gast. Alexander von Streit stellt den neuen Stolz des ZDF vor: computer-animierte Geschichtsdokumentationen. Eine einsame Besprechung widmet sich Andre Wilms' ausprobierenswertem Beckett-Abend mit kurzen Stücken im Schauspiel Frankfurt.

Die neue FR zeigt sich nicht gerade freigiebig und verweigert den Internet-Lesern das Magazin am Wochenende: Nur im Print zu lesen ist etwa ein Interview mit Roger Willemsen sowie das Porträt des Korsakow-Syndroms. Hoffen wir also, dass nun die Auflage der Zeitung steigt.

FAZ, 04.10.2003

Die FAZ präsentiert heute einen bisher noch nicht auf Deutsch veröffentlichten Text des neuen Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee. Es sind Erinnerungen an seine Zeit in Texas. Hier der Anfang: "Im September 1965 (das ist ein Essay, der keinen anderen Anfang haben kann) kam ich auf einem italienischen Schiff, früher als Truppentransporter genutzt, nun vollgestopft mit jungen Leuten, die aus dem Ausland zum Studium nach Amerika kamen, im Hafen von New York an. Ich kam direkt aus England; ich war fünfundzwanzig, und mein Ziel war Austin, wo die Universität von Texas mir sage und schreibe 2100 Dollar jährlich dafür geben wollte, dass ich Erstsemester in Englisch unterrichtete und gleichzeitig weiterführende Studien betrieb."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay gratuliert Coetzee zum Nobelpreis. Robert von Lucius porträtiert Coetzee, Sohn einer "afrikaansen Familie", als Einzelgänger "mit gespaltenen Loyalitäten. Er fühlt mit den Unterdrückten, weiß aber, dass er Teil jener Gruppe ist, die er als Sklavenhaltergesellschaft definierte". Felicitas von Lovenberg kündigt den "literarisch aufregendsten" Bücherherbst seit Jahren an. In der Schweiz wurden Dokumente von Brecht entdeckt, berichtet Jürg Altwegg. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften. Andreas Rossmann war bei einem Hintergrundgespräch, zu dem NRW-Kulturminister Michael Vesper eingeladen hatte: Er kündigte "tiefe Einschnitte" an, was sonst. Random House verkauft Econ, Ullstein, List an den schwedischen Medienkonzern Bonnier, berichtet Hannes Hintermeier. Damit werde Bonnier zum dritten großen Player auf dem deutschen Buchmarkt. In einem kleinen Artikel stellt vL. den Bonnier Verlag vor. Edo Reents gratuliert Steve Miller zum Sechzigsten.

Kerstin Holm gibt einen Überblick über die russische Literaturszene. Abgedruckt ist außerdem die Dankesrede des Politologen Wilhelm Hennis zur Verleihung des Reuchlin-Preises. Die in einem wunderbaren Deutsch verfasste Rede hätte auch einen Literaturpreis verdient.

Besprochen werden Mauricio Kagels "TheaterKonzert" bei der Ruhrtriennale in Duisburg, ein Konzert von David Sylvian in der Alten Oper Frankfurt, der Film "Jet Lag" mit Juliette Binoche und Jean Reno und Bücher, darunter Imre Kertesz' neuen Roman "Liquidation" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite lesen wir ein Interview mit den "Ärzten" über ihr neues Doppelalbum "Geräusch". Patrick Bahners und Andreas Rosenfelder, die verzweifelt nach "Strukturen der Wiederholung" forschen, müssen sich den Vorwurf anhören: "Du meinst, du willst uns jetzt fürs Feuilleton interessant machen?". Besprochen werden eine CD mit Orchesterwerken von Frank Michael Beyer und eine Aufnahme von Boccherinis "Stabat Mater". Jürgen Kesting widmet einen Artikel der "hohen Kunst des Übertreibens", die Cecilia Bartoli auszeichnet.

In der Frankfurter Anthologie stellt Eckart Kleßmann ein Gedicht von Georg von der Vring vor:

"Einer Toten

Ich geh verödete Wege
Und frage, ob du es weißt;
Abends am Weg, den ich gehe,
Frag ich, ob du es weißt.

Ob mir Orion bekunde,
Daß dein Auge mich sieht;
Daß in sternloser Runde
Dennoch dein Auge mich sieht.
..."