Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2003. Nieder mit dem Kopftuch!, ruft Richard Wagner in der Welt. Die SZ liest die geistliche Anleitung der Attentäter vom 11. September als eliminatorische Eschatologie. Außerdem fängt die Buchmesse an: In der FR wirft György Dalos einen ungarischen Blick auf Russland. In der taz weiß Wladimir Kaminer, was russische Frauen wollen. In der FAZ gibt sich Viktor Jerofejew als vergnüglicher Fremdenführer.

Welt, 07.10.2003

Weg mit dem Kopftuch!, fordert Richard Wagner (mehr) in der Welt: "Der Kampf um eine Gesellschaft ist auch ein Kampf um ihr Erscheinungsbild. Gerade weil Symbole in der kollektiven Imagination eine bedeutende Kraft entfalten,

sollte man in solchen Fragen unduldsam sein. Viel mehr junge Frauen aus den islamischen Einwanderergruppen tragen heute das Kopftuch als noch vor einem Jahrzehnt. Wir aber lassen durch die falsche Toleranz jene moslemischen Frauen allein, die für eine Modernisierung ihrer Lebenswelt eintreten und ihre individuelle Freiheit ausleben wollen."

SZ, 07.10.2003

Ist die neu übersetzte und analysierte "geistliche Anleitung" für die Attentäter des 11. Septembers die "Gründungsurkunde einer Terrorreligion?", fragt sich Alexander Kissler, nachdem das Dokument jetzt in Erfurt vorgestellt wurde. "Auf jeden Fall zeichnet die 'Anleitung' ein hässliches Bild vom Islam: das Bild einer hermetisch abgeschlossenen, kampfbereiten Bruderschaft, die die 'Ungläubigen' ausrotten will. Die Endzeit wollten die Attentäter einläuten, das letzte Gefecht, den 'Augenblick der Wahrheit'. Vielleicht begann am 11. September 2001 eine neue Form des Terrors: die eliminatorische Eschatologie".

Aus der "erstaunlichen Häufung" in Frankreich erschienener (selbst)kritischer Publikationen leitet Johannes Willms ab, dass das Land offenbar an seinem "Rollenanspruch" zu zweifeln beginnt. Zwar sei die Kritik, die in den drei von ihm angeführten Büchern an der französischen Politik geäußert werde, "keineswegs neu. Bemerkenswert daran aber ist neben ihrer argumentativen Dichte der Umstand, dass sie von Franzosen vorgetragen wird, die ausnahmslos dem politischen Establishment zuzurechnen sind. Das dürfte das erhebliche Aufsehen erklären, das sie in Frankreich erregen."

Weitere Artikel: Sabine Kebir berichtet von der Buchmesse in Algier, auf der "Freiheit und Zensur" offenbar Stand an Stand stehen. Zitat eines libanesischen Verlegers für moderne Musikliteratur: "Nicht, dass ich etwas gegen religiöse Literatur habe. Aber in dieser Umgebung ist mein Stand sinnlos." In einer "Großen Anrufung des Heiligen Franziskus" fordert Robert Gernhard die Rettung des Buchfinks ("wehre seinen italienischen Jägern!"). Klaus Podak informiert über die Simon Mayr-Tage in Ingolstadt, ein "kühnes Unternehmen", mit dem die Stadt ihren "Vater der italienischen Oper" feiert, einen "fast vergessenen" Komponisten. In der "Zwischenzeit" räsoniert Wolfgang Schreiber anlässlich eines Grabbelkiste-Bücherfunds über "Dichten und Trachten", was natürlich nicht das bedeutet, was man zunächst denkt. Und "mea" macht sich Gedanken über Raubkatzenangriffe auf Prominente und Überhauptnichtprominente ("die Natur schlägt zurück").

Besprochen werden eine "sehr sorgfältig recherchierte und anschaulich präsentierte" Rehabilitation des von seiner "nationalsozialistischen Vergangenheit schwer belasteten" Architekten Paul Schmitthenner im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, ein "repräsentativer Querschnitt" von Cy Twomblys Arbeiten auf Papier in der Münchner Pinakothek der Moderne, eine "herrliche" Ausstellung anlässlich des 25. Todesjahres von Jacques Brel im Brüsseler Kulturzentrum an der Rue l?Ecuyer und eine Schau im Stadtmuseum Ulm über die Bürgerinnen der Reichsstadt. Des weiteren Sebastian Hartmanns Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang" an der Wiener Burg, Johannes Leppers Start am Theater Oberhausen mit Sophokles? "König Ödipus" und - im selben Bühnenbild - "Alice" nach Lewis Carroll, sowie Werner Fritschs "veroperter monströser letzter Monolog" "Jenseits" in Bonn (hier). Vorgestellt wird außerdem der umstrittene Eta-Film "La pelota vasca, la piel contra la piedra" (Das baskische Spiel, die Haut gegen den Stein) von Julio Medem.

Rezensiert werden das bisher nur auf französisch erschienene Buch von Christine Ockrent über Francoise Giroud, ein Familienporträt des Künstlerenkels Olivier Widmaier Picasso, das neue Buch von Michael Moore, "Querschüsse. Downsize this", eine Untersuchung über Piraten der frühen Neuzeit, eine Neuausgabe von "Anna Karenina" und die Studie "Hitlers Urenkel" über das "Innenleben rechter Täter" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 07.10.2003

Mit gleich drei Texten begeht die FR den heutigen Beginn der 54. Frankfurter Buchmesse. Der Schriftsteller György Dalos (mehr hier) wirft einen "ungarischen Blick auf das Gastland" Russland. "Alles, was mit Terror, Unfreiheit, Ausbeutung, Unmündigkeit, Lüge oder einfach Dummheit zusammenhing, war in zynischer Weise mit der russischen Sprache verknüpft, die in allen Schulen des Landes obligatorisch wurde. Viele Straßennamen hat man bis zur Unkenntlichkeit verändert, wovon ein Witz jener Jahre zeugt: Jemand aus der Provinz sucht in Budapest Arbeit, hat jedoch nur einen alten Stadtplan. Nirgendwo findet er sich zurecht: Der Theresienring heißt nämlich Lenin körut, die Andrassy-Allee Sztalin ut, die Zollhausstraße trägt den Namen des Marschalls Tolbuchin und der Vigado-ter denjenigen des sowjetischen Außenministers Molotow. Entnervt setzt er sich an das Donauufer. Ein Polizist wird aufmerksam und fragt: "Was machen sie hier, mein Herr?" "Ich, nichts", entgegnet der Mann. "Ich sitze nur und schaue, wie die Wolga fließt."

In einem weiteren Artikel erklärt Karl Grobe die "Mission" der Veranstaltung: "mitzuhelfen, das aufblühen zu lassen, was so mühsam wächst - Russlands Zivilgesellschaft, um des Friedens willen". Und in der Kolumne Times mager berichtet Harry Nutt von einem Besuch seiner alten Wahlheimat Berlin, wo er ein buchstäblich leuchtendes Beispiel für einen "sentimentalischen Kapitalismus" gefunden hat, der dem Verlags- und Buchhandelswesen nicht ganz fremd sein dürfe.

Hans-Jürgen Linke resümiert das 50. Deutsche Jazzfestival, und Christoph Schröder fragt sich, ob die Fusion der Verlage Ullstein Heyne List der "letzte Konflikt einer Branche in der Krise" war. Auf der Medienseite erklärt Florian Hassel, wie Moskau kritische Journalisten durch simple Marginalisierung kaltstellt.

Besprochen werden Gerhart Hauptmanns Alterswerk "Vor Sonnenuntergang" in der Inszenierung von Sebastian Hartmann am Wiener Burgtheater und die Uraufführung von Bernhard Langs "Theater der Wiederholungen" im Rahmen des Steirischen Herbsts in Graz.

TAZ, 07.10.2003

Wladimir Kaminer eröffnet die heute beginnende Frankfurter Buchmesse, auf der die Literatur des diesjährigen Gastlands Russland seiner Meinung nach sehr "ordentlich abgehakt" werden wird. Die dort derzeit gepflegte "traurige Trashliteratur" findet er "zwar oft sehr spannend", sie lande "aber so gut wie nie auf den russischen Bestsellerlisten. Das hat damit zu tun, dass der russische Durchschnittsleser laut Statistik eine Frau um die fünfzig ist. Und diese Frau hat genau wie ihre deutschen oder amerikanischen Schwestern auf die Trostlosigkeit und den Drogenwahn der neuen Zeit geschissen. Sie will über Liebe lesen. Gern auch unglückliche Liebe. Sie darf ein wenig ausgefallen sein, mit Peitsche oder sogar mit dem Tod am Ende. Was sie nun wirklich lesen will, das wissen die Schriftsteller-Weibchen besser als die Männchen. Und sie schreiben das auch. Frau Ulitzkaja zum Beispiel hat einen Roman geschrieben, in dem sich ein älterer Arzt in die Gebärmutter seiner Patientin verliebt, obwohl es so viele andere schöne Organe gibt. Ich habe nichts dagegen zu sagen, es ist eben Geschmackssache - diese Liebesromane."

Weniger als Geschmacksache, sondern als "saisonal wiederkehrende Kulturkatastrophe" und "prototypischer Repräsentant Deutschlands im Jahre 2003" analysiert Tobias Rapp die Rollen von Dieter Bohlen. Benno Schirrmeister lobt das Bremer Kunstprojekt "Niemand ist eine Insel", in dem unter anderem Bierfilze zum Einsatz kommen."GBR" kommentiert den Ausverkauf bei Random House als "Ende fast ohne Schrecken".

Besprochen werden Louis Begleys neuer Roman "Schiffbruch", Cornelia Funkes "Tintenherz", "Das Orangenmädchen" von Jostein Gaarder, "Im Reich des Goldenen Drachen" von Isabel Allende (alle hier), sowie mehrere aktuelle Studien und Analysen zu den USA, darunter "Die ohnmächtige Supermacht" von Michael Mann, "Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie" von Chalmers Johnson und "Weltmacht Amerika. Das neue Rom" von Peter Bender. Auf der Medienseite wird noch eine Untersuchung über "Friedensjournalismus. Wie Medien deeskalierend berichten können" vorgestellt (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

NZZ, 07.10.2003

"Edward Said ist gestorben, Bernard Lewis hat ihn überlebt", stellt Arnold Hottinger lakonisch fest, meint aber, man sollte dies nicht auf ihre Werke übertragen. Denn so gescheit Lewis (mehr hier) auch sei, ganz unrecht hatte Said (mehr hier) nicht, meint Hottinger, der zur Versöhnung der beiden anhebt: "Beide vertreten ihre Sicht mit solcher Brillanz, dass man zurücktreten muss, um zu erkennen: Nicht alle Orientalisten waren und sind immer intellektuelle Wegbereiter der Fremdherrschaft; aber auch: Die Kolonisierbarkeit der einstigen islamischen Hochkulturen ist nicht einfach durch ihnen innewohnende Entwicklungsschwächen bedingt."

Marc Zitzmann porträtiert mit Blick auf die Pariser Kulturszene Bartabas (mehr hier), den Erfinder des "Reittheaters", ein mal sublimes, mal lächerliches "Gesamtkunstwerk um die Beziehung zwischen Pferden und Menschen". Zu lesen ist des weiteren David Albaharis (mehr hier) Kurzgeschichte "Mein Ehemann".

Besprochen werden die noch in Berlin, demnächst in Bonn gezeigte Ausstellung chinesischer Kunst "Schätze der Himmelssöhne" und Gabriele Söhlings Nossack-Biografie.

Außerdem bringt die NZZ heute ihre Literaturbeilage zur Buchmesse, die wir in den nächsten Tagen auswerten werden.

FAZ, 07.10.2003

Zum Auftakt der Buchmesse gibt sich Viktor Jerofejew (mehr) als vergnüglicher Fremdenführer und macht uns mit ein paar Eigenheiten seiner russischen Kollegen vertraut: "Das wichtigste Merkmal des Schriftstellers im heutigen Russland ist seine Fähigkeit, Urteile abzugeben. Der russische Schriftsteller urteilt schnell über alles, und dies oft kompromisslos: Dieser Kellner erscheint ihm als schlecht und jener noch viel schlechter. Ebenso entschieden urteilt er über Minister oder Kollegen. Manchmal kommt er im Eifer des Gefechts plötzlich zu der Überzeugung, dass er das Anrecht auf die Wahrheit besitze. So dass also Leute nach Frankfurt reisen, die mindestens hundert Wahrheiten im Gepäck mitführen, vielleicht sogar noch mehr, denn der russische Schriftsteller hat bisweilen morgens die eine Vorstellung von der Wahrheit und abends eine andere. Und nachts eine dritte."

In einem kurzen Text antwortet Amos Oz (mehr) auf die Frage der FAZ, ob er glaubt, etwas verändern zu können. "Mein 'Einfluss' ist der eines Teelöffels voll Wasser angesichts eines großen Waldbrands. Ich bin also ein Mann des Teelöffels. Vielleicht ist es Zeit, den 'Teelöffelorden' zu gründen, dessen Mitglieder einen kleinen Teelöffel am Revers tragen. Aber was kann der einzelne denn anderes tun, wenn er nur Stift und Papier hat?"

Weitere Artikel: Der Strafrechtler Walter Grasnick sieht in der Neukommentierung des Grundgesetzes nicht den Anfang vom Ende der Menschenwürde wie sein Kollege Ernst-Wolfgang Böckenförde (siehe Feuilletonrundschau vom 3. September). Nach den Kampfpiloten protestieren nun auch die israelischen Dichter gegen das staatlich sanktionierte Töten von Palästinensern, weiß Joseph Croitoru. Hannes Hintermeier meditiert über Gemeinsamkeiten zwischen dem Rächer Jack Reacher, dem Autor Lee Child und dem Random-House-Chef Peter Olson. Politik und Literatur, also Joschka Fischer bei Elke Heidenreich, das kann auf Dauer nicht gutgehen, meint Christian Geyer. Robert von Lucius notiert, wie Lettland beginnt, sich an Mark Rothko zu erinnern. Frank Pergande hofft, dass Erich Mendelsohns Fabrikbau in Luckenwalde nach Aufmerksamkeit nun auch Rettung widerfährt. Gemeldet wird, dass Norwegen seine seit 1913 bestehende Filmzensur gänzlich aufhebt.

Auf der Medienseite skizziert Kerstin Holm die Besitzverhältnisse auf dem russischen Medienmarkt. Michael Seewald lässt sich von br-Filmchef Hubert von Spreti die nicht immer intelligente Filmpolitik der ARD erklären.

Die letzte Seite ist einer großen Anklage gegen die Rechtschreibreform gewidmet, mit sieben Fragen an die Orthographie und noch mehr unterzeichnenden Schriftstellern. Andreas Rosenfelder sinniert über den Ötzi in uns, Karol Sauerland reflektiert den Stand der Forschung zur Okkupation Polens nach dem Ende des Hitler-Stalin-Pakts.

Besprochen werden Heimo Zobernigs Ausstellung im K21 Düsseldorf, Sebastian Hartmanns Inszenierung von Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang" mit einem wunderbaren Martin Schwab im Burgtheater, Stephan Rottkamps Version von Marieluise Fleißers "Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen" in Freiburg, das Deutsche Jazzfestival Frankfurt zwischen Grüezi-Swing und Norwegen-Groove sowie Oliver Jahraus' Untersuchung zu "Literatur als Medium".

Auch die FAZ bringt heute ihre Literaturbeilage. Im Aufmacher bespricht Hubert Spiegel Wladimir Makanins Roman "Underground oder ein Held unserer Zeit".