Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2003. In der Welt fordert Andre Glucksmann die Pazifisten auf, doch mal gegen Putins Tschetschenienpolitik zu protestieren. Die FAZ staunt über Arnold Schwarzeneggers professionelle Kaltschnäuzigkeit. Die NZZ erinnert an Laure. In der FR erklärt Boris Groys den Unterschied zwischen west- und osteuropäischer Kunst. In der taz fabuliert Alberto Ruy Sanchez über die Jungfrau von Guadelupe. In der SZ streitet Wolfgang Sofsky für das Prinzip der Dezision.

Welt, 08.10.2003

Andre Glucksmann kann einfach nicht begreifen, warum sich niemand für den russischen Vernichtungsfeldzug in Tschetschenien interessiert: "Die weltweite Kapitulation vor dem Gemetzel im Kaukasus ist ein Fehler. Die demokratischen Regierungen und die Millionen Anti-Kriegs-Demonstranten, die gegen Bush, nicht jedoch gegen Putin auf die Straßen gezogen sind: Sie sind schuldig, der Auslöschung eines Volkes zugesehen zu haben, ohne ihm zu helfen."
Für Glucksmann liegt auf der Hand, dass sich die afghanische Tragödie in Tschetschenien wiederholen wird. "Wie lange wird es dauern, bis aus den Überlebenden der 'Reinigungen' Selbstmordattentäter werden? Die terroristische Bedrohung lässt viele glauben, dass Putins Politik der 'Endlösung' richtig sei: keine Tschetschenen - keine terroristische Bedrohung. Indem Pazifisten und Staatskanzleien schweigen, stellen sie dieser Politik den Blankoscheck aus."

FAZ, 08.10.2003

Arnold Schwarzenegger hat die Journalisten bravourös gegeneinander ausgespielt, notiert Heinrich Wefing, und kommt im Folgenden nicht umhin, Arnies professionelle Kaltschnäuzigkeit zu bewundern. "Er hat sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, so zu tun, als lasse er sich auf argumentative Auseinandersetzungen mit ernsthaften Journalisten ein. Keiner der großen Zeitungen in Kalifornien hat er ein längeres Interview gewährt, und selbst der Reporter der einflußreichen New York Times wurde während der viertägigen Bustour mit acht Minuten Zugang zum demolition man abgespeist - ein veritabler Affront, den sich kein republikanischer Präsidentschaftsbewerber je geleistet hat."

Trotz aller Neuerscheinungen steckt die russische Literatur in einer schweren, vielleicht letzten Krise, gibt Felix Philipp Ingold schwermütig zu bedenken. "Auf den russischen Kulturherbst, so hell und warm er auch sein mag, dürfte ein strenger Winter folgen."

Weitere Artikel: In einem Leitartikel beklagt Christian Geyer den Mangel an "durchgeknallten Büchern", womit er den "Schrift gewordenen Irrtum auf hohem Niveau" meint. Warum nicht Hans Rehbergs U-Boot-Drama "Wölfe" aufführen, meint Gerhard Stadelmaier, wenn die "jüngeren dramatischen Fische vom Jahrgang 2003 ... keinesfalls frischer" wirken. Hannes Hintermeier protokolliert die Eröffnung der Frankfurter Buchmesse. In der Leitglosse lästert Edo Reents über gesichtslose Verkehrsminister und die Stümper von Toll Collect. "lac" staunt, dass Wien sich eine dritte Oper leistet. Auf der letzten Seite beschreibt Stefan Weidner eine Reihe hoffnungsvoller Neuanfänge, die es in Kabul offensichtlich auch gibt. Gina Thomas stellt den neuen britischen Bildungsminister Charles Clarke vor. Lorenz Jäger informiert uns über die Causa Alan M. Dershowitz gegen Norman Finkelstein und andere.

Auf der Medienseite berichtet "miha" über die voraussichtliche Gebührenerhöhung um einen Euro und sieben Cents, die ARD und ZDF ab 2005 400 Millionen zusätzlich in die Kasse spülen soll. Die Stilseite birgt eine Mehdorn-Glosse von Klaus Ungerer und ein Plädoyer für das Kochen als Kunstform von Jürgen Dollase.

Besprochen werden Neil Jordans eleganter Gaunerfilm The Good Thief, Patrick Schlössers vielversprechende Inszenierung von Goldonis "Der Impresario von Smyrna" in Düsseldorf, zwei kontrastreiche Fassungen von Hector Berlioz' mehr als fünfstündiger Oper "Les Troyens" in Amsterdam und Mannheim, eine vage Gedenkausstellung zu Jacques Brel in Brüssel, ein Konzert der brillanten Jazzmusiker Jacky Terrasson, Rigmor Gustaffsson und Nils Landgren, und Bücher, nämlich Gerd Schirrmachers Biographie der wissenschaftlichen Quäkerin "Hertha Kraus" sowie Pavel Lemberskys Geschichtenband "Fluß Nr. 7".

NZZ, 08.10.2003

Stefan Zweifel erinnert an die vor hundert Jahren geborene Laure (bürgerlich: Colette Peignot, mehr), Geliebte von Boris Souvarine und Georges Bataille, von Simone Weil in die Nekrophilie eingeführt. "An ihrem Totenbett entdeckte Bataille ein Bündel mit Schriften, die dann 1976 dank dem erwähnten Protest einer breiteren Öffentlichkeit legal zugänglich gemacht werden konnten. Frankreich, und bald auch Deutschland, entdeckte staunend einen weiblichen Rimbaud, der permanenten Revolte verschrieben. Obszöne Erzählskizzen voll Ekel und Würgeengeln, antiklerikale Ausbrüche, albtraumhafte Kindheitserinnerungen und Gedichte, deren formale Zerrissenheit keine modische Attitüde, sondern innerer Zwang war. Vor allem aber entdeckte man die Keime von Hauptwerken, die dann Männer statt ihrer geschrieben haben" - etwa Michel Leiris oder Georges Bataille. (Mehr über Laure, die mit 35 Jahren starb, finden Sie hier.)

Joachim Güntner beschreibt die "neue Spektakelitis" der Frankfurter Buchmesse: ein Boxring für Muhammad Ali, der "längste Comic der Welt", Auftritte von "Dieter Bohlen, seiner Verflossenen 'Naddel' und seiner TV-Schöpfung Daniel Küblböck". Vor allem die ausländischen Aussteller, so Güntner, sind davon jedoch nicht so begeistert. "Sie betrachten Frankfurt noch immer als Arbeits- und Geschäftsmesse, weshalb es ihnen gar nicht gefällt, dass das Zentrum für die literarischen Agenten in einer abseitigen Halle liegt."

Weitere Artikel: Peter Hagmann war beim Festival "Musica" in Strassburg. Besprochen werden die Retrospektive des Architekten und Nazi-Sympathisanten Paul Schmitthenner (1884-1972) im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und Winfried Menninghaus' Studie über "Das Versprechen der Schönheit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 08.10.2003

Der Kunsttheoretiker Boris Groys erklärt, was die osteuropäische Kunst von der westeuropäischen unterscheidet: ihr kollektiver Charakter. "Wer die osteuropäischen Kunstszenen kennt, weiß, dass dort Künstlergruppen die Regel sind. Meistens manifestieren sie sich konsequent als solche, wie etwa 'Kollektive Aktionen' und 'Medizinische Hermeneutik' in Russland. Das künstlerische Projekt wird also im Osten immer noch als ein potentiell kollektives Projekt verstanden, dem sich auch andere anschließen können - um sich von denen zu unterscheiden, die sich eben nicht anschließen wollen. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zum westlichen Verständnis eines individuellen künstlerischen Projekts, das sich zwar öffentlich kommunizieren lässt, aber keine Anhänger rekrutieren will. Demzufolge sind die westlichen Kunstinstitutionen nicht daran gewöhnt, dass sich aktuelle Kunst als kollektive Aktivität präsentiert."

Weiteres: Silke Hohmann findet es ganz in Ordnung, dass sich die Ärzte nicht weiterentwickeln. Stephan Hilpold erinnert an den österreichischen Schauspieler Helmut Qualtinger, der heute 75 Jahre alt geworden wäre. Christoph Schröder gratuliert dem Hanser Verlag, der tatsächlich fünfundsiebzig geworden ist. In Times mager räumt Jürgen Roth für die Frankfurt-Besucher die Betten frei.

Besprochen werden die große Ilja-Repin-Schau in Berlins Alter Nationalgalerie und Bücher, darunter Jonathan Franzens erst jetzt auf Deutsch erschienener Romanerstling "Die 27ste Stadt", Ulla Lenzes literarisches Roadmovie "Schwester und Bruder" und Eric Hobsbawms Autobiografie "Gefährliche Zeiten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem bringt die FR heute ihre Literaturbeilage (wir bitten den falschen Hinweis gestern zu entschuldigen, da war sie nur kurz im Internet angekündigt.) Im Aufmacher beschreibt Irina Prochorowa die russische Literatur als "ästhetisches Babylon".

TAZ, 08.10.2003

Schöne Geschichten von der Jungfrau von Guadelupe, von aztekischen und modernen Menschenopfern erzählt der mexikanische Schriftsteller und Literaturkritiker Alberto Ruy Sanchez in einem Gespräch mit Joshua Perlman. Außerdem stellt er eine interessante Theorie über die Wertschätzung von Intellektuellen auf: "Eines der Phänomene in den protestantischen Gesellschaften ist das Verschwinden der Intellektuellen aus den wichtigen Zeitungen."

"Diese Buchmesse wird eine gute werden, im Vergleich mit den Ausgaben der beiden Vorjahre möglicherweise sogar eine saugute", fasst Gerrit Bartels den Optimismus der Branche. Thomas Winkler porträtiert Living Colour, "die einzige schwarze Rockband von Rang". Dorothea Hahn erzählt, wie Nadine Trintignant den gewaltsamen Tod ihrer Tochter Marie mithilfe eines eilig geschriebenen Bestsellers verarbeitet. Katrin Kruse hat in der neuesten Ausgabe des Magazins Brand eins die neue Elite gesucht, aber nur schlaue Sprüche über sie gefunden.

Außerdem liegt heute die Literataz bei, die wir in den nächsten Tagen auswerten werden.

Und schließlich Tom.
Stichwörter: Hahn, Dorothea, Optimismus

SZ, 08.10.2003

"Demokratie", erinnert der Soziologe Wolfgang Sofsky (mehr hier), "sieht vor, dass die Mehrheit für alle entscheidet". Vor allem aber, dass sie sich entscheidet. "Die schleichende Entpolitisierung hat das Prinzip der Dezision in Verruf gebracht. Noch immer haftet der Entscheidung der Geruch der Willkür an. Um dem Missbrauch der Macht vorzubeugen, ersann man einst das System der Gewaltenteilung und der Herrschaft des Volkes über sich selbst. Doch heißt Teilung der Macht keinesfalls Verzicht auf Entscheidungen zugunsten endloser Verhandlungen. Gewaltenteilung fordert von jeder Instanz die Entschlüsse, für die sie zuständig ist. Einvernehmliche Kompromisse ändern nur wenig. Sie schleifen nur die Alternativen bis zur Unkenntlichkeit ab, so dass am Ende keine Wahl mehr bleibt."

Weiteres: Lothar Müller spöttelt darüber, wie deutsche Schriftsteller ihre Kollegen in aller Welt gegen die neue Rechtschreibung aufstacheln. Alexander Kissler dröselt auseinander, wie Deutschland und Frankreich bei der UNO für das Klonen von Embryonen streiten. Christian Jostmann weist auf ein Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, nach dem niemand aus Versehen NSDAP-Mitglied werden konnte.

Besprochen werden Neil Jordans Film "The Good Thief", in dem Fritz Göttler den vereinten Geist von Melville und Picasso verspürt, die Gemeinschaftsproduktion "Das goldene Zeitalter" im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses, in der Christoph Marthaler als Tänzer brilliert, Tatjana Gürbacas Inszenierung von "Dido und Aeneas" in Baden-Baden, eine Ausstellung von "Zündholzkunst" im Ahauser Kunstverein, das 50. Jubiläum des Deutschen Jazzfestival in Frankfurt, die neue CD "Twinkle Echo" von Owen Ashworth alias Casiotone, Lora Logics Compilation "Fanfare in the Garden", June Carter-Cashs letztes Album "Wildwood Flowers".

Und Bücher, darunter der Band "Manieren" des Prinzen Asfa-Wossen Asserate (aus dem Ijoma Mangold erfahren hat, dass es "keinen Stil ohne Nachlässigkeit, ohne Nonchalance, Zerstreutheit und Desinvolture" gibt, "ja, eine gewisse Schläfrigkeit im Gebaren gehört unbedingt dazu."), ein Bildband mit Rembrandts Zeichnungen sowie ein neues Jazz-Lexikon (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).