Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2003. In der FAZ schildert der irakische Verleger Khalid Al-Maaly die Hinterhältigkeit religiöser Zensoren. Aha-Tito! Aha-Blutrache! - die NZZ hat die Aliens der Kunstszene besucht. Die taz beklagt die Mittelmäßigkeit der New Yorker Architektur. Die SZ wundert sich über Kulturgeschenke des Westens an Afghanistan.

FAZ, 14.10.2003

Patrick Bahners beklagt in der Leitglosse, dass in der Kultusministerkonferenz nur neun Bundesländer so tolerant sind, das islamische Kopftuch bei Lehrerinnen zu erlauben, während sieben Bundesländer es weiterhin ablehnen, und das bei einem "Zeichen der Art, wie sie zu allen Zeiten die Angehörigen einer Gemeinschaft von Glaubenden gebraucht haben, um sich zu erkennen zu geben" (als sei das Kopftuch nicht im 20. Jahrhundert am Reißbrett des politischen Islam entstanden, um traditionelle Kleidungsstücke im Namen der Schrift gerade zu verdrängen!).

Wie traditionell es zugeht in diesen islamischen Ländern, erzählt der irakische Verleger Khalid Al-Maaly in einem Vorblick auf den Arabien-Schwerpunkt der nächsten Buchmesse. 65 Prozent der Araber sind Analphabeten, und Verleger sehen sich nach wie vor willkürlichen Zensurmaßnahmen ausgesetzt. "In diesen Gesellschaften ist es nicht verwunderlich, dass vermeintliche Leser es vorziehen, sich Kassettenprediger anzuhören, die Zauberei als Lösung für die Probleme ihrer Schäfchen anbieten. Oft erlebe ich auf Buchmessen, dass ein Besucher ein Buch, das er für gotteslästerlich hält, zu verstecken versucht, um das Übel, das seiner Meinung nach von diesem Buch ausgeht, von anderen fernzuhalten. Manchmal muss man sich Drohungen anhören, weil ein bestimmtes Buch weiterhin zum Verkauf angeboten wird. Die Äußerung eines prominenten religiösen Führers ist nur ein weiterer Beweis für die Verbreitung der Unwissenheit und Hinterhältigkeit."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube geißelt die "15 Scheinheiligen der Kultusministerkonferenz", die die Qualität jener Schulen kritisieren, für die sie ganz allein veranwortlich sind. Dieter Bartetzko stellt ein von Norman Foster entworfenes Dienstleistungszentrum (das "Metropolitan") in Warschau vor. Ludger Fittkau resümiert eine Darmstädter Tagung zur Nanotechnologie.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite wird Ivan Nagels Laudatio auf Susan Sontag bei der Verleihung des Friedenspreises dokumentiert ("Nicht im schnellen, brillanten Beurteilen der Taten und Werke... das ihr gegeben ist, sondern im ständig neuen Ansetzen des Sehen- und Verstehenwollens ist sie, fast wider Willen: ein Vorbild heute für Denkende"). Und Thomas Kiho resümiert ein Kolloquium über die versunkene deutsch-baltische Literaturtradition.

Auf der Medienseite annonciert Michael Hanfeld, dass unsere öffentlich-rechtlichen Anstalten, nachdem sie gerade eine Gebührenerhöhung bekommen haben, nun eine neue Gebührenerhöhung für 2005 fordern: Dabei haben "im Jahr 2002 ARD und ZDF allein aus Gebühren 6,6 Milliarden Euro erlöst. Sie haben diese Einnahmen binnen eines Jahrzehnts um fünfzig Prozent aufgestockt von einst 4,2 Millionen Euro auf die jetzige Summe. Die monatliche Gebühr ist gestiegen von 9,71 Euro im Jahr 1990 auf fast das Doppelte zum 1. Januar 2005 mit 17,22 Euro, wenn man dem Vorschlag der Finanzkommission folgt..." Da wächst mal was in Deutschland, und Hanfeld beschwert sich!

Auf der letzten Seite kommt der Kirchenhistoriker Thomas Brechenmacher nach intensivem Studium bisher unbekannter Quellen zu einem eindeutigen Ergebnis: "Papst Pius XII. war ein erbitterter Gegner des Nationalsozialismus". Frank Pergande stellt am Leibniz-Institut für Regionalplanung in Erkner entwickelte kreative Ansätze zum Umgang mit schrumpfenden Städten vor. Und Oliver Tolmein porträtiert den pensionierten Richter Klaus Kutzer, der von der Bundesjustizministerin zum Vorsitzenden der Kommission "Patientenautonomie am Lebensende" berufen wurde..

Besprochen werden eine Ausstellung über Degas und Italien in Ferrara, eine Inszenierung von Fassbinders "Ehe der Maria Braun" in Düsseldorf, Donizettis "Don Pasquale" an der Deutschen Oper Berlin, Verdis "Don Carlo" in Dresden, und die Uraufführung von Alexander Müllenbachs Oper "Die Todesbrücke" bei der Ruhrtriennale.

NZZ, 14.10.2003

Andreas Ernst freut sich mit Tirana über die zweite dort stattfindende Biennale, die die "Aliens der Kunstszene" aufwerten und bei manchem Betrachter alte Reflexe hervorrufen wird: "Der 'Zwang, Geschichte(n) zu erzählen', beherrsche die Balkankunst, glaubt der Belgrader Kunsthistoriker Branislav Dimitrijevic - und sei auch das Geheimnis ihres Erfolgs im Westen. Beim gebildeten Betrachter stellten sich nämlich angenehme Aha-Effekte ein (Aha-Tito! Aha-Blutrache!), die zu einem befriedigenden bildungsbürgerlichen Kunsterlebnis führten."

Außerdem: In das von ihr beobachtete Wiener Dauergerede über das eigene Theater reiht sich Barbara Villiger Heilig ein. Besprochen werden die Inszenierung von Irina Brooks des "Guten Menschen von Sezuan" am Theatre de Vidy in Lausanne und Bücher, darunter das bisher nur auf English erschienene Buch vom Chefredakteur von "Newsweek International" Fareed Zakari "The Future of Freedom", das einen skeptischen Blick auf den Siegeszug der Demokratie wirft. Außerdem der Roman "Der Palast der Träume" von Ismail Kadare und die Erinnerungen von Fritz J. Raddatz.

TAZ, 14.10.2003

New York, beobachtet Johannes Novy anlässlich der Architecture Week (mehr), ist architektonisch zwar interessant, für zeitgenössische Architekten aber ein "feindliches Pflaster". "Vielen heute in New York lebenden Architekten dürfte es ähnlich gehen. Angezogen vom Mythos Manhattan, leben viele Stars der internationalen Architekturszene in New York, doch nur den wenigsten gelingt es, in ihrer eigenen Stadt einen Auftrag zu erhalten." Nach dem 11. September hätte sich zunächst eine Wende in der Haltung der Stadt abgezeichnet - doch die "Mittelmäßigkeit" der jetzt präsentierten Vorhaben deute darauf hin, dass die Stadt wieder in den Status quo zurückfalle.

Weitere Artikel: Thomas Winkler ließ sich auf dem Force-Attack-Festival in der Nähe von Rostock mit "politisch motiviertem Punkrock" beschallen und konzediert der Szene globale Vernetzung, eine beharrlich geteilte "diffuse Anti-Haltung" und ungebrochenen "Spaß am Alkoholmissbrauch". Andreas Busche versucht zu erklären, warum sich Mirmax-Chef Harvey Weinstein entschieden hat, den neuen Film von Quentin Tarantino, "Kill Bill", in zwei Teilen in die Kinos zu schicken. "GBA" kommentiert die "Nacht des blauen Sofas" im ZDF ("Ja, selbst ein Wolf Wondratschek, einst Arschloch der Achtzigerjahre und nie um pfiffige Seltsamkeiten verlegen, wirkt trotz Cowboystiefeln blass auf dem blauen Sofa").

Besprochen werden Prosafragmente, Essays und Reden aus dem Nachlass von W. G. Sebald, Stefan Beuses Roman "Meeres Stille", der Roman "Salzstädte" des arabischen Schriftstellers, Ökonomen und Erdölexperten Abdalrachman Munif und eine Kulturgeschichte über "Das Geheimnis der Farben" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 14.10.2003

Mit den immer wiederkehrenden Fragen nach Persönlichkeitsrechten und Freiheit der Kunst beschäftigt sich Dieter Borchmeyer in einem Artikel über "Literatur vor Gericht". Peter Fuchs denkt über den Begriff des Wachstums nach. Michael Tetzlaff ergänzt seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Zone um den ersten Teil des Kapitels "Ausbildung zum Facharbeiter für Zerspanungstechnik", und in Times mager räsoniert Volker Schmidt über den Zusammenhang von Sportarten, Fahnenfarben, Pässen und Geschlechtsteilen. Und auf der Medienseite berichtet Eric Leimann über die 14. Verleihung des "Preises der beleidigten Zuschauer" (mehr hier). Diesjähriger Preisträger ist Altbundeskanzler Helmut Kohl.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten des "postmodern-abstrakten" amerikanischen Künstlers Jonathan Lasker im Düsseldorfer K20, eine Würdigung von 30 Jahren Kunst im öffentlichen Raum, die unter dem Titel "no art no city" in der Städtischen Galerie im Buntentor in Bremen gezeigt wir, und der "unglückliche" Start der Deutschen Oper Berlin mit einer Inszenierung von Gaetano Donizettis "Don Paquale" in die neue Spielzeit.

SZ, 14.10.2003

Als einen "künstlerischen Neubeginn voller Todesverachtung" beschreibt Sonja Zekri den kulturellen Aufbruch Afghanistans auf seinem "langen Weg ins 21. Jahrhundert". Noch sei dieser Anfang auch in der Hauptstadt Kabul vor allem "ein Versprechen auf die Zukunft". "'Kein Baum bewegt sich ohne Wind', sagt ein afghanisches Sprichwort. Die Triebe der Kultur werden von vielen Winden bewegt, doch mancher verrät mehr über das Kulturverständnis des Spenders als über die Not der Beschenkten: Großbritannien schickte einen Orchestersatz Instrumente, die niemand mehr spielen kann. Und die USA spendierten der Nationalgalerie eine Ausstellung zum 11. September."

Weiteres: Fritz Göttler informiert über eine "Antipiraterie"-Maßnahme der großen Hollywood-Studios: Sie wollen künftig keine so genannten "Screeners", also Vorabkopien von Filmen mehr verschicken, um das Raubkopierwesen einzudämmen. Dagegen haben nun 142 Filmschaffende protestiert, weil dies vor allem "kleinen Produktionsfirmen" und Studios schade. Wolfgang Schieder erklärt, weshalb sich Berlusconi "gerne mit Mussolini vergleicht" und warum diese "verharmlosende Erinnerung ... bei einer schweigenden Mehrheit der Italiener immer noch Zustimmung" findet. Christian Jostmann erläutert, inwiefern die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach "mit ihrem Projekt eines Zentrums für die deutschen Opfer der Vertreibungen nach 1944 zum Elefanten im Porzellanladen der deutsch-polnischen Beziehungen geworden" sei. Ralf Berhorst resümiert eine Berliner Tagung über die Judenverfolgung in Ungarn, und Florian Urban stellt ein durchaus ambivalentes Verkehrsprojekt der Stadt Boston vor, die eine drei Kilometer lange Stadtautobahn unter die Erde verlegen will; Arbeitstitel: "The Big Dig - das große Graben".

"hera" berichtet vom "einfach irgendwo Liegenlassen" als einer neuen Form des Büchertauschs, und in der "Zwischenzeit" geißelt Claus Heinrich Meyer die namenlos scheußlichen neuen Warnhinweise auf Zigarettenschachteln ("Sehn Sie sich das an. Rauchen mag ja tödlich sein, aber es war SCHÖN. Lauter herrliche Miniaturen. Und jetzt? Hässlichkeit. Bodenlos! Geschmacklos.")

Als "großer Tag für das deutsche Lied" wird die neue CD-Fassung des ersten Albums von Foyer des Arts (sprich Gerd Pasemann und Max Goldt) gefeiert. Besprochen werden des weiteren eine "Opernausgrabung", die Wiederaufführung von Giovanni Ferrandinis "Catone in Utica" nach 250 Jahren im Münchner Cuvillies-Theater, die Inszenierung von Dea Lohers Stück "Unschuld" am Hamburger Thalia Theater, Alberto Venzagos halbdokumentarischer Film "Voodoo - Mounted by the Gods" und Bücher, darunter drei neue Biografien über Immanuel Kant anlässlich seines zweihundertsten Todestags, Ludwig Harigs Lebensrückblick, der erste Erzählungsband des dänischen Schriftstellers Arne Nielsen, eine Studie über "Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950-2000" und eine Untersuchung über die Bankrotteure der New Economy, "Die Habgierigen" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).