Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2003. In der Zeit fürchtet der Urbanist Mike Davis die sexuellen Allmachtsfantasien Arnold Schwarzeneggers. Die SZ, die taz, die FAZ setzen sich ausführlich mit dem neuen Verbot von Maxim Billers Roman "Esra" auseinander. In der FR wendet sich Julian Nida-Rümelin gegen Kulturabbau.

Zeit, 16.10.2003

"Weißer Hass und dunkle Träume" überschreibt der Urbanist Mike Davis (mehr hier und hier) seine kulturkritische Betrachtung zum Wahlerfolg Arnold Schwarzeneggers in Kalifornien. Davis fürchtet das schlimmste: "Er ist kein weiterer Schauspieler, den es in die Politik zieht, sondern eine Projektionsfigur - sowohl als Filmfigur wie auch im richtigen Leben - für dunkle sexuelle Allmachtsfantasien."

Weitere Artikel: Jens Jessen outet sich in der Leitglosse als Kulturkonservativer, der sogar die dialektischen Verstiegenheiten der Bush-Propaganda zu schätzen weiß. Diedrich Diederichsen stört sich an der allzu akkurat exhumierten Fünfziger-Jahre-Atmosphäre in Sönke Wortmanns Film "Das Wunder von Bern" ("Dass aber jeder Gegenstand in jedem Bild uns aufgekratzt seine historische Herkunft mitteilt - 'Hey ich bin ein typischer Fifties-Wecker' -, führt zu seltsamen Effekten.") Klaus Harpprecht, ehemaliger Redenschreiber Willy Brandts, berichtet von einer exklusiven Vorführung von Oliver Storz' Fernsehfilm über Brandts "Abschied von der Macht" im Berliner Kanzleramt. Der israelische Autor David Grossman bekennt seine Bewunderung für die Piloten der israelischen Armee, die sich weigern, auf Ziele in bewohnten Gebieten zu schießen, weil sie fürchten, unschuldige Zivilisten zu treffen. Peter Roos freut sich über Bambergs neues Theater. Hanno Rauterberg porträtiert den Videokünstler Christian Jankowski. Und Thomas Groß freut sich auf die Tournee der alternden Diva David Bowie.

Im Literaturteil kritisiert Michael Naumann die Absenz wichtiger Politiker bei Susan Sontags Friedenspreisrede. Und Andreas Isenschmid stellt J. M. Coetzees bisher nur auf englisch erschienen Roman "Elizabeth Costello - Eight Lessons" vor. Hier ein langer Auszug aus diesem Roman, viele Kritiken und ein Link des Tages.

Besprochen werden Quentin Tarantinos Film "Kill Bill", eine Ausstellung über "Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst" im Museum Bochum und Wassilij Sigarews Stück "Plastilin" in den Münchner Kammerspielen.

Im Dossier befassen sich Walter de Gregorio und Hans-Bruno Kammertöns mit der wohl inszenierten Papstdämmerung nach einem immerhin 25-jährigen Pontifikat.

SZ, 16.10.2003

Andreas Zielcke kritisiert das Urteil des Münchner Landgerichts, das Maxim Billers Roman "Esra" faktisch verbietet: "Dass die Offenlegung des Privaten mit einer gewaltig gesteigerten Energie geschieht, hat die vielfach beklagten Begleiterscheinungen des Verfalls bis hin zur schamlosen kommerziellen Ausbeutung dieser endlos ergiebigen Sphäre zur Folge, aber sie ist auch im positiven Sinn zeitgemäß: Längst ist diese Beschäftigung mit dem Privaten die entscheidende Quelle der Individualisierung, des kulturellen Reichtums und der Inspiration ebenso wie des Ernstes jeder sozialen Kommunikation geworden. Der Literatur das Anzapfen dieser Quelle vorzuwerfen, hieße, einem Forscher den Gebrauch des Mikroskops vorzuhalten."

In einem Interview kündigt Biller-Verleger Helge Malchow Berufung an. Hier erklärt Julia Encke, warum sie den Fall "Esra" symptomatisch findet. Ioma Mangold macht klar, warum bei Maxim Biller die Dinge anders als bei Dieter Bohlen liegen. Und hier schließlich setzt der Klägerinnen-Anwalt Wolfgang von Nostitz auseinander, warum das Anliegen seiner Mandantinnen aus seiner Sicht die Kunst davor bewahrt, missbraucht zu werden.

Weitere Artikel: Thomas Steinfel meldet, dass Martin Walser die Trennungsabsichten vom Suhrkamp-Verlag, die er gestern in einem Interview mit dem Tagesspiegel angedeutet hatte, im Gespräch mit der SZ weit von sich gewiesen hat. Alexander Kissler berichtet über die neuesten nationalen und internationalen Entwicklungen in der Debatte um die Embryonenforschung. Holger Gertz glaubt, dass das "Wunder von Bern" heute nicht mehr möglich wäre, weil nämlich der für die Mythenbildung notwendigen Verklärung die Aufklärung durch die Medien im Wege steht. Eva-Elisabeth Fischer berichtet über das drohende Scheitern von Willliam Forsythes Frankfurter Ballett-Plänen an der Kulturpolitik. "Alex" lässt wissen, dass Woody Allen seine ungeschriebenen Memoiren bereits an meistbietende Verlage versteigert. "Skoh" lässt Lästerliches über einen offenbar ernst gemeinten Antrag der FDP im Bundestag verlauten, die künftig auch bei der Vergabe der Mittel aus dem Hauptstadtkulturfonds mitbestimmen will, und verwahrt sich entschieden gegen die Staatskunstidee. Ralf Hertel schließlich freut sich über die Verleihung des Man-Booker-Prize an Peter Finlay alias DBC Pierre (mehr hier).

Besprochen werden: Sönke Wortmanns Fußballfilm "Das Wunder von Bern", Hans Neuenfels Inszenierung der Sophokles-Tragödie "König Ödipus" am Deutschen Theater in Berlin, die August-Sander-Ausstellung "Antlitz der Zeit. 60 Menschen des 20. Jahrhunderts" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Robert Harmons Film "They", ein Carla-Bley-Konzert vor fünfzig zahlenden Gästen im Keller des Bayrischen Hofs in München, ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Filmmusik von George Fenton, Sebastian Winkels' Film "7 Brüder" und Bücher, darunter Massimo Ferrari Zumbinis Geschichte des Antisemitismus und eine Neuübersetzung von Tschechow-Erzählungen aus den Jahren 1880-1887 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 16.10.2003

Auch die taz beschäftigt das gestrige Urteil des Münchner Landgerichts gegen Maxim Billers Roman "Esra". "Der Streit könnte sich noch bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, glaubt Daniel Bax, "denn es geht ja um Grundsätzliches. Im Fall 'Esra' wertete das Münchener Gericht die Verletzung der Persönlichkeitsrechte schwerer als die Freiheit der Kunst. Doch wo genau zieht es die Grenze, hier und in vergleichbaren Fällen? Schließlich beziehen die meisten Schriftsteller und Autoren ihre Inspiration aus der erlebten Wirklichkeit, die sie zitieren und in ihre Werke einfließen lassen. Längst hat der Fall 'Esra' über den besonderen Einzelfall hinaus Bedeutung erlangt, da sich aufgrund verletzter Persönlichkeitsrechte inzwischen die Bücherverbote häufen."

"In jahrhundertelangen gesellschaftlichen Kämpfen wurde die Freiheit der Literatur mit hohem persönlichem Risiko verteidigt", kommentiert Dirk Knipphals auf der Titelseite den Fall. "Alle großen Gegner besiegt. Aber im Versuch, die Literatur nun gegen etwas so Allgemein-Menschliches wie enttäuschte Liebe zu verteidigen, hat man sich nun eine Niederlage abgeholt."

Weitere Themen: Florian Malzacher geißelt Frankfurts autistischen Kultursenator, weil der im Fall William Forsythe gerade ein mögliches kulturpolitisches Modell vergeigt.

Besprochen werden Quentin Tarantinos neuer Film "Kill Bill I" ("eine Comicstrip-, Italo-Western-, Martial-Arts-, Blaxploitation-, Samurai/heroic-bloodshed-, Gangsterfilm-, Rock-n-Roll/Pop/HipHop-, Anime-, Nouvelle-Vague-, Sixties-TV-Serien-Rachegeschichte") und Sebastian Winkels Film "7 Brüder".

Und selbstredend TOM.

NZZ, 16.10.2003

Georges Waser erzählt Geschichten rund um den Booker Prize, ansonsten hat auch ihn die Entscheidung für DBC Pierres Roman "Vernon God Little" eher "überrascht" (mehr hier). Joachim Güntner spekuliert über Martin Walsers gestern im Tagesspiegel gemachte Andeutungen, sich bei Suhrkamp nicht mehr zu Hause zu fühlen.

Besprochen werden John Cales neues Album "Hobo Sapiens" (für Hanspeter Künzler eines der besten, die Cage je gemacht; "die Muse hat ihn wieder!"), Randy Newmans neues Album "The Randy Newman Songbook", Quentin Tarantinos Feldzug durch die Filmgeschichte "Kill Bill: Vol. 1", und Bücher, Margit Schreiners Roman "Heisst lieben", Rolf Dobellis Midlife-Geschichte "Fünfunddreißig" und Ibrahim al-Koni Sahara-Roman "Ein Haus in der Sehnsucht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 16.10.2003

Weil öffentliche Güter Ausdruck einer Demokratie sind, in der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, Solidarität und Kooperation einen hohen Stellenwert haben, muß nach Ansicht von Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin der Staatsabbau dort seine Grenzen haben. Beispiel Kultur: "Kultur- und Bildungsgüter haben einen individuellen, aber auch kollektiven Charakter. Die kulturelle Verfasstheit ist mehr als die Addition individuellen Kulturkonsums. Künstlerische Kreativitätspotenziale sind für die gesamte Gesellschaft von Bedeutung, nicht nur für die Besucher von Museen und Galerien. Die Grundlagenforschung mit ihrer langen zeitlichen Perspektive und unsicherer ökonomischer Nutzbarmachung wird von den einzelnen Akteuren auf dem Markt nicht oder nur in geringem Umfange nachgefragt. Leistungen in der Grundlagenforschung sind schon deswegen ein kollektives Gut, weil diese durch Publikationen in öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Zeitschriften zu Allgemeinbesitz werden. Der 'Kommunismus des Wissens' ist für eine dynamische Wissensgesellschaft unverzichtbar."

Rita von Kuszynski hat sich unter Ostdeutschen umgehört und kommt zu einem ganz anderen Ergebnis als Altkanzler Helmut Schmidt in der Sächsischen Zeitung: "Es könnte nämlich durchaus sein, dass die Ostdeutschen einiges aus ihren Erfahrungen im Umgang mit Brüchen und Umbrüchen in die Zukunft der Bundesrepublik einbringen könnten, das zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise in Deutschland beiträgt. Vielleicht können die Westdeutschen von den Erfahrungen der Ostdeutschen lernen, dass die Aufgabe jahrzehntelang gehegter Gewohnheiten und sozialer Sicherheiten auch ein Gewinn sein kann? Dann könnten die Zensuren für deutsche Weinerlichkeit neu verteilt werden."

Weitere Artikel: Isabel Mundry und Brice Pauset haben mit Hans-Jürgen Linke über das Komponieren im Dialog gesprochen; Rolf Wörsdörfer berichtet von einer Münchner Tagung über Vertreibungen in West- und Osteuropa. Angesichts der Frankfurter Probleme mit einem neuen kulturpolitischen Modell zum Erhalt eines berühmten Balletts hat sich in der Kolumne Times Mager die "GoH" ausgedacht: die "Gesellschaft ohne Handlungsspielraum". Maxim Biller liefert ein Miniatur-Drama.

Schließlich hat die FR heute ihr Kulturplus beiliegen. Dort finden sich unter anderem ein Interview mit David Bowie, zwei Seiten über die Modenschauen in Mailand und Paris und Filmkritiken zu Quentin Tarantinos "Kill Bill", Sönke Wortmanns "Das Wunder von Bern", Sebastian Winkels "7 Brüder". 

FAZ, 16.10.2003

Recht streng setzt sich Andreas Kilb mit Quentin Tarantinos neuem Film "Kill Bill" (Links) und seinem Recycling alter Filmgenres auseinander: "Aus dem Abgesunkenen, den B- und C-Filmen erledigter Produktreihen, will (Tarantino) das neue Kino schmieden. Aber diese Filmbilder geben keine Geschichte her, weil sie keine haben. Die einzige Story, die Tarantinos Kino in Wahrheit erzählt, ist die Geschichte seines Geschmacks. Wie ein postmoderner Schriftsteller seine Lesefrüchte vermarktet Tarantino seine Seherlebnisse. So ist er selbst zum Objekt eines inhaltslosen Kults geworden. Was 'tarantinoesk' ist, weiß heute im Kino fast jeder, wofür aber Tarantino einsteht, kann keiner sagen, auch er selbst nicht." Auf der Filmseite finden wir überdies ein Interview mit Tarantino, das Peter Körte führte.

Weitere Artikel: Mark Siemons würdigt den Jubilar Johannes Paul II. als Autor. Richard Kämmerlings kritisiert die Gerichte, die erst jüngst wieder beim neuerlichen Verbot von Maxim Billers Roman "Esra" nicht auf der Höhe der aktuellen Literaturtheorie gewesen seien. Joseph Hanimann mag nicht recht an die in einer großen Retrospektive im Centre Pompidou und in einer monumentalen Biografie zum vierzigsten Todestag zelebrierte Cocteau-Renaissance glauben. Wiebke Hüster macht uns mit den jüngsten Absurditäten der Frankfurter Kulturpolitik bekannt - wieder geht es um die Verhinderung des Choreografen William Forsythes, der der Stadt offensichtlich allzu viel Prestige gebracht hatte. Dieter Bartetzko resümiert eine Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker in Warschau. Ingeborg Harms meldet, dass Berlin das Fotoarchiv von Helmut Newton erhält. Klaus Ungerer hat einem Vortrag des New Yorker-Cartoonisten Edward Koren in der Berliner American Academy zugehört.

Auf der letzten Seite analysiert Hussain Al-Mozany Jassir Arafats Strategie, die seit dreißig Jahren vorwiegend in der Sicherung de eigenen Überlebens zu bestehen scheint. Gina Thomas stellt denn Autor DBC Pierre vor, der den Booker Prize erhielt (siehe den Link des Tages im Perlentaucher). Und Jürg Altwegg meldet, dass dem Robert-Walser-Archiv in Zürich wegen Zahlungsschwierigkeiten die Schließung droht.

Auf der Medienseite erzählt Eva-Maria Schnurr, "wie deutsche Zeitschriftenverlage in China durchstarten". Und Hajo Friedrich berichtet, dass die EU die Staats- und öffentlich-rechtlichen Sender Europas zu mehr finanzieller Transparenz verpflichten will.

Besprochen werden Hans Neuenfels' "Ödipus"-Inszenierung im Deutschen Theater Berlin und ein Tanzabend von Armanda Miller in Freiburg.