Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2003. SZ und Tagesspiegel schildern den Kampf um den Suhrkamp Verlag. In der FAZ stellt Feridun Zaimoglu drei Neo-Musliminnen in ihrer Ausgehuniform vor. In der FR freut sich Natan Sznaider, dass es die israelische Zivilgesellschaft noch gibt. Die NZZ erklärt, warum feige Männer das weibliche Selbstbewusstsein stärken. 

SZ, 17.10.2003

Jetzt hat es Ulla Berkewicz wohl doch geschafft. Wie Thomas Steinfeld berichtet, hat die Gesellschafterversammlung des Suhrkamp Verlages beschlossen, sie in die Geschäftsführung zu holen. "Noch auf der Buchmesse hieß es im Verlag, in offener Illoyalität gegenüber dem eigenen Geschäftsführer, Günter Berg verfüge nicht über das Charisma von Siegfried Unseld, ja, er könne gar nicht darüber verfügen, weil er bloß ein Angestellter sei. Die Schauspielerin und Schriftstellerin Ulla Berkewicz hingegen besitze nicht nur dieses Charisma, sondern verwalte auch den größten Teil der Geschäftsanteile. Deshalb hoffe man nun, dass Siegfried Unseld durch Ulla Berkewicz ersetzt werde." Dass dies eine gute Idee ist, bezweifelt Steinfeld: "... ob Ulla Berkewicz in der Lage ist, einen Verlag zu führen, wird man erst wissen, wenn es für eine andere Entscheidung längst zu spät sein wird."

Weiteres: Wolfgang Kraushaar (mehr) diskutiert noch einmal die geplante RAF-Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken. Petra Steinberger feixt über das jüngste PR-Desaster des Pentagons: Gefälschte Feldpost. Andrian Kreye stellt den New Yorker Architekten David Childs vor, dessen Rolle beim Wiederaufbau von Ground Zero Kreye so fasst: "Daniel Libeskind macht die Schlagzeilen - und David Childs die Arbeit." Jeanne Rubner berichtet von einem sehr instruktiven Vortrag der amerikanischen Anthropologin Sarah Hrdy ("Mutter Natur") über Mutterliebe und Herdenbrüterinnen. Angesichts des teuersten Sportbuchs der Welt - "Goat" über Muhammad Ali - und anderer papierener Schlachtschiffe staunt Ulrich Raulff: "Die Dinger verkaufen sich tatsächlich." Ingo Romeo Mocek erzählt, wie er mit Stuart Murdoch, Sänger der Band Belle & Sebastian, über den Golfplatz spaziert ist.

Besprochen werden Michel van der Aas Kammeroper "One" bei den Berliner Festwochen, Roman Polanskis Pariser Inszenierung der "Hedda Gabler" mit seiner Frau in der Titelrolle (die C. Bernd Sucher ziemlich gehässig kommentiert: "Hätte sich Emanuelle Seigner doch einen Kopf in einer Silberschüssel als Liebesbeweis erbettelt, uns wäre viel erspart geblieben."), die Ausstellung "Wagners Welten" im Münchner Stadtmuseum, das Kinosommerschmuckstück "Vier Freunde und vier Pfoten" und Bücher, darunter Peter O. Chotjewitz' Roman "Machiavellis letzter Brief", Ida Jessens Roman "Wie ein Mensch" und Lutz Görners Hörbuch der Befremdung (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 17.10.2003

Auch im Tagesspiegel denkt Marius Meller darüber nach, ob Ulla Berkewicz eine gute Verlegerin wäre. Mit Schaudern erinnert er sich an ihren Auftritt bei der Gedenkveranstaltung für Siegfried Unseld letzte Woche: "Man konnte die mystisch-gnostische Metaphorik des effektvoll deklamierten Langgedichts mit gutem Willen als Ausdruck liebender Trauer verstehen. Nüchterner betrachtet, war sie die kaum verhüllte Installation einer esoterischen Geisteshaltung, die von nun an die große literarische Tradition des Suhrkamp Verlags umprägen könnte - eine Tradition, die immer eine der Aufklärung und ihrer rationalen Dialektik war." Sollte es zum "Showdown" kommen, so Meller, "werden sich nach allen Informationen etliche der einflussreichsten Autoren zur ökonomischen Vernunft, zum literarischen Sachverstand und zur menschlichen Offenheit Günter Bergs, des 'Angestellten', bekennen. Und schwerlich zum Matriarchat der Mehrheitseignerin." Meller hat auch gleich einen Vorschlag: "Denkbar wäre eine künftige Doppelspitze Joachim Unseld/Günter Berg, von der nicht nur der junge Unseld und Berg träumen, sondern auch viele Suhrkamp-Autoren."

FR, 17.10.2003

"Es gibt sie noch, die israelische Zivilgesellschaft", jubelt Natan Sznaider angesichts des "Genfer Plans", einer israelisch-palästinensischen Initiative, mit der Oppositionspolitiker - wie der frühere Justizminister Yossi Beilin - den Friedensprozess wieder in Gang bringen wollen: "Vermittelt durch die Schweizer Regierung, trafen sich letzte Woche ehemalige Minister beider Seiten, um das Mantra der israelischen Regierung, dass es keinen Verhandlungspartner gebe, zu durchbrechen... Sein Hauptanliegen ist die Teilung, auch die Teilung Jerusalems. Die meisten Siedlungen sollen geräumt werden, die Palästinenser auf ihr Rückkehrrecht verzichten; von einigen Ausnahmen abgesehen. Die Palästinenser sollen Israel in den Grenzen von vor 1967 (mit einigen Korrekturen) als die souveräne Heimstatt des jüdischen Volkes anerkennen, was bis heute noch nicht wirklich geschehen ist."

Peter Michalzik versucht, den Sinn in der Aktion des "Aufmerksamkeitsartisten" David Blaine zu ergründen, der 44 Tage ohne Nahrung in einem Glaskasten im Herzen Londons zubrachte. Rudolf Walther schreibt zum Tod des französischen Philosophen Benny Levy (mehr auf Französisch hier). Andreas Hartmann ist nicht ganz überzeugt von der Idee des Goethe-Instituts, Barbara Morgenstern und den "Jammerbarden" Maximilian Hecker (mehr hier) auf Welttournee zu schicken.

Besprochen werden bahnbrechende Aufnahmen des Fotografen Charles Sheeler im Fotomuseum Winterthur und eine Schau von Ron Muecks Plastiken im Hamburger Bahnhof in Berlin.

TAZ, 17.10.2003

Ein leider namenloser Autor berichtet von einer Veranstaltung in der Frankfurter Schirn, auf der Boris Groys, "verdienter Propagandist und Panegyriker des 'Gesamtkunstwerks Stalin'" weiter an seinem Projekt "Zurück aus der Zukunft" arbeitete, das der "Verfasstheit der Menschen nach dem Ende der realsozialistischen Herrschaft" gewidmet ist. "Groys konstatierte, auch hier dem Leninschen Vorbild folgend, drei Quellen und Bestandteile eines ost-westlichen Missverständnisses: Die westlichen Künstler definierten sich gegen den Markt, während er im Denken der östlichen Kollegen ein utopisches Potenzial enthält. Das Ethnisch-Nationale ist den Westlern ein Schrecken, den Ostlern eine mögliche Quelle der Selbstvergewisserung. Schließlich sind die Ost-Künstler ständig mit der Frage beschäftigt 'Ist das normal?'."

Und wie jeden Freitag gibt es Musik: "Techno lebt!" ruft Cornelius Tittel mit Hinweis auf Ricardo Villalobos und Plastikman. Andreas Hartmann ist sich nicht sicher, ob es von Mark Ernestus und Moritz von Oswald, den Machern des Berliner Technodubprojekts Rhythm & Sound, eine gute Idee war, ihr langes Schweigen zu brechen. Arno Frank hat sich mit dem gerade durch Deutschland tourenden Stuart Murdoch, dem Mastermind der schottischen Band Belle & Sebastian, über mieses Aussehen und die üblen Typen von der Presse unterhalten. Von Jörg Sundermeier erfahren wir, dass Maximilian Hecker und Barbara Morgenstern für das Goethe-Institut auf Welttournee gehen.

Und schließlich Tom.

NZZ, 17.10.2003

Gerda Wurzenberger hat Hendrik Handloegtens Film "liegen lernen" gesehen und dabei eine neue Erfahrung gemacht: "... Männer, die sich über sich selber lustig machen und dabei noch eingestehen, dass sie lange Zeit 'gefühlsgehemmte, bindungsunfähige und feige Penner' waren, stärken das weibliche Selbstbewusstsein und wecken gleichzeitig auch zärtliche, fast mütterliche Gefühle."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann denkt darüber nach, was es für das Genre des Dokumentarfilms bedeutet, dass Monsieur Lopez, der "selbstlose Tutor" und die "republikanische Ikone" in dem französischen Dokumentarfilm "Etre et avoir", plötzlich Geld vom Filmemacher Nicolas Philibert haben will. Elisabeth Schwind war bei der Eröffnung des "Forum neues Musiktheater" in Bad Cannstatt. Ein Enkel von Agatha Christie hat gegen den Willen ihrer 85-jährigen Tochter zugestimmt, einige ihrer Bücher in Hollywood verfilmen zu lassen, berichtet Georges Waser und ist sich nicht sicher, ob das die Amerikaner genauso hinbekommen wie die Engländer. Rainer Michael Mason würdigt das Werk des Züricher Künstlers Robert Müller, der am 15. Oktober gestorben ist. Jan-Heiner Tück sucht nach den spirituellen Wurzeln von Mutter Teresa, einer "Mystikerin der offenen Augen". In der Staatsbibliothek zu Berlin ist ein bisher unbekannter Brief von Descartes aufgetaucht, verkündet zz. Das "Theater an der Wien" wird zum dritten Wiener Opernhaus, meldet dew. Außerdem hat sich Paul Jandl das neu eröffnete Österreichische Filmmuseum in Wien angesehen.

Besprochen werden Ballettpremieren im Stadttheater Bern und einige Filme, darunter der Film "Intolerable Cruelty" von den Coen-Brüdern. Sergiusz Michalski hat sich die Berliner Ausstellung "Kunst in der DDR" angesehen und glaubt, dass bei der Auswahl (und Ausblendung) der Werke "offensichtlich einige offene alte Rechnungen beglichen werden".

FAZ, 17.10.2003

Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu stellt drei Neo-Musliminnen vor, die dem Leser so widersprüchlich erscheinen, dass ihm der Kopf schwirrt. Betrachten Sie diese Ausgehuniform: "Sie hat sich das Haar zum Dutt hochgesteckt und ein perlmuttbesetztes Tuch über das verlängerte Hinterhaupt gezogen. Der Blazermantel, bis zur Taille eng am Körper geschnitten, läuft in einer Trompetensilhouette aus. Unter der knöchellangen Keuschheitsrobe lugen die Spitzen der Overknee-Stiefel mit Stilettabsätzen hervor. Ihre mit Glitzerlack modellierten Fingernägel, der rote Lippenstift und die Strassohrclips zeugen nicht unbedingt von Weltentsagung, wie man sie den eisernen Jungfern im Dienste Gottes nachsagt."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann berichtet von einer Diskussion der Unesco über eine allgemeine bioethische Grundverfassung und kulturelle Vielfalt. Dieter Bartetzko berichtet, dass in Frankfurt bei der Aushebung von Gräben für Versorgungsleitungen ein Gewölbe entdeckt wurde, dass zur ausgebrannten und in den Fünfzigern ganz abgerissenen Stadtbibliothek gehörte. Vielleicht finden sich hier sogar Reste des Goethe-Denkmals von Pompeo Marchesis, hofft Bartetzko. Paul Ingendaay stellt den spanischen Schriftsteller Javier Marias als kämpferischen Kolumnisten des Sonntagsmagazins El Semanal vor. Jürg Altwegg meldet den Tod von Sartres Sekretär Benny Levy. Martin Borowsky schildert, wie die Menschenwürde in den Entwurf der europäischen Verfassung kam. Gina Thomas berichtet aus London vom Fund einer Cellini-Statue in der Königlichen Sammlung. Gerhard Rohde stellt das "Forum Neues Musiktheater" in Stuttgart vor. Ilona Lehnart berichtet über eine von Helmut Schmidt angeregte Diskussion im Schloss Bellevue über die Frage, "was aus Berlin werden soll und was den Deutschen ihre Hauptstadt wert ist".

Auf der letzten Seite erinnert Martin Kämpchen anlässlich ihrer bevorstehenden Seligsprechung an Mutter Teresa (mehr hier). Verena Lueken porträtiert den reaktionärsten Radiomoderator der USA, Rush Limbaugh, der gerade bekannt hat, drogensüchtig zu sein. Und Katja Gelinsky kündigt für nächstes Frühjahr eine Verhandlung des Supreme Courts über die Frage an, "ob es gegen die amerikanische Verfassung verstößt, wenn in öffentlichen Schulen der Fahneneid mit dem Zusatz 'eine Nation unter Gott' gesprochen wird".

Besprochen werden eine Qualtinger-Ausstellung im Wien Museum, die multimediale Ausstellung "Wagners Welten" im Münchner Stadtmuseum, ein Konzert des Soulsängers Ben Harper in Köln, Reuben Leders Film "Baltic Storm" und Bücher, darunter ein leider bisher nur auf französisch erschienenes Dessert-Kochbuch von Pierre Gagnaire.