Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2003. In der FAZ berichtet T. Coraghessan Boyle hautnah über das große Feuer in Kalifornien. Die NZZ besucht die freien Medien Afghanistans. Die taz interviewt Cat Stevens. Die FR kommt auf den Fall Trintignant zurück.

NZZ, 01.11.2003

Bettina Schiel und Stefanie Görtz besuchen für einen "Schauplatz Afghanistan" das Kabuler Medienzentrum Aina, wo unter anderem erste private Radiostationen arbeiten. "Ausgerechnet auf den Ruinen des Hauptsitzes der Sittenpolizei der Taliban, die für ihre grausame Folter berüchtigt war, wurde das neue Medienzentrum von Aina - das Dari-Wort für 'Spiegel' - aufgebaut. Die Maxime von Aina sei es, den Menschen eine Stimme zu geben, die keine haben, erläutert Florent Milesi, heute Leiter des Medienzentrums. Im ehemaligen Swimmingpool ist mittlerweile das Tonstudio für einen Radiosender untergebracht, in einem Nebengebäude produziert die bekannte Journalistin Jamila Mujahed die Sendungen für Voice of Women. In den vielen Büros rund um den begrünten Innenhof arbeiten acht verschiedene unabhängige Zeitschriften, darunter Kabul Weekly und das Frauenmagazin Malalai."

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel resümiert das viel beachtete Kolloquium über "Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und kommt zu einem recht skeptischen Schluss: " In der Berliner Akademie beschworen zwar alle Teilnehmer die Fortexistenz von Disziplinen als Voraussetzung für die erstrebte Interdisziplinarität. Aber mehr als eine Beschwörung war das eben kaum mehr."

Besprochen werden Richard-Strauss-Einspielungen der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann (unter anderem das dröhnende "Heldenleben") und Andrew Bovells Stück "Lantana" am Berner Stadttheater.

In der Beilage Literatur und Kunst, die wir immer wieder lieben und bewundern, meditiert Martin Meyer sehr ausführlich über Paul Bermans noch nicht übersetztes Buch "Liberalism and Terror". Was uns zur Zeit widerfährt, ist nichts grundsätzlich Neues, erfahren wir da: "Terror - nicht gänzlich verschieden von dem Terror, den heute die Welt erleidet - erschütterte den alten Kontinent, als die frühen Anarchisten ihre Bomben warfen; als dann Lenin die Bolschewisten gegen das russische Ancien Regime führte; als wenig später Mussolini den Marsch auf Rom unternahm und Hitler in München zu agitieren begann. Junge Männer, von ihren Chefdemagogen aufgepeitscht und fanatisiert, wagten Leib und Leben - ja, wofür? Wesentlich für Ideale, die ein- und ausschlossen: Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe suggerierte das Gefühl der Gemeinschaft gegen die 'Kälte' des Alltags, ein Todeskult setzte utopische Prämien gegen Gewohnheit und innere Leere, schwarze Romantik oder der Anspruch auf Auserwähltheit sollten die Verkrustungen im bestehenden Sozialgefüge durchbrechen."Hier eine lange Leseprobe aus dem Buch.

Weitere Artikel: Hans Mommsen liefert eine Reisenbesprchung des vierten Bandes der Deutschen Gesellschaftsgeschichte von Hans Ulrich Wehler, der sich mit den Jahren 1914 bis 1949 befasst. Angelika Dörfler-Dierken denkt über die Figur der Katharina von Bora, der Frau Luthers nach. Der Basler Theologe Ekkehard W. Stegemann liest Eugen Bisers Buch "Der unbekannte Paulus". Martina Wehrli-Johns bespricht neue Bände der Reihe Helvetia Sacra. Und SteffenRichter besucht den italienischen Autor Daniele del Giudice zum Werkstattgespräch.

FAZ, 01.11.2003

Der Autor T. Coraghessan Boyle wohnt in Kalifornien. Sein Haus "wurde 1909 von Frank Lloyd Wright entworfen, und es überstand das verheerende Erdbeben in Santa Barbara von 1925." Ihm ist schon mal ein Haus in Kalifornien abgebrannt. Nun fürchtet er ums zweite: "Es ist dunkel heute, die verschwenderisch goldene Sonne Kaliforniens hängt wie ein blassroter Luftballon kraftlos über den Bäumen. Das Hausinnere ist erfüllt von sonderbaren gedämpften Farben, die Fußböden ein glühendes Rot, die Küchenschränke wie mit einem zarten Weinrot übermalt. Die Vögel draußen halten den Atem an, während dünne weiße Aschefäden vom Himmel schweben..."

Weitere Artikel: Susanne Klingenstein legt einen Artikel über den Einfluss der Neokonservativen auf die Regierung Bush vor. Sie verweist dabei auf den Weekly Standard, das intellektuelle Leitorgan der Bewegung, und einen Artikel William Kristols in The Public Interest über ihren Urvater Leo Strauss. Martin Kämpchen resümiert indische Diskussionen um eine mögliche Kandidatur Sonia Gandhis, der Witwe Rajiv Gandhis, als Premierministerin m. p. konstatiert in der Leitglosse anlässlich der Wiederaufnahme einer uralten Thomas-Bernhard-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen eine Musealisierung des Theaters. Hans-Dieter Seidel feiert Stefan Krohmers und Daniel Nockes Film "Sie haben Knut", in dem die Zeit der Friedensbewegung beschworen wird, "dass ein höherer Grad von Authentizität kaum vorstellbar ist". Joseph Croitoru liest in einer Zeitschriftenschau den Artikel "Erinnerungskultur und Umgang mit Vertreibung in Heimatbüchern deutschsprachiger Vertriebener" der Historikerin Jutta Faehndrich in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. Die Autorin kommt vor allem bei sudetendeutschen Heimatbüchern ins Gruseln ("Hier ist im Hinblick auf die Annexion der Sudentengebiete nach dem Münchner Abkommen von 'Befreiung' die Rede").

Dieter Bartetzko gratuliert dem Chansonsänger Salvatore Adamo zum sechzigsten Geburtstag. Wiebke Hüster gratuliert der Choreographin Reinhild Hoffmann zum Sechzigsten. Eleonore Büning schreibt zum Tod des Jazz- und Neue Musikkritikers Peter Niklas Wilson im Alter von nur 46 Jahren. Joerg Bader berichtet von der achten Kunst-Biennale in Istanbul. Und Joseph Hanimann freut sich, dass Le Corbusiers Kirche St-Pierre in Firminy nach dreißig Jahren vollendet wird.

In einem der Samstagsessays der früheren Tiefdruckbeilage klagt (???), dass "die Psychoanalyse in der postkommunistischen Gesellschaft genauso wenig Chancen wie in den Jahrzehnten zuvor" habe. Und (???) meditiert über das Bild des Krieges in Filmen wie "Saving Private Ryan" oder den "Wegen zum Ruhm".

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite denkt Jonathan Fischer über die unverhoffte Renaissance der Soul- und Funk-Musik aus den sechziger und siebziger Jahren nach (er nennt zum Beispiel das Label Vampi Soul bei Cargo Records, wo alte Raritäten veröffentlicht werden). Außerdem geht's um CDs mit französischen Arien, eingespielt von Magdalena Kozena und Jennifer Larmore, um eine CD des Jazz-Bassisten Miroslav Vitous, um eine Bach-CD der Geigerin Hilary Hahn, um frühe Aufnahmen Jewgenij Kissins und um die CD "Cuckooland" von Robert Wyatt (Hörprobe). Auf der Literaturseite feiert (??) ausführlich eine bei Aufbau herausgebrachte neue Ausgabe des späten Fontane-Romans "Unwiederbringlich". Und (???) setzt sich mit Anatole Frances "Roter Lilie" auseinander. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Besprochen werden eine Ausstellung mit Illustrationen des "Don Quijote" aus drei Jahrhunderten im Prado, Virginia Woolfs "Orlando" und Arthur Schnitzlers "Liebelei" in Leipzig, das Cello-Festival der Kronberg Academy, eine August-Sander-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau, Marco Petrys Film "Die Klasse von '99", und eine Ausstellung mit altindischen Skulpturen in Berlin.

In der Frankfurter Anthologie stellt Gert Ueding ein Gedicht von Rolf Hochhuth vor - "Malkasten Oktober":

"Lackhartes Licht, parkettgelb. See-Ufer weißweinhell. Die schildpattbraunen Farben in Feldern, Gärten, in den Reben. Saftschwere Birnen, die im Gras verdarben - so naß wie Du - nicht aufzuheben! (...)"

TAZ, 01.11.2003

Klaus Theweleit (mehr hier) hat am letzten Samstag den Johann-Heinrich-Merck-Preis - das ist der für literarische Kritik und Essayistik verliehene kleine Bruder des Büchner-Preises - bekommen und eine Dankesrede gehalten, die die taz gekürzt abdruckt. Fragen stellt er darin, die sich zum Beispiel darauf beziehen, dass der Namensgeber des Preises sich mit 50 Jahren, anno 1791, "das Herz wegschoss": "Liegt es etwa an den Formen? Liegt es daran, dass man mit 'Essay und Kritik' einfach nicht so lange durchhält wie als hochdekorierter Hersteller großer Historiengemälde? Wer in Romanen denkt oder in vergleichbaren Großentwürfen der Menschengesellschaft - lebt einfach länger? Wie die Reihe der Goethes und Thomas Manns zu beweisen scheint gegenüber der Reihe der Büchner, Mercks oder auch Walter Benjamins. Wird man nicht recht alt, wenn man nicht auch etwas Roman-Talent hat im Zeilenfall des eigenen Lebens? Fragen!"

Außerdem: Unter den neu gegründeten Zeitschriften hat Katrin Kruse zwei zum Thema Mode entdeckt, die ihr gefallen. Denn: "Das Interesse dieser neuen Magazine gilt nicht der Mode, sondern konkreten Entwürfen und den Ideen derer, die sie geschaffen haben." (Online gibt es von "Achtung" fast etwas, von "Zoo" leider gar nichts zu sehen.) Brigitte Werneburg ist über die Kunst-Biennale in Istanbul geschlendert. Eindrucksvoller aber fand sie die Stadt und die "rastlose Energie ihrer Bewohner". Aufklärung bietet Thomas Winkler, und zwar darüber, dass Napster wieder da ist (nämlich hier), mit Napster, wie wir es kannten und liebten, jedoch nichts mehr zu tun hat.

Im Magazin bricht Yusuf Islam in einem langen Interveiw mit Arno Frank sein Schweigen. Yusuf Islam? Nun, das ist the artist formerly known as Cat Stevens. Er ist nun unterwegs in Sachen Toleranz für den Islam: "Der Islam ist eine spirituelle Botschaft. Das wird gerne vergessen. (...) Das drücke ich in meinen neuen Songs aus. Ein Titel wie 'God Is The Light' - was könnte profunder sein? Wenn man das erst einmal verstanden hat ?" Sehr viel erhellender ist der Rest - mit Preziosen wie "Was uns fehlt, ist Demut" - leider auch nicht. Yusuf Islam gibt's demnächst, wie wir erfahren, auch bei Beckmann.

Barbara Kerneck berichtet aus Georgien, wo morgen die Wahlen für ein Parlament stattfinden, in dem sich etwa zehn Mal im Jahr geprügelt wird. Es besteht aber leise Hoffnung, dass "allzu krasser Betrug verhindert" werden kann. Und Robert Misik versucht, den "Typ Andreas Baader" zu verstehen ("Baader, der Exzentriker. Baader, der Abenteurer, ein Heros der Gewalt, lebenshungrig, aber auch voll Todessehnsucht"). Er ist nämlich der Meinung, dass sich die Aufregung lohnt.

Besprochen werden unter anderem der jüngste Kriminalroman aus Thailand von Christopher G. Moore (hier seine Website), ein neues Buch mit Essays von Nobelpreisträger V.S. Naipaul und eine Studie über das Scheitern von Großkonzernen an fremden Kulturen (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

FR, 01.11.2003

Als "Krieg zwischen der Familie des Kinos und der des Rocks", der zugleich "einen finsteren Kern menschlicher Existenz berührt" deutet mit philosophischem Abstand Martina Meister den Frankreich noch immer beschäftigenden Fall Cantat-Trintignant. Typisch französisch sei das ganze allerdings auch: "Warum lässt dieser Fall die Franzosen nicht los? Würde es die Deutschen tatsächlich genauso nachhaltig beschäftigen, wenn, sagen wir, Marius Müller-Westernhagen Marie Bäumer ins Koma geprügelt hätte? Frankreich ist anders. Hier bedienen Trintignant und Cantat die nationalen Phantasmen, die Klischees von der amour fou."

An Grundfragen des Theaters rührt dagegen Peter Michalziks Interview mit Dieter Dorn, der am Münchner Residenztheater eine Inszenierung von Thomas Bernhards "Der Theatermacher", die von 1988 datiert, wiederaufnimmt. Dorn versichert: "Ich garantiere, dass sich der Theatermacher in den vergangenen Jahren nicht verändert hat, sondern wenn, dann mitgewachsen ist, und ich garantiere, dass viele, die das vor zehn Jahren gesehen haben, jetzt sagen werden, um Gottes willen, das war so toll? Andere werden sagen, das ist ja ungeheuer gewachsen!" Der britische Philosoph Gerald Cohen (mehr hier) machte sich am Berliner Einstein-Forum zu Nahost-Fragen Gedanken. Gerade die Israelis, meint er, sollten sich mit Kritik an den palästinensischen Selbstmordattentaten - die er, anders als sein Kollege Ted Honderich, verurteilt - zurückhalten. Sein Argument: "Wer selbst dafür verantwortlich ist, so Cohen, dass anderen nur illegitime Mittel zur Verfolgung ihrer Interessen bleiben, der dürfe sich nicht beklagen, wenn diese zum Einsatz kommen."

Außerdem: Dass es Herbst ist und Winter wird, kann einem, wie Roman Luckscheiter feststellt, auch beim Blick in die neuesten Ausgaben deutscher Literaturzeitschriften nicht entgehen. Und auf der Medien-Seite berichtet Gabriella Vitiello über jüngste Aufrufe italienischer Intellektueller - von Umberto Eco bis Dario Fo -, Silvio Berlusconi endlich entschiedener den Kampf anzusagen.

SZ, 01.11.2003

Die Kollegen von der SZ haben gestern nicht gearbeitet. Denn heute ist Allerheiligen.