Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2003. Die FAZ sieht die Berliner Festwochen am Ende. Auch die NZZ kritisiert die zu den Festwochen gehörende Ausstellung "Berlin-Moskau" als "unbedarft". Die SZ bringt einen aktuellen und sehr lesenswerten Schwerpunkt zum Thema "Tarnen und Täuschen in der Literatur". In der Berliner Zeitung fragt Sonja Margolina nach der Rolle der Juden in der russischen Revolution.

SZ, 03.11.2003

Der Schriftsteller Joseph von Westphalen (mehr) eröffnet den wunderbaren Schwerpunkt über das Tarnen und Täuschen in der Literatur. Westphalen sorgt sich um Vaterland und die eigene Zunft, wenn nur noch Gerichte und Feuilleton - "Die Kotzbrocken!" - regieren und einem verbieten, über das Leben zu schreiben, das nun mal immer noch die besten Geschichten biete. "Ein Beispiel - erfunden natürlich: Man hat Besuch aus Israel. Hinreißende Frau. Wilde Wüstenweibhaare, die sie mit Olivenöl bändigt ... Sie geht entschlossen in einen Supermarkt, auf das Regal mit den Speiseölen zu, öffnet eine Flasche kaltgepressten Olivenöls, kippt ein paar Tropfen auf die Hand und reibt sich das Öl ins Haar. Den empört herbeieilenden Filialleiter fragt sie lächelnd: Haben Sie etwas gegen Juden? Natürlich muss diese wunderbare Geschichte veröffentlicht werden."

Weiter geht es mit Gustav Seibts Erinnerung, wie ihn Eckhard Henscheid (mehr) damals recht unvorteilhaft zur literarischen Figur gemacht hat. "Ich aber blickte in mein Inneres und vermochte kein Molekül Gekränktheit zu erkennen. Im Gegenteil, ich war geradezu leckerhaft erleuchtet." Autor Daniel Kehlmann (mehr) bekommt Kopfschmerzen, weil er immer mehr wie seine Hauptfigur zu sprechen beginnt. Julia Encke untersucht die hoch entwickelten Vertuschungstechniken bei Marcel Proust. Und Ijoma Mangold komplettiert das Ganze, wenn er uns an seinen Schlüsselerfahrungen beim Lesen von Martina Zöllners Roman "Bleibtreu" teilhaben lässt - in Wahrheit der Bericht über Zöllners Affäre mit Martin Walser.

Die Emanzipation der Frau ist zumindest im Pop gescheitert, stellt Dirk Peitz angesichts von Britney Spears fest. Im Übrigen hat die Ideologie des Sports das Geschäft übernommen. "Der neue Glauben an quälend anstrengende Ausbildung und messbare Leistung, an die gesangliche, tänzerische, optische Zurichtung des Körpers im Zeitalter seiner technischen Modifizierbarkeit hat den alten Glauben an die Hervorbringung von Pop durch Inspiration ersetzt."

Weitere Artikel: Andrian Kreye grübelt, ob das Internet zum Moralverfall führt, wenn die Kopie zum Maß aller Dinge wird. Ralf Berhorst fasst die kurzweilige, aber wenig aussagekräftige Rede Adolf Muschgs zum Amtsantritt in der Akademie der Künste zusammen. Fritz Göttler hofft, dass die provokante US-Serie "The Reagans" unbeschadet durch die Zensur kommt. Außerdem erwartet er nicht allzu viel vom Finale der Blockbuster "Matrix" und "Herr der Ringe". Und zu guter Letzt gratuliert der unermüdliche Göttler der unermüdlichen Marikka Rökk zum Neunzigsten. Martin Urban schreibt zum Tod des Publizisten und Biochemikers Frederic Vester (mehr). Ulrich Raulff würdigt den verstorbenen Theologen und Schriftsteller Heinz Zahrnt. Gemeldet wird, dass der Streit um eine Degussa-Beteiligung am Bau des Berliner Mahnmals sich zuspitzt.

Auf der Medienseite porträtiert Chefredakteur Hans Werner Kilz den Spiegel-Autor und Dokumentarfilmer Wilhelm Bittorf. Klaus Ott weiß, dass Holtzbrinck den Berliner Tagesspiegel zu Vorzugskonditionen an Ex-Manager Pierre Gerckens verkauft, für erstmal 2,5 Millionen Euro.

Besprochen werden Marco Petrys melancholischer Film "Die Klasse von ?99", die opulente Ausstellung zu Eugene Delacroix in der Kunsthalle Karlsruhe, Lambert Hamels wieder aufgenommene, aber schon etwas verstaubte Darstellung des Bernhard'schen "Theatermachers" in München, Olga Neuwirths Komposition "Lost Highway" nach dem Film von David Lynch beim Steirischen Herbst in Graz, das Elmauer "Jazztival", die Oase in der Festival-Wüste, Mariss Jansons Auftritt mit dem br-Symphonieorchester und Haydn, und Bücher, nämlich Uta Kleins Sammlung der Berichte israelischer Wissenschaftler zur Benachteiligung der Palästinenser "Die Anderen im Innern" sowie Jan Rydels Report über "Die polnische Besatzung im Emsland 1945-1948" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 03.11.2003

Joachim Güntner widmet sich der Debatte um Jörg Friedrichs neuen Band "Brandstätten", der mitunter in Großaufnahme die Opfer der alliierten Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg zeigt: "Friedrichs Stil, sein Ringen um dichte Beschreibung, phänomenologisch, explizit wie Pornografie, dabei oft verfremdend-geschraubt, ist wohl nicht nur Geschmacksache", schreibt Güntner. Aber auch: "'Brandstätten' ist ein deprimierender Bildband. Das knappe Dutzend inkriminierter Ansichten von zerstörten Menschenleibern macht dabei nur einen Bruchteil der Abbildungen aus. Melancholisch stimmt die Dokumentation der mittelalterlichen und barocken Bausubstanz vor ihrem Untergang; apokalyptisch wirken die Feuersbrünste und die still erstarrten Trümmerwüsten. Da ist keine Straße, die ihr Gesicht behielt. Finis Germaniae."

Weiteres: Kritische Worte verliert Claudia Schwarz über die Berliner Ausstellung "Berlin-Moskau 1950-2000": "Ob die als Höhepunkt der deutsch-russischen Kulturbegegnungen 2003/04 gedachte Ausstellung tatsächlich eine neue Form staatlicher Auftragskunst ist oder nicht: Offenkundig ist die Unbedarftheit, mit der man sich dem heutigen Russland zwischen wirtschaftlicher Genesung, autoritären Herrschaftsmustern und Genozid im Kaukasus nähert." Andre Bideau beschreibt, wie Rem Kohlhaas dem von dem Mies van der Rohe gebauten Illinois Institute of Technology neues Leben eingehaucht hat.

Besprochen werden das Ballett "Hommage a Balanchine" im Zürcher Operhaus und die Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus" in der Frankfurter Schirn, bei der es, wie Rezensentin Andrea Eschbach versichert, "neben Verklärung, Kitsch und Pathos, neben Schlachtengemälden, Bauprojekten des Sozialismus und Bildern privaten Glücks" auch "Qualitätsvolles zu entdecken" gibt.

Berliner Zeitung, 03.11.2003

In der Berliner Zeitung fragt Sonja Margolina nach den antisemitischen Äußerungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, wie es denn nun mit den Juden und der Revolution war. Natürlich gab es da auch Täter, schreibt, sie "die aber dann fast alle von Stalin vernichtet wurden. Die Frage nach der historischen Verantwortung könnte von der jüdischen Elite im Rahmen der Aufarbeitung der Sowjetgeschichte durchaus gestellt werden. Voraussetzung wäre jedoch die Auseinandersetzung der russischen Mehrheit mit ihrer Geschichte. Diese findet nicht statt. Es wäre deshalb töricht, in der Atmosphäre wachsender Xenophobie in Russland nach einem jüdischen Exorzismus zu verlangen. So bleibt der Konsens und damit die 'Wahrheit' über eine jüdische Verantwortung für den Sozialismus aus."

FR, 03.11.2003

Klischee killt Theater, bescheidet Peter Iden Thomas Ostermeiers Inszenierung von Karst Woudstras "Würgeengel" an der Schaubühne Berlin. "Drei Tote also. In der letzten Szene, die auf einen Friedhof führt, wird ihre Asche zum Geläut der Totenglocke von einem der Hinterbliebenen versehentlich verschüttet, die Beisetzung geht so schief wie das Leben. Immerhin bleiben in Karst Woudstras, angeblich durch einen Film Bunuel (El Angel exterminador) inspirierten Party-Stück "Der Würgeengel" noch zehn weitere Personen am Leben." Woudstra gelinge es aber nicht, den Überlebenden auch Leben einzuhauchen. "So gerät die beabsichtigte, kritische Beschreibung von Formen des Zerfalls eines heutigen bürgerlichen Milieus zur bloßen Denunziation. Es ist zu wenig, eine Gesellschaftsschicht fast ausschließlich dadurch zu kennzeichnen, dass ihre männlichen wie die weiblichen Stützen vor allem mit ihren Geschlechtsteilen befasst sind."

Ulrich Speck resümiert die 30. Frankfurter Römerberggespräche über ein Europa der Gefühle. Thomas Medicus berichtet von der offiziellen nächtlichen Amtseinführung von Adolf Muschg als Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Adam Olschewski vertraut in Times mager auf die letzten Aufrechten dieser Erde, Leute wie Billy Bragg. Gemeldet wird, dass der Theologe Heinz Zahrnt gestorben ist und dass Ted Honderichs umstrittenes Buch "Nach dem Terror" im Neu-Isenburger Melzer-Verlag erscheinen wird.

Besprochen werden einige Bücher, darunter Samira Bellils zehrende Ghetto-Erinnerungen "Durch die Hölle der Gewalt", Baldur Haases düstere DDR-Erinnerungen "Briefe, die ins Zuchthaus führten" und Richard Wagners Untersuchung des Balkans "Der leere Himmel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 03.11.2003

Videos, Real-Time-Filme, Rituale, Konzerte, Vorträge und Party: Was war nicht alles geboten bei "Kunst & Verbrechen", der Eröffnung des von Matthias Lilienthal geführten Theaterkombinats Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin-Kreuzberg. Ganz nett war das wohl schon, wie man dem verhaltenen Report von Katrin Bettina Müller entnehmen kann. "Wenn man dann aber in den mitgebrachten Filmen sah, wie in Moskau die Gruppe Radek Community mit dem Aufrollen eines Transparents aus zufälligen Passanten für wenige Sekunden ein Kollektiv formt, das von anderen Möglichkeiten des Lebens träumt, dann scheint die Verbindung wieder hergestellt: zwischen Theater und Straße, Leben und Kunst." Na ja, zumindest in Moskau.

In einem interessanten Gespräch mit Robert Misik redet der US-Politologe Benjamin Barber ("Imperium der Angst") auf der Tagesthemenseite über amerikanisches Regieren, amerikanische Präsidenten und amerikanische Kriege. "In einer solchen Epoche, wo es nicht Nation gegen Nation heißt, sondern Nation gegen al-Qaida oder Armee gegen Einzelkämpfer, wiegt die US-Übermacht gar nichts. Langfristig kann ein Netz von Schattenkriegern die USA besiegen."

Weitere Artikel im Feuilleton: Detlef Kuhlbrodt schmunzelt über subversive Kaufhausmusik. Helmut Höge wirbt für einen lieben Bekannten aus der U-Bahn-Unterführung. Und Katja Winckler amüsiert sich auf dem bunten Deutschen Fest des Goethe-Instituts in Kairo, wo deutsche und ägyptischen Künstler ihre gemeinsamen Projekte vorstellten.

Schließlich Tom.

FAZ, 03.11.2003

Eleonore Büning zieht eine deprimierte und deprimierende Bilanz der Berliner Festwochen. Am Ende seien sie. Die Ausstellung "Berlin-Moskau" habe das Thema verfehlt, die Musiktheaterproduktionen kannte Büning schon aus Baden-Baden, und die Konzerte waren "erschütternd dünn" besucht. Büning kritisiert auch den Festwochenchef Joachim Sartorius, der das Berliner Publikum als "verwöhnt, kundig, abgebrüht" bezeichnet hatte. "Es ist keineswegs klug, einer Hörerschaft, die man sich erst noch erobern muss, derart sauertöpfisch den Schwarzen Peter zuzuweisen. Man darf erstens entnehmen, dass ein dümmeres Publikum dem Veranstalter lieber wäre oder dass die Festwochen planvoll an ihrem Publikum vorbeiorganisiert haben, oder am Ende womöglich sogar stolz sind auf ihr Privatissime. Dies ist nur einer von vielen Kardinalfehlern, die kaum wieder gut zu machen sind."

Weitere Artikel: Christian Geyer kritisiert in der Leitglosse Hubert Markl, den ehemaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, der jeden, der an die Menschenwürde des Zweizellers glaubt, als Biologisten bezeichnet. Kerstin Holm kommentiert die Vorgänge um den russischen Öl-Tycoon Chodorkowskij. Christoph Albrecht resümiert die 30. Römerberggespräche zum Thema "?in Liebe, Europa". Dieter Bartetzko gratuliert Marika Rökk zum Neunzigsten. Andreas Rosenfelder hat einem Kolloquium über Politik und Philosophie mit Norbert Blüm an der Uni Bonn zugehört. Joachim Müller-Jung schreibt zum Tod des Biokybeernetikers Frederic Vester.

Auf der letzten Seite berichtet Frank Pergande, dass ein gemaltes Diorama der Schlacht um den Reichstag, das das Hauptquartier der Russen bei Berlin zierte, wiedergefunden worden sei. Volker Weidermann gratuliert der Collection S. Fischer zum 25. Geburtstag. Und Edo Reents schreibt ein Profil des Soulmusikers Ike Turner, der in einer Autobiografie erklärt, warum er seine Frau geschlagen hat und dies nun verfilmen lassen will.

Auf der Medienseite schildert Francesca del Giudice, wie einige Piratensender in Italien gegen Berlusconis Duopol von privaten und staatlichen Anstalten ansenden, und sie empfiehlt vor allem den auch im Internet zu betrachtenden Sender nowartv. Paul Ingendaay berichtet über ein Gerichtsurteil, das wenig schmeichelhaft ist für das spanische Staatsfernsehen - ihm wird attestiert, dass es über denn Generalstreik des Jahres 2002 parteiisch berichtete.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Lyonel Feiningers Menschenbildern in der Hamburger Kunsthalle, eine Oper Olga Neuwirths nach David Lynchs Film "Lost Highway" in Graz, eine Ausstellung mit Gemälden von Corinne Wasmuht in der Kunsthalle Baden-Baden, Thomas Ostermeiers Inszenierung des "Würgeengels" nach Bunuel an der Berliner Schaubühne, Werner Herzogs Dokumentarfilm "Rad der Zeit" über den Dalai Lama und einige Sachbücher, darunter eine Biografie über Theodor Mommsen.