11.11.2003. In der SZ analysiert Wolfgang Benz die Rede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann als "lupenreines Exempel" für Antisemitismus. Die FAZ hat eine Schriftstellerin entdeckt: Kirsten Fuchs heißt sie. In der FR bockt der Kunde. Die taz ist nicht völlig zufrieden mit dem Berliner Jazzfest.
SZ, 11.11.2003
Als
"Lehrstück für den antisemitischen Diskurs schlechthin" geißelt Wolfgang Benz, Leiter des
Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, die Rede des CDU-Abgeordneten
Martin Hohmann. Er habe "in seiner patriotischen Rede zum 3. Oktober nicht nur vorgeführt, wie Hass gegen Juden instrumentalisiert wird, er hat auch das lupenreine Exempel statuiert, was Antisemitismus ist und wie er funktioniert." Hohmanns Rede sei keine "rhetorische Entgleisung", sondern "elaboriert und
mit Fleiß erarbeitet". Mit dem Ziel: "Der Redner suggeriert seinem Publikum, man habe durch gemeinsame Forschungsarbeit die Erkenntnis gewonnen, dass der Vorwurf an die Deutschen schlechthin, 'Tätervolk' zu sein, unberechtigt sei. Dazu hat der Abgeordnete H. den klassischen antisemitischen Diskurs vorgeführt, wie man ihn seit den Reden kennt, in denen im 19. Jahrhundert die 'Judenfrage' erfunden und deren Lösung und 'Endlösung' im 20. Jahrhundert betrieben wurde. Zum Wesen dieses Diskurses gehört, dass die jüdische Minderheit in Anspruch genommen wird, um
Probleme nationaler Identität der Mehrheit zu artikulieren."
Weiteres: Der Historiker Bernd Wagner (
"IG Auschwitz")
kommentiert den Insolvenzantrag der
IG Farben, die trotz Pleite "als Symbol für die NS-Wirtschaft weiterleben" werde. Ralf Hertel
berichtet über
Nöte des Buchhandels, dem "Nebenmärkte", etwa der Verkauf von Billigausgaben in Supermärkten, Bauschmerzen bereiten. Roland Gross
freut sich über die
Wiedereröffnung des
Museum König in Bonn, das komplett umgebaut wurde. Simone Kaempf
informiert über das neue Theaterfestival
"Außer Atem" in den Berliner Sophiensälen, dessen Stücke einen Filmstoff behandeln mussten. Der "Ödnis subventionierter Literatur"
begegnete Martin Z. Schröder dagegen beim 11.
Open Mike in Berlin.
Alexander Kissler
referiert die Warnung des evangelischen Theologen Eberhard Jüngel vor einer
"Überforderung des Gewissens" in einem Vortrag für die Siemens-Stiftung. Unter anderem um die
"Pornographisierung der Öffentlichkeit" ging es auf einem Kolloquium am Stuttgarter
Schloss Solitude. Gottfried Knapp
schreibt einen
Nachruf auf den wichtigsten Vertreter der Arte Povera,
Mario Merz ("der Mann mit dem Iglu"). In der "Zwischenzeit"
beantwortet Joachim Kaiser die Frage "Warum heute noch
Furtwängler?". Sonja Zekri
fragt sich anlässlich eines "Sonderpreises" bei den Wahlen zur "Miss Earth" für eine in den USA lebende Afghanin, warum
Schönheitswettbewerbe plötzlich "so verflucht politisch" sein wollen.
Besprochen werden Alban Bergs
Oper "Lulu" als "Emanzipationsstück" an der
Hamburger Staatsoper,
John Crankos Choreografie "Onegin" an der Berliner
Staatsoper Unter den Linden, eine
Ausstellung über
"140 Jahre Industriefotografie" im Hamburger
Museum der Arbeit und die Österreich-
Filmsatire "Haider lebt - 1. April 2021" von
Peter Kern. Rezensionen gibt es zu
D.B.C. Pierres "brillanter"
Satire "Vernon God Little", die den Booker-Prize bekam, und einer 500 Seiten starken, bisher nur auf englisch erschienenen
Nationalgeschichte von
Neuseeland.
TAZ, 11.11.2003
Als "großes
Kulturbetriebsgewimmel"
interpretiert Detlef Kuhlbrodt in der Teddy-Serie die laufenden Aktivitäten im
Adorno-Jahr oder auch als "umfassendes So-tun-als-ob". War es ein Zuviel an "theoretischem Überbau", der Christian Broecking das
Jazzfest Berlin ein bisschen versaute? Offenbar ja, wie sein
Resümee der Veranstaltung nahe legt: Die Schwerpunktsetzung mit der japanischen Jazzszene geriet offenbar reichlich beliebig. Broecking empfiehlt jedenfalls, sich in Zukunft wieder lieber "an seiner
Kernkomptenz zu erfreuen. Wege in die
Bedeutungslosigkeit lauern jedenfalls an allen Ecken."
Ausgerechnet einen
Wirklichkeitsverlust machte Stefan Reinecke auf dem
Dokfilmfestival in Duisburg aus. Der Grund: Es seien "fast nur mit Video- und digitaler Technik entstandene Filme zu sehen" gewesen. "Und viele sahen auch genau so aus: die Bilder zufällig, der Schnitt eher gesampelt als montiert, formal zwischen Dokfilm, Feature und Reportage schwankend.
Trial-and-Error-Ästhetik." Mit einigem Unwillen
kommentiert Uli Hannemann eine neue
Autowerbung, in der auch Adrenalin vorkommt. Und Harald Fricke
würdigt im Nachruf den verstorbenen italienischen Künstler
Mario Merz. Auf der Medienseite
findet sich ein Hinweis auf die
"17. Woche des Hörspiels", die das "etwas stiefmütterlich behandelte Radioformat an den Erfolg der Hörbücher andocken" soll. Und auf der Rätselseite tazzwei
resümiert Tilman Baumgärtel die
"Matrix-Trilogie".
Hier wie immer TOM.
FR, 11.11.2003
Der
Wirtschaftsaufschwung hat einen natürlichen
Feind: den
Konsumenten. So zumindest lautet die These von Frank E.P. Dievernich, der ihm "Tücke" und "Unberechenbarkeit"
bescheinigt - allerdings auf Grund zunehmend fehlender und verfehlter Kommunikation der Unternehmen mit dem Kunden. "Die
Firmen verbarrikadieren sich regelrecht hinter Service-Telefonnummern und E-mail-Adressen. Aus den Telefonbüchern verschwinden sukzessive die Nummern und Adressen der Zentralen, so dass die realen Kommunikationszugänge für den Kunden gekappt sind. Für das Unternehmen hat es den Vorteil, ungestört mit dem innerhalb des Unternehmens konstruierten Bildes eines Idealkunden zu arbeiten. Nach Außen aber wird die Botschaft des Sich-Kümmerns aufrechterhalten." Kein Wunder also, dass
der Kunde "bockt".
Weiteres: In einem ausführlichen Text
stellt Gunnar Lützow die Bebauungspläne für das Berliner
Tacheles-Gelände, das - ganz auf der Linie des "New Urbanism" - mit Hotels, Lofts und Einkaufspassagen aufgepeppt werden soll. Christian Schlüter
resümiert einen "vergnüglichen"
Kommunismus-Kongress in Frankfurt, an dem unter anderem Axel Honneth und der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek teilnahmen. In Times mager
zitiert Michael Rudolf aus seinem selbst erstellten
Kultduden. Auf der
Medienseite informiert Harald Maas über das harte Vorgehen der chinesischen Regierung gegen
"Web-Dissidenten", sprich: die freie Meinungsäußerung im Internet. In
Indien, so ein weiterer
Bericht, demonstrierten Tausende von Journalisten gegen
Übergriffe auf die renommierten indische Tageszeitung
The Hindu. Schließlich
würdigt Sandra Danicke den verstorbenen Art-Povera-Künstler
Mario Merz.
Besprochen werden die
Inszenierung von
Alban Bergs "Lulu" in Hamburg, die
Ausstellung "fast forward" am
ZKM in Karlsruhe und eine
Schau über
"Königliche Visionen" für Potsdam im dortigen
Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte.
NZZ, 11.11.2003
Sehr beeindruckt ist Peter Hagmann von Peter Konwitschnys "ziemlich wilder, ziemlich verstörender, ziemlich anregender"
Inszenierung von Alban Bergs
"Lulu" in der Hamburgischen Staatsoper: "'Lulu' erzählt bei ihm nicht von der Frau, die, was ihre
Triebhaftigkeit betrifft, die Grenzen des gesellschaftlich Tolerierten überschreitet und darum zu Tode kommt, sondern vielmehr von den Männern, die, so sehr sie von ihr angezogen werden, vor der Frau davonrennen: in die eigenen Projektionen, in Sublimationen wie den Erfolg an der Börse oder die Erschaffung einer Oper, in den Wahnsinn.
'Lulu', ein Männeralbtraum."
Hubertus Adam
schreibt zum Tod des Künstlers (mehr
hier) und "führenden Vertretern der Arte Povera"
Mario Merz. Besprochen werden
Giuseppe Verdis Oper "Traviata" in
Lausanne, die Eröffnung des
Picasso-Museums von
Malaga, die Ausstellung "Zoomorphic. New animal architecture" im Londoner
Victoria & Albert Museum, die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift
"Psyche", und Bücher, darunter der jiddisch-deutsche
Gedichtband Rajzel Zychlinskis,
Arturo Perez-Revertes Roman über Kokaingeschäfte und Christoph Neidharts
Porträt der
Ostsee (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 11.11.2003
Richard Kämmerlings hat beim Berliner
"Open Mike"-Wettbewerb eine Schriftstellerin entdeckt. Sie heißt
Kirsten Fuchs, und ihr sozialer Realismus erinnert Kämmerlings an die Monologe in
Mike Leighs Film "Naked": Ein Auszug aus dem Text, den sie verlas: "Die Frau, die den Kinderwagen will, duzt mich. Ich sieze sie. Ich gehe durch ihre Wohnung wie durch ein modernes Museum. Was wollte der Künstler uns damit sagen? Es ist eine
kackbeschissene Welt? Die Ironie liegt im Abwasch? Das erste Kind sitzt mit einer Beule auf dem Kühlschrank als Symbol für was Kaltes?" Guten Morgen, es ist November!
Weitere Artikel: Henning Ritter
konstatiert eine
allgemeine Taktlosigkeit gegenüber Juden und stellt damit die Frage, ob die
Degussa am Bau des Holocaust-Mahnmals beteiligt werden soll, die Äußerungen des CDU-Abgeordneten
Hohmann und
Sabine Christiansens Entscheidung, ausgerechnet den umstrittenen Historiker
Norman Finkelstein in ihrer Sendung für die Juden sprechen zu lassen, unter einen Begriff. Andreas Platthaus mokiert sich in der Leitglosse über
Thomas Gottschalk, der glaubte, dass ihm als "Show-Titan" das
Rederecht im Bundestag zusteht, und der von Bundestagspräsident Thierse in die Schranken gewiesen wurde. Heinrich Wefing hat sich einen Fernsehfilm über die Soldatin
Jessica Lynch angesehen, deren Rettung durch Kameraden als eine Episode aus dem Irak-Krieg in Erinnerung blieb (und die
FAZ findet den Film so wichtig, dass Heike Hupertz auf der
Medienseite einen zweiten
Artikel dazu schreibt). Lucas Burkart bewundert die Eleganz, mit der die
Römer ihre
Baustellen verhüllen. Niklas Maak schreibt zum Tod des Künstlers
Mario Merz. Andreas Rossmann freut sich, dass das Düsseldorfer
Heinrich-Heine-Institut, die Handschrift von Heines "Nachtgedanken" bei einer Auktion erwerben konnte. Mathias Grünzig feiert eine
"anmutige Reihenhaussiedlung" der Berliner Architekten
Thomas Müller und
Ivan Reimann (mehr
hier) in der Dresdner Innenstadt.
Auf der
Bücher-und-Themen-Seite legt der Berliner Professor für Forensische Psychiatrie
Hans-Ludwig Kröber anhand neuerer und älterer Bücher dar, dass "die
Hirnforschung hinter dem Begriff
strafrechtlicher Verantwortung" zurückbleibe.
Auf der
letzten Seite stellt Hubert Spiegel
Stefan Kaegis Krakauer Stadttheater vor, das einsame Zuschauer auf Erlebnisreisen durch die Stadt schickt. Regina Mönch erinnert an den General
Paul von Hase, der eine maßgebliche Rolle in der Widerstandsgruppe um Stauffenberg spielte und als Berliner Stadtkommandant die gerade wieder aufgebaute
Kommandantur Unter den Linden bewohnte. Und Martin Kuhna zitiert Gerüchte, wonach Ian Flemings Held
James Bond in Wattenscheid geboren sein soll.
Auf der
Medienseite begrüßt Michael Hanfeld einen radikalen Reformvorschlag der Länder Bayern, Sachsen und Nordrheinwestfalen, die
3sat und
Arte zusammenlegen, die Zahl der Radiosender von
61 auf 45 reduzieren und die Planstellen von
ARD und
ZDF um 5 Prozent reduzieren wollen.
Besprochen werden
Peter Konwitschnys Inszenierung der "Lulu" an der Hamburgischen Staatsoper (laut Jürgen Kesting ein " faszinierender, verstörender und im besten Sinne fragwürdiger Abend"), ein Konzert der stets noch existierenden
Fleetwood Mac und Tage der Neuen Musik im lothringischen
Forbach.