Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2003. In der NZZ hat Urs Widmer den vor 200 Jahren uraufgeführten "Wilhelm Tell" nachrecherchiert und kommt zu dem Schluss: Schiller irrt nicht. In der SZ macht sich Ulrich Beck Gedanken über den globalisierten Antisemitismus. Die FR erlebt das Pariser Sozialforum als "Wohlfühlbecken der Gleichgesinnten". Der FAZ schwankt in der von Rem Kohlhaas entworfenen niederländischen Botschaft in Berlin der Boden unter den Füßen.

NZZ, 17.11.2003

Vor 200 Jahren wurde Schillers "Wilhelm Tell" in Weimar uraufgeführt. Mit dem Drama in der Hand hat sich der Schriftsteller Urs Widmer auf eine "Zeitreise in die literarische Vergangenheit" begeben und - im Gegensatz zu Schiller - die Originalschauplätze bereist. "Vielleicht ist die Innerschweiz von Gott erst nach 1804, dem Jahr der Entstehung des 'Wilhelm Tell', erschaffen worden, mit dem Text der Uraufführung in der Hand", überlegt er angesichts der treffenden Beschreibungen, besticht das Drama doch "durch eine geradezu aufdringlich exakte Topografie". Schiller, versichert uns Widmer, "macht keine Fehler. Keine Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären abschreitbar".

Ilija Trojanow stellt "eines der größten und traditionsreichsten islamischen Lehrinstitute der Welt" vor: das im Norden Indiens in der Kleinstadt Deoband angesiedelte Darul Uloom Deoband, das der Verallgemeinerung widerspreche, "der heutige Islam könne auf die Moderne nur aus einem Geist der Frustration und des Versagens heraus reagieren".

Weitere Artikel: Uwe Stolzmann erzählt von einer "wundersamen Begegnung" mit Rudolf Ditzen alias Hans Fallada (mehr) in dessen Bauernhaus im mecklenburgischen Carwitz. Der Schriftsteller war 1933 dorthin gezogen, um einen Neubeginn zu wagen, "ohne Alkohol und Morphium, fern vom Getöse, von den neuen braunen Führern, ohne Angst und ohne Versuchung". Lilo Weber fragt sich nach dem Genuss der Premiere des neuen Abends mit jüngeren Balletten William Forsythes sowie einer Uraufführung des Balletts Frankfurt (hier), "wie man solche Künstler nur gehen lassen kann?". Besprochen werden noch eine Ausstellung von Phantasiestädten in Barcelona und Bernd Alois Zimmermanns Violinkonzert in der Tonhalle Zürich.

FR, 17.11.2003

Großes Alptraumtheater hat Peter Michalzik an den Münchner Kammerspielen miterlebt. Johan Simon inszeniert dort "höchst erfolgreich" den shakespeareschwangeren "Titus" von Heiner Müller, in einer gelungenen Aktualisierung. "Der Wachschlaf vor den Bildern gebiert andauernd Ungeheuer, die niemanden wecken. Simons hält den Dämmerzustand bis zum Ende aufrecht, indem er die Figuren verwischt. Jeder könnte auch die anderen spielen: vor dem Fernseher werden nicht nur alle Kriege grau, sondern wir können auch für alle sein. 'Ich kannte einen Neger, aber der war schwarz', sagt Tamora über Aaron."

Martina Meister heißt die "Altermondialisten" von Attac in der Welt der Widersprüche und der faulen Kompromisse - auch Realität genannt - willkommen. Das Pariser Sozialforum - nicht mehr als ein "warmes Wohlfühlbecken der Gleichgesinnten": "Die Idee von einer gerechteren Welt ist somit längst zu einem so großen Dach geworden, das jeder Idee Obdach bietet. Somit auch den Widersprüchen. Man vermisst die Verbindung, die übergreifende Theorie oder Strategie, die beispielsweise erklärt, wie sich Jose Boves Kampf für eine geschützte Agrarwirtschaft in Europa mit den Forderungen nach gerechten Preisen für Produkte von indischen Reisbauern vereinbaren ließe."

Den Dissens hat Rolf C. Hemke auch auf dem Berliner Kongress "Bündnis für Theater" vermisstGemeldet wird der Tod des marokkanischen Schriftstellers Mohamed Choukri.

Auf der Medienseite gibt es ein leider anonymes Interview mit dem Parapsychologie-Experten Lucadou. "ick" bespricht die Dauerwerbesendung "Sunday Night Classics" im ZDF.

Weitere Besprechungen widmen sich Christian Eberts zügiger Inszenierung von Michail Lermontows "Maskerade" an der Frankfurter Kammerspielbühne und Büchern, nämlich Jules Schelvis' Geschichte über Vernichtung und Widerstand im NS-Lager Sobibor sowie Thomas Lindenbergers Studie zur Rolle der "Volkspolizei" im Machtapparat der SED (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 17.11.2003

Daniel Bax sieht die Bombenanschläge von Istanbul als großen Fehler von Al-Qaida an, als weiteren Schritt der jüngsten Entfremdung der Terroristen von der eigenen Basis. Angefangen hat alles im Mai in Casablanca. "Die Attentate in Marokko empfand die Mehrheit der Bevölkerung als gegen die eigene Gesellschaft gerichtet: Die Terroristen hätten sich mit ihren Taten außerhalb der Gesellschaft gestellt, sogar außerhalb der Religion. Nicht anders wird es nun in Istanbul sein, wo die angegriffenen Synagogen für die meisten Bürger integraler Bestandteil des Stadtbilds und damit der eigenen, als tolerant empfundenen Kultur sind."

Weitere Artikel: Von Goldzähnen, Schneeballsystemen und Lidl-Märkten im tollen Berlin-Neukölln schwärmt Andreas Becker. Reiner Wandler schreibt zum Tod des "Biografen von Tanger" Mohamed Choukri. Die einzige Besprechung widmet sich den Arbeiten des Digitalkünstlers Andreas Müller-Pohle (ein paar seiner Projekte) in Braunschweig. In der tazzwei porträtiert Tobias Rapp den Nachfolger des göttlichen Michael Jackson als König des Pop: Justin Timberlake.

Auf der Medienseite erwägt Heiko Dilk die Nachteile des geplanten Gesetzes zum erweiterten Schutz der Privatsphäre. Christoph Schultheis verreißt mitleidslos die zweite Nummer des Neon-Magazins.

Schließlich Tom.

SZ, 17.11.2003

Ein neuer europäische Antisemitismus beschäftigt Ulrich Beck (mehr) im Leitartikel. "Auch in Deutschland wird der immer labile historische Kompromiss des friedlichen, um Versöhnung ringenden Zusammenlebens von Juden und Nicht-Juden nun durch die Globalisierung der Emotionen unterspült, die durch die transnationale Verinnerlichung des israelisch-palästinensischen Konflikts ausgelöst wird. Die Mehrzahl der Deutschen (und der Europäer) akzeptiert nicht die für die deutsch-jüdische Versöhnung so zentrale Unterscheidung von Juden und Israelis. In dieser essentialistischen Gleichsetzung von Juden mit Israelis sehen sich angesichts der Israel-Kritik deutsche Juden erneut ausgegrenzt. Die Israel-Kritik schlägt um in Judenkritik, Judenfremdheit, Judenfeindlichkeit. So vollzieht sich schleichend der Übergang vom deutschen Juden als Symbolfigur des schlechten Gewissens zum Juden als Fremden. Die Risikozeit für alltägliche Ausgrenzungserfahrungen (und Schlimmeres) wächst."

Weitere Artikel: Gleich drei Bilder des Wuppertaler Von-der-Heydt-Museums sind vermutlich Raubkunst aus jüdischen Sammlungen, berichtet Stefan Koldehoff. Andreas Bernard meditiert recht prickelnd über das neue luxuriöse Fiji-Sprudelwasser und die Sehnsucht nach dem Unberührten. Gelangweilt kommentiert C. Bernd Sucher Johannes Raus konsensschwangeres "Bündnis für Theater". Fritz Göttler findet den französischen Plan, eine Kunst-Stadt für das Training von Straßenkämpfen zu errichten, recht abenteuerlich. Je flacher der Gegenstand, desto mehr Analyse ist vonnöten, hat Dirk Peitz auf der Kölner Konferenz über "Popularisierung und Popularität" erfahren.

Simone Kaempf vermag den happeningartigen Einführungskursen in Globalisierungsfragen in den Berliner Sophiensälen nicht sonderlich viel abzugewinnen. "Bussi, Büfett und Baba!", mutiger wurde es nicht bei der Verleihung des Nestroy-Theaterpreises in Wien, grantelt Helmut Schödel. Martin Z. Schröder resümiert die 17. Hörspielwoche in der Berliner Akademie der Künste. Peter Schmitt hält die Begleitausstellung zu Hans Rehbergs "Wölfen" am Erlanger Stadttheater für unausgewogen und konstruiert. Gemeldet wird der Tod des marokkanischen Schriftstellers Mohamed Choukri und die Kehrtwende des Rings Christlich-Demokratischer Studenten in Sachen Studiengebühren.

Auf der Medienseite präsentiert Evelyn Roll mit einem Porträt von Herbert Riehl-Heyse die letzte Folge der Artikelreihe über "Große Journalisten". Willi Winkler wünscht sich mehr Stumme bei Bunte-TV.

Besprochen werden Johan Simons zwiespältige Version von Heiner Müllers "Titus" an den Münchner Kammerspielen, eine vorzügliche Schau über El Greco im New Yorker Metropolitan Museum, Cedric Klapischs sanft prickelndes filmisches Mixgetränk der Kulturen "Barcelona für ein Jahr", und Bücher, darunter die deutsche Ausgabe der Urfassung von Leo Tolstois "Krieg und Frieden", Egon Bahrs anregende Standortbestimmung der deutschen Außenpolitik "Der deutsche Weg" sowie Thomas Kistners Band über "Die Toten von Leticia - Organraub, Kokainschmuggel und Menschenjagd am Amazonas" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 17.11.2003

Niklas Maak besucht die neue, von Rem Kohlhaas entworfene niederländische Botschaft in Berlin-Mitte und ist überwältigt von diesem "Zauberwürfel": "Die wahre Sensation der Botschaft ist ihr Inneres: Hier gibt es kein Treppenhaus und keine Etagen mehr; ein silbern glänzender, ganz mit Aluminium verkleideter Korridor windet sich, mal als Treppe, mal als Rampe, wie ein wildgewordener Wurm durch nicht weniger als zwanzig Ebenen durch das Gebäude, öffnet sich zu kleinen Sitzungsräumen, dringt aus der Fassade heraus - hier geht man auf grünem Glas, sieht weit unten die Straße unter sich - und bohrt sich schräg durch das Gebäude bis auf das Dach empor." Diese Architektur kostete allerdings auch Opfer: "Die Statiker dürfte die anarchische Innenstruktur in den Wahnsinn getrieben haben." Hier ein Modell des "wildgewordenen Wurms", hier Bilder vom Bau der Botschaft.

Weitere Artikel: Der katholische Priester und Moraltheologe Eberhard Schockenhoff greift in die FAZ-Debatte über die Hirnforschung ein und meint anders als die Hirnforscher Wolf Singer und Gerhard Roth, dass man an dem Begriff der Verantwortung für menschliches Handeln festhalten solle. "jschl" singt eine kleine Hymne auf die Stadt Bochum, welche den SPD-Parteitag zu realistischen Zukunftsszenarien inspirieren mag. Jürg Altwegg meldet, dass in Frankreich ein antisemitisches Schulbuch zurückgezogen wurde (wobei eigentlich das erstaunlichste ist, dass es erscheinen konnte). Patrick Bahners meldet, dass Eberhard Jüngel in München vor der Carl Friedrich von Siemens Stiftung über den Begriff des Gewissens sprach. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Axel Schultes zum Sechzigsten. Ingeborg Harms blickt in deutsche Zeitschriften, die sich mit der Krise der Kirchen und der Literatur befassen. Erna Lackner hat miterlebt, wie der Suhrkamp Verlag in Wien die ersten Bände der Thomas-Bernhard-Gesamtausgabe vorstellte. Hussain Al-Mozany schreibt zum Tod des Schriftstellers Mohamed Choukri.

Auf der Medienseite freut sich Arnold Bartetzky, dass der Denkmalschutz auf Kuba mit Rücksicht auf die Touristen gewisse Fortschritte macht. Lorenz Jäger analysiert interne Auseinandersetzungen im amerikanischen Judentum um Mel Gibsons Film "The Passion". Joachim Müller-Jung stellt den Wissenschaftsfunktionär Otmar Wiestler vor.

Besprochen werden die Uraufführung von Joanna Laurens' Stück "Fünf Goldringe" in Hannover, der isländische Film "Noi Albinoi", Donizettis "Liebestrank" in Köln und einige Sachbücher, darunter ein kleines Sachlexikon über die arabische Welt.