Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2003. In der FAZ singt Andrzej Stasiuk ein Hohelied auf die Welt jenseits des siebzehnten Grads östlicher Länge. In der Welt erklärt George Soros, wo und warum er sein Geld sinnvoll ausgibt. Im Tagesspiegel behauptet Leon de Winter, dass die arabische Welt unter arabischen Problemen leidet. Die NZZ versucht noch einmal zu klären, was Pop ist.

FAZ, 12.12.2003

Andrzej Stasiuk, der Autor, der hundert Arten kennt, den Schnee zu beschreiben, und dem man darum alle Ostalgie verzeiht, singt mal wieder ein Hohelied auf jene Region irgendwo bei Ukraine und Slowakei, wo Europa anfängt, sich selbst ade zu sagen. "Das ist eine Sache von Instinkt und Geschmack, das hat man im Blut - so wie die Neigung zu ungesunden, doch erregenden Genüssen. Ich habe einfach eine Schwäche für alles, was rechts vom siebzehnten Grad östlicher Länge liegt. Ich mag das, diese nonchalante Lässigkeit der Materie, die für die Mühen des Intellekts und Geistes nur ein sardonisches Lächeln übrig hat; ich mag es, wenn etwas sich nicht allzusehr anstrengt, weil ihm gar nicht soviel daran liegt; ich mag, wenn etwas zurückbleibt, um Zeit zur Besinnung zu finden, die nicht unbedingt von einer Schlussfolgerung bekränzt sein muss." So geht's die ganze Zeit weiter - er kann halt schreiben.

Weitere Artikel: Jürgen Kaube mokiert sich in der Glosse über ein in Zürich angebotenes Theaterintendantenstudium zu 38.000 Franken Gebühren in Zeiten der Theaterschließungen. Ilona Lehnart fragt sich, was eine deutsche Stadt wohl bieten muss, um im Jahre 2010 zu Kulturhauptstadt erkoren zu werden. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des großen Wagner-Sängers Hans Hotter. Uwe Walter sieht Thukydides in der Präambel zu Giscard d'Estaings europäischem Verfassungsentwurf (hier als pdf) falsch zitiert. Matthias Rüb war dabei, als in Washington in Gegenwart von Präsident Bush ein irakisches und ein Washingtoner Sinfonieorchester gemeinsam aufspielten. Paul Ingendaay lobt die Entscheidung, den Cervantes-Preis an den chilenischen Lyriker Gonzalo Rojas zu vergeben.

Auf der letzten Seite schreibt Stephan Kuß über das Politikberatungsagenturunwesen in der deutschen Hauptstadt. Peter Rawert analysiert ein höchstrichterliches Urteil, das Spenden und Schenkungen erbsteuerrechtlich gleichsetzt. Und Richard Kämmerlings stellt den Verlagsmann Georg Rieppel vor, der von Beck zu Suhrkamp geht, um Günter Bergs vakante Stelle zu besetzen.

Auf der Medienseite schildert Tobias Piller Turbulenzen beim italienischen Staatssender Rai. Während Erna Lackner Stillstand beim ORF beklagt.

Besprochen werden eine Georgia-O'Keeffe-Ausstellung in Zürich, Moritz Rinkes "Optimisten" am Freiburger Theater, neue Choreografien von Merce Cunningham in Paris und Elmar Fischers Spielfilmdebüt "Fremder Freund".

Welt, 12.12.2003

Unter der ansprechenden Überschrift "Kann denn Spenden Sünde sein?" erklärt George Soros (mehr), warum er im amerikanischen Wahlkampf "zehn Millionen Dollar für America Coming Together (ACT), eine Basisorganisation für höhere Wahlbeteiligung, bereitgestellt" hat und "2,5 Millionen für den MoveOn.org-Wählerfonds, eine Internet-Werbegruppe, die in Anzeigen die Verfehlungen der Regierung herausstreicht". In den Vereinigten Staaten wurde er dafür hart kritisiert. Im Prinzip ist Soros für eine Reform der Wahlkampffinanzierung in den USA, aber "während die Debatte weitergeht, helfen meine Spenden sicherzustellen, dass die Geldzuwendungen derer, die Bushs Wiederwahl wollen, den Wahlvorgang nicht dominieren".

Tagesspiegel, 12.12.2003

Die Araber, meint Leon de Winter (mehr) im Interview, sollten endlich zugeben, dass ihre Probleme selbstgemacht sind. "Es gibt zwei eindrucksvolle Rapporte von arabischen Intellektuellen und Wissenschaftlern für die Vereinten Nationen. Darin wird darauf verwiesen, dass die Probleme wirklich arabische Probleme sind. Was fehlt uns, wird dort gefragt. Hat das mit unserer Religion zu tun, mit unserem Stellenwert in der Welt? Natürlich. Aber lieber sucht man andere Erklärungen. Denn es ist einfacher und befriedigt die Emotionen mehr, wenn man sagt, das sind Verschwörungen, der Reichtum ist uns gestohlen worden, das sind der Westen und die Juden gewesen! Diese Art, Probleme zu erklären, ist ein schrecklicher Fehler der arabischen Welt."

FR, 12.12.2003

"Müsste der Theaterliebhaber eines Tages seine Lieblingszelte abbrechen und umziehen, wobei ihm nichts anderes als eine einsame Insel bei der Ankunft bliebe, er nähme neben dem Londoner Globe, der Mailänder Scala und dem Bochumer Schauspielhaus nur wenig mehr in seinem Theatergepäck mit - aber ganz bestimmt auch das Fenice." Christian Thomas freut sich, wie unschwer zu erkennen ist, ganz außerordentlich über den Wiederaufbau des Gran Teatro La Fenice, der dreimal abgebrannten und jetzt wiederhergestellten Oper von Venedig.

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte ist entsetzt über die Urteilsbegründung im Aachener Prozess gegen zwei Kindermörder. Richter Gerd Nohl hatte erklärt, etwas Schlimmeres als den Tod erwarte die Täter, die als Kindermörder und Kinderschänder im Gefängnis auf der untersten Stufe stünden. "Was Nohl höchst richterlich konstatiert, ist nichts anderes als eine Form institutionalisierter Folter." Peter Fuchs stellt systemtheoretische Überlegungen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme an. Gerhard Midding schreibt zum 100. Geburtstag des japanischen Filmemachers Yasujiro Ozu ("die Kamera befindet sich stets drei Fuß über dem Boden, in Augenhöhe eines Sitzenden"). Robert Kaltenbrunner macht sich Gedanken über die "schrumpfende Stadt", ein Thema, das heute im Bauhaus Dessau diskutiert wird (mehr hier). In Times Mager kann sich Sylvia Staudte nur halb darüber freuen, dass die Stadt Frankfurt ihrem Ballettchef William Forsythe "nun doch noch ein Angebot unterbreitet hat": für die großen abendfüllenden Forsythe-Ballette wird es nicht ausreichen. Eine kurze Meldung informiert uns, dass der Suhrkamp Verlag einen Nachfolger für Günter Berg gefunden hat: Georg Rieppel, der 15 Jahre Mitarbeiter beim Beck Verlag war. Er soll bei Suhrkamp für Marketing, Vertrieb und Werbung zuständig sein.

Besprochen wird eine Installation von Thomas Hirschhorn in der Frankfurter Schirn, die Ausstellung "Artconstitution" (mehr hier) im Moskauer Museum für zeitgenössische Kunst ("Über 100 Künstler haben die 137 Artikel der Konstitution dechiffriert und mit Ironie, Humor und Kritik eine erste 'illustrierte Ausgabe der russischen Verfassung' geschaffen") und Bücher, darunter Alexandre Jolliens "Die Kunst, Mensch zu sein" und "Der neue Geist des Kapitalismus" von Luc Boltanski und Eve Chiapello (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 12.12.2003

Die "Cyberspace-Romantik" ist verpufft, die "hochfliegenden Phantasien" über ein unabhängiges World Wide Web sind auf dem Boden der Wirklichkeit gelandet, schreiben Dieter Ruloff und Marc Holitscher, denn die "Realitäten der Kontrolle und der internationalen Machtpolitik" durften ihren Einstand feiern. "Schuld am Verlust der Unschuld", versichern die beiden, sei wie so oft kein geringerer als der Erfolg, "im Falle des Internets mit einer geradezu paradigmatischen Kette von Konsequenzen: Die Attraktivität der neuen Kulturtechnik ruft den Kommerz auf den Plan, was den Erfolg potenziert und zu Knappheit führt und damit zum Konflikt. Dieser wiederum sorgt für Regelungsbedarf und bringt die Politik ins Spiel. Da die Problemlage grenzüberschreitend ist, wird die Sache zum Thema internationaler Beziehungen, wo auch im 21. Jahrhundert die Regeln der Machtpolitik das Geschehen bestimmen."

Weitere Artikel: Wolfgang Lange liefert einen Zwischenbericht zur "deutschen Phänomen" der Popliteratur und versichert: "Der 11. September und die Liquidierung der New-Economy-Blase an den Börsen sind lange kein Grund, die Totenglocken zu läuten. Pop ist und bleibt der Stil der Jetztzeit." Der aktuell noch beim Beck Verlag beschäftigte Georg Rieppel wird Nachfolger von Günter Berg in der Geschäftsleitung des Suhrkamp Verlags, meldet Joachim Güntner. Kurt Malisch schreibt einen Nachruf auf den Bariton Hans Hotter. Auf der Filmseite stellt Christoph Egger mit "The Twilight Samurai" von Yoji Yamada einen etwas anderen Samuraifilm vor, und Harry Tomicek schreibt zum hundertsten Geburtstag des Filmemachers Yasujiro Ozus (mehr hier). Besprochen wird noch die Ernst Ludwig Kirchner Ausstellung "Bergleben. Die frühen Davoser Jahre 1917-1926" im Kunstmuseum Basel.

TAZ, 12.12.2003

Wie immer gibt's am Freitag Musik: "Ryan Adams, in welcher Erscheinungsform auch immer, gehört definitiv zum Coolsten, was man sich momentan auf den Plattenteller legen kann", weiß Thomas Winkler Da trifft es sich gut, dass dieser Mann unter einer "kreativen Inkontinenz" leidet, wie Winkler es nennt: Gleich drei neue Alben. "Als er von New York nach Los Angeles umzog, entstanden vor lauter Aufregung in wenigen Tagen 15 Lieder über die neue Heimat. In Kneipen sitzt er an der Bar und dichtet auf Papierservietten. Hat er mal zwei Tage nichts zu tun, mietet er sich für 1.200 Dollar in ein Studio ein, zahlt mit der Kreditkarte und kommt mit einem Album wieder raus."

Weiteres: Henning Kober stellt das Debüt-Album des New Yorker Society-DJ Mark Ronson vor. Der Kasseler Gedenk-Künstler Horst Hoheisel sagt Rolf Lautenschläger seine Meinung zu den Plänen für die New Yorker Gedenkstätte von ground zero: "Die Jury wollte eine Heldengedenkstätte, und sie hat sich für Entwürfe einer staatlichen Heldengedenkstätte entschieden."

Und schließlich TOM.

SZ, 12.12.2003

"Verplappert? Unvorsichtig gewesen? Falsch interpretiert?" Thomas Steinfeld würdigt die Ironie, dass ausgerechnet Rolf Breuer und Jürgen Schrempp derartig über läppische Interviews stolpern. "tost" erzählt die Geschichte eines großen Kunstraubs in Kopenhagen: Jahrzehntelang waren Hunderte von Raritäten aus der Königlichen Bibliothek verschwunden. Nun wurden sie bei der Witwe eines früheren, natürlich ganz unscheinbaren Mitarbeiters gefunden. Der Experte für altindische Schriften hatte Tag für Tag, Woche für Woche die eine oder andere Kostbarkeit mitgehen lassen. "skoh" berichtet dagegen von der anhaltenden Schwindssucht in der Barnes Foundation in Philadelphia. Henning Klüver hat einer europäischen Lehrstunde des Staatsrechtlers und Diplomaten Giuliano Amato gelauscht.

C. Bernd Sucher lässt uns wissen, was sich eigentlich nach den Streiks in der französischen Kulturszene bewegt hat: so gut wie nichts. "Kommt nach Florida-Rolf nun Kindergeld-Klaus?", fragt Ralf Hertel nach einer Spiegel-Geschichte über angeblich abgezockte Kindergeld-Milliarden. Christine Brinck berichtet vom New Yorker Fiddlefest in der Carnegie Hall, das der Musikerziehung dienen soll. Fritz Göttler erinnert an den Filmemacher Yasujiro Ozu, der heute vor hundert Jahren geboren wurde. Wolfgang Schreiber schreibt zum Tod des Heldenbaritons Hans Hotter. Und Helmut Schödel kennt das Theaterprogramm und den neuen Werbeslogan der Wiener Festwochen: "Ohne Wiener Festwochen wär's so schön."

Besprochen werden eine Ausstellung in Wien zum hundertsten Geburtstag der Wiener Werkstätten im MAK (die nach dem "Schwulst des späten Historismus" und dem "Wuchern des Jugendstils" immerhin, wie Gottfried Knapp konzediert, in der Formengeschichte der Moderne ein paar Monate lang die Vorhut bildeten), Moritz Rinkes Stück "Die Optimisten" am Theater Freiburg, Dietrich Hilsdorfs Operetten-Debüt mit Lehars "Lustiger Witwe" in Essen, der Film "Sams in Gefahr" und Bücher, darunter Hartmut Leppins Studie "Theodosius der Große", Emanuel Eckardts Porträt von Herbert List Bernhard Fischers Findebuch, Standardwerk und Schmöker: die Bibliographie des Cotta Verlags (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).