23.12.2003. In der SZ beobachten wir den sonst nie um Worte verlegenen Autor Andrzej Stasiuk auf der vergeblichen Suche nach einem Adjektiv für sein Volk. In der taz erklärt der Historiker Michael Ignatieff noch einmal, warum er den Irak-Krieg befürwortete. Die FR schlägt den Einsatz von MP3-Playern zur Stimmzählung bei den amerikanischen Wahlen vor. Die NZZ staunt über den Bauboom in Kuala Lumpur. In der FAZ fragt Felix Philipp Ingold, wie Dostojewski zum Meisterdenker der neuen russischen Rechten werden konnte.
SZ, 23.12.2003
Einige
Schwierigkeiten hat der polnische Schriftsteller
Andrzej Stasiuk (
mehr),
sein Land zu erklären. "Lieber Freund",
schreibt er, "Du hast mich gebeten, einen Text über den 'renitenten Polen' zu schreiben. Das ist nicht einfach. Wie es auch nicht einfach wäre, über den 'dummen Polen, den 'klugen Polen', den 'stattlichen Polen' oder den 'nicht besonders attraktiven Polen' zu schreiben. Seit etwa dreiundvierzig Jahren bin ich selbst Pole. Ich betrachte mein Volk, lebe sein Leben, bisweilen bringt es mich zur Verzweiflung, bisweilen erweckt es meine Bewunderung, aber ich hätte wirklich Schwierigkeiten,
ein einziges Adjektiv zu finden, das es definieren könnte. Ein solches Adjektiv gibt es nicht."
Petra Steinberger
räsoniert über die vom US-Nachrichtenmagazin
Time gekürte "Person des Jahres": den
"amerikanischen Soldat". Dabei werde, so Steinberger, gerade was die Sicherheit in Kriegsgebieten angeht, heute inzwischen auch auf private Dienstleister zurückgegriffen. Allerdings habe "die
Privatisierung der Gewalt und des Krieges keinen besonders guten Ruf. Das Outsourcing der Gewalt, die heute immer häufiger so genannten PMCs, private military companies, oder PMFs, privatized military firms, und ihre diversen Untergruppen auf dem freien Markt anbieten, war einst unter einem anderen Namen bekannt:
Söldnertum."
Weiteres: Auf Seite Drei
gratuliert Evelyn Roll Altkanzler
Helmut Schmidt mit einem Porträt zum
85. Geburtstag. ("Mit den 68iger Zauseln oder den androgynen Frisurexperimentierern der Beckham-Generation sollte man einmal diskutieren, was es bedeutet, wenn ein Mann seinen
Haarschnitt ein langes Leben lang nicht ein einziges Mal ändert. Und sein Lachen schon gar nicht"). Jörg Häntzschel
stellt das
Campus Center des Illinois Institute of Technology von
Rem Koolhaas in Chicago vor. Sonja Zekri
berichtet über
Querelen um die Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Moskau. Andreas Höll
besichtigt eine jetzt eingeweihte Arbeit des Leipziger Medienkünstlers
Ritchie Riediger (mehr
hier), die als "virtuelle Antwort auf den 'Goldenen Reiter'" zu begreifen ist. Und in der Zwischenzeit
verzweifelt Evelyn Roll am
Fachpersonal beim Musikkauf.
Besprochen werden Michael Thalheimers
Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Stück
"Einsame Menschen" am Berliner
Deutschen Theater, eine
Aufführung von
Mozarts "Idomeneo" am Münchner
Gärtnerplatztheater, Kleists
Lustspiel "Amphitryon" am Schauspielhaus Basel, Janaceks
Oper "BrouCek" in Prag und Veit Helmers
Film "Das Tor zum Himmel". Und
Bücher, so die
Neuauflage von
Gottfried Kellers "Martin Salander" und Dietmar Daths
Essay zur
Mathematik des 20. Jahrhunderts und eine
Geschichte Kambodschas (siehe dazu unsere
Bücherschau ab 14 Uhr).
FR, 23.12.2003
"Eine kleine Verdachtsgeschichte"
überschreibt Marcia Pally ihr Kolumne über den Einsatz von Elektronik bei der nächsten amerikanischen
Präsidentschaftswahl. "Nach dem papiergestützten Wahldebakel von Florida im Jahr 2000, das die Menschen im Ausland peinlich berührte und selbst hier zu Lande in den USA manchen unruhig machte, ist das Ansehen
elektronischer Wahlmaschinen natürlich gestiegen. Und wenn die Menschen in der Zukunft ihre
Stimmen per Handy oder MP3-Player abgeben können, werden Versuche, Schwarze von dem Erreichen der Wahllokale abzuhalten, so passe sein wie Kautabak. Die Wahlhelfer werden befreit sein von der Bürde, Schwarze zu befragen, ob sie auch keine Verbrecher seien, bevor sie ihre Stimme abgeben dürfen."
Weitere Artikel: Die Filmkritiker,
weiß Daniel Kothenschulte, rüsten zum Protest
an der
Festival-Politik in Venedig. Dirk Fuhrig
bedauert das "Verschwinden der
DDR-Architektur" - der Kaufhof motzt das ehemalige Centrum-Kaufhaus am Alexanderplatz zeitgenössisch auf. In Times mager
gruselt sich Gunnar Lützow über den Einsatz von
"Profiler"-Tests zum Zwecke der Einschätzung von
Sozialhilfeempfängern ("vermerkt wird dabei auch das 'günstige', 'neutrale' oder 'ungünstige' Erscheinungsbild").
Besprochen werden eine
Inszenierung von
Kleists "Amphitryon" in
Basel, die
Uraufführung von David Lindemanns Stück
"Koala Lumpur" in
Bochum, die
Wiederauflage der Operette "Die lustige Witwe" am Essener
Aalto-Theater und
Bücher, darunter
Essays und Marginalien von
Michael Maar,
Erzählungen des Tschechen
Jan Cep, ein
Band mit Briefen von
Else Lasker-Schüler sowie die
Briefe der österreichischen Lyrikerin
Christine Lavant an das Künstlerehepaar Lampersberg und die jüngste Ausgabe der Zeitschrift
"Text + Kritik" zum Thema
Pop-Literatur (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
TAZ, 23.12.2003
"Widerstand ist produktiv",
erklärt der kanadische Publizist und Historiker
Michael Ignatieff (
mehr), einer der wenigen
Unterstützer des Irak-Kriegs, in einem Interview. Er wirft
Europa "mangelnde Empathie" vor, "weil es glaubt, dass internationales Recht und die UNO gerechter wären. Aber das ist eine fromme Fiktion. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gab gute Gründe gegen den Krieg. Und zwar: Er ist zu riskant. Er könnte die Region destabilisieren. Es könnte schwierig sein, dort eine Demokratie aufzubauen. (...) In Europa geriet der Irakkrieg zu einem
Referendum über die USA. Die Tatsache, dass es auch um 26 Millionen Iraker ging, fiel dabei völlig unter den Tisch. Die Grundfrage war doch: Waren die Konsequenzen des Kriegs den Einsatz der Mittel wert? Auch wenn man bedenkt, dass die Leute, die dazu beitragen, von anderen, nicht immer ehrenwerten Motiven geleitet waren."
Außerdem
dokumentiert die
taz einen Offenen Brief des Schweizer Künstlers
Thomas Hirschhorn (
hier), in dem er ankündigt, seine Arbeiten künftig
nicht mehr in der Schweiz ausstellen zu wollen: "in der kunst triumphiert das unmögliche über das mögliche, das ist der triumph über den narzissmus, über die depression, über ressentiment und über die angst -
ich will unbeugsam sein, denn kunst ist nicht konsensfähig, kunst ist nicht diplomatisch, man kann keine kunst mit faulen kompromissen machen ..."
Weiteres: Brigitte Werneburg
berichtet über eine private Initiative, die die
Flick-Collection in Berlin um eine Dokumentation zur
Entstehung des Flick-Vermögens zur Zeit des Naziregimes ergänzen will. Fraglich sei allerdings, ob derlei in Berlin überhaupt willkommen ist . Christian Broecking
resümiert die
"bemerkenswerten Stücke" des Jahres, die auf einer einzigen CD Platz fänden. Auf den Brennpunktseiten wird über das Trio "Landser"
berichtet, das das Berliner Kammergericht als "kriminelle Vereinigung" eingestuft hat (mehr zum Thema
hier und
hier). Und auf der Medienseite
informiert Jan Brandt über die Einstellung der Fachzeitschrift
"Die Bastelfrau" - der "Sommer war zu heiß". Schließlich
gibt die Kulturredaktion noch letzte
Geschenktipps.
Und
hier TOM.
NZZ, 23.12.2003
Robert Kaltenbrunner
erzählt vom
Bauboom in Kuala Lumpur , was übrigens, wie wir erfahren, so viel wie
"schlammige Flussmündung" heißt. "Kuala Lumpur gibt sich heute als eine brummende, hupende,
rauchende, ölverschmierte Maschine.
Eine Stadt in Vollgas. Und weitgehend ohne Vergangenheit. Unmittelbar hinter der Stelle, wo Klang und Gombak zusammenfließen und vor 95 Jahren die älteste Moschee der Stadt, Masjid Jamek, errichtet wurde, herrscht beispielloses Baufieber. Gleich
unbändigen Himmelsstürmern erheben sich immer mehr Appartementhäuser und Bürotürme, Luxushotels mit Atrien und hängenden Gärten sowie gigantische Shopping Malls aus dem Häusermeer der traditionellen Viertel - und das in einem bei uns kaum vorstellbaren Tempo. Alles scheint gleichzeitig zu passieren."
Franz Haas
berichtet aus Italien, wie die dortige Autobahngesellschaft um Autofahrer buhlen muss, weil die
Bahnen so
attraktiv und preiswert sind! Besprochen werden eine
Aufführung der "Fledermaus" in Luzern, eine
Ausstellung zu den Architekten Giraudi und Wettstein in Como und Bücher, darunter eine neue Ausgabe der
Gedichte von
Gertrud Kolmar,
Junichiro Tanizakis Roman "Gold und Silber",
Eliot Weinbergers Essays "Kaskaden" und
Dieter Thomäs Schrift "Vom Glück in der Moderne" (mehr in unserer
Bücherschau ab 24 Uhr).
FAZ, 23.12.2003
Auf der
Bücher-und-Themen-Seite fragt
Felix Philipp Ingold in einem instruktiven Essay: "Worin besteht aus heutiger Sicht das Interesse an
Dostojewskis publizistischem Vermächtnis?" Er lässt auch Dostojewskis
Antisemitismus nicht aus und bemerkt: "Dostojewski (wird) im postsowjetischen Russland, nach jahrzehntelanger Immunisierung durch die Sowjetkritik, erneut als
Meisterdenker gefeiert, kein anderer Klassiker wird so ausgiebig publiziert und kommentiert wie er... Namentlich für die neue
russische Rechte, die zwischen Neofaschismus, orthodoxem Patriotismus und Nationalbolschewismus ein breites Meinungsspektrum abdeckt, ist Dostojewski zum führenden Schriftsteller des 21. Jahrhunderts geworden."
Hubert Spiegel fragt sich in einem Kommentar auf
Seite 1 der Zeitung: "Wie erklärt sich die öffentliche Wirkung, die gerade vom
Suhrkamp Verlag ausgeht?" Aber er findet keine rechte Antwort mehr darauf und schließt nach einer Schilderung allerlei chaotischer Vorgänge in der deutschen Verlagsszene in diesem Jahr: "Das Interesse an den deutschen Verlagen wird in ebenjenem Maße abnehmen, in dem sich die
Kopflosigkeit als Normalzustand unter ihnen durchsetzt."
Weitere Artikel: Patrick Bahners kommentiert eine Äußerung
Jörg Haiders über den
"schwachen Diktator" Saddam Hussein. Der Anglist Theo Stemmler
begibt sich im besinnlichen Aufmacher auf Spurensuche nach den Ursprüngen des heutigen
Weihnachtsfests. Paul Ingendaay schildert den spanischen Brauch der
Weihnachtslotterie mit von Schulkindern im Fernsehen gesanglich bekannt gegebenen Gewinnerlosen. Rose-Maria Gropp gratuliert dem Maler
Richard Artschwager zum Achtzigsten. Arnold Bartetzky freut sich über ein vom Leipziger Medienkünstler
Ritchie Riediger am "Leipziger Eck" unweit des Zusammenflusses von Pleiße und Elster aufgestelltes
Pferdedenkmal, das man übrigens nur
nachts sehen kann, eine parodistische und scheinbar holographische Anspielung auf das "Deutsche Eck" in Koblenz und "ein heiterer Gruß aus der
Traumwelt". Jürg Altweg stellt das Schweizer Wort des Jahres vor:
"Konkordanz". Wulf Segebrecht schildert eine Hommage
Günter Grass' auf seinen Freund und Förderer
Walter Höllerer in dessen Geburtsort Sulzbach-Rosenberg, wo auch Höllerers Archiv aufbewahrt wird.
Auf der
Medienseite erinnert sich Wilhelm Hindemith, einst Nachtredakteur der Radiosendung "Guten Morgen, Deutschland" bei RTL, an die Anfänge
Harald Schmidts als Gagschreiber und porträtiert ihn als "stillen Profi": "Er hatte ein Augenmaß für das Machbare und dafür, wie er hier seine Position sicherte, genügend auf- und doch
nie aus der Rolle fiel, dass er die cholerischen Anfälle von Helmut Thoma oder anderer hausinterner Kritiker zu fürchten hätte." Michael Hanfeld macht in einem längeren Kommentar noch einmal deutlich, dass er mit den Entwicklungen bei
Sat 1 - neuer Geschäftsführer, Abgang des verehrten Schmidt -
nicht einverstanden ist.
Auf der
letzten Seite fragt Dietmar Dath: "Was bleibt von Dickens und dem Urtext der
Weihnachtserzählkunst im einundzwanzigsten Jahrhundert?" Christian Schwägerl porträtiert den Stammzellforscher
Hans Schöler, der die University of Pennsylvania verlässt, um zum
Max-Planck-Institut für Vaskuläre Biologie in Münster zu gehen - er möchte eine
Stammzellforschung ohne entwicklungsfähige
Embryonen vorantreiben. Andreas Rossmann schildert
kulturpolitische Querelen um Oper und Schauspiel in
Köln.
Besprochen werden eine
Giorgione-Ausstellung in den Gallerie dell'Accademia in
Venedig,
Janaceks Oper "Die Ausflüge des Herrn Broucek auf den Mond und ins Prag des fünfzehnten Jahrhunderts" in Prag und
Kleists "Amphitryon" in
Barbara Freys Basler Inszenierung.