30.12.2003. Die SZ fürchtet die Fortschritte der Stammzellforschung. Die NZZ trauert um Bam. Die FR auch. In der Welt trauert Christoph Schlinegensief um Harald Schmidt. In der taz malt Günter Amendt die Zukunft des Sexuellen aus. Christoph Marthalers Inszenierung von "Dantons Tod" in Zürich findet eine gespaltene Aufnahme.
SZ, 30.12.2003
"An welcher Wegscheide steht die
Biopolitik im neuen Jahr?",
fragt Alexander Kissler im Aufmachertext. Und antwortet illusionslos: "Auch 2004 werden die Optimisten nicht vergessen, auf die Arbeitsplätze, die die Biotechnik schaffen soll, hinzuweisen. Oliver Brüstle kämpft auch deshalb so hartnäckig für sein Patent, dessen Rücknahme 'Greenpeace' gerichtlich erzwingen will, weil das Klonieren
enorme Profite verspricht. Wer in zehn, fünfzehn Jahren als erster mit Stammzellen aus geklonten Embryonen Alzheimer behandeln könnte, hätte die
Lizenz zum Gelddrucken gefunden." (Und vielleicht ein paar Patienten geholfen?)
Weitere Artikel: Zwei Texte befassen sich mit der Institution
"Kulturhauptstadt Europas": Helmut Schödel
resümiert den "Ausverkauf bis auf die letzte Burenwurst" in der alten,
Graz, Henning Klüver
bietet eine Vorschau auf die kommende:
Genua. Jörg Häntzschel
informiert über das vorläufige
Aus für die Öko-Parallelwelt
Biosphere II in Kalifornien, die "Königin des Soul",
Erykah Badu (
hier),
spricht im Interview über Mode, Politik und Familienregeln. "zig"
kommentiert die Warnung des Bundspräsidenten Rau vor "zu viel
Show und Klamauk" in der Politik. In der Zwischenzeit
erinnert Wolfgang Schreiber an
Albert Einsteins Vetter Alfred, der Musikwissenschaftler war und eine bleibend gültige
Studie über Mozart geschrieben hat. Und auf der Medienseite
empfiehlt Hans Hoff die "witzig kommentierte" Dokumentation "Immer wieder sonntags" über das 50jährige Jubiläum des
"Internationalen Frühschoppens".
Besprochen werden
Christoph Marthalers Abschied vom
Schauspielhaus Zürich mit "Dantons Tod", Achim Freyers
Inszenierung von Berlioz'
"Damnation de Faust" in Warschau,
Gerhard Richters Installation "11 Scheiben", die seit einigen Wochen im
Museum Ludwig in Köln zu sehen ist, der
Tourneeauftakt von Bernsteins
"West Side Story" in Frankfurt, die
"Wunder" einer "unerschöpflichen"
Chaplin-DVD-Kollektion und Bücher, darunter eine
Kulturgeschichte der
Nacht in der Kunst des Abendlands, der
Roman "Das Höchste im Leben" von
Torgny Lindgren und eine Ausgabe der ersten vollständigen
Niederschrift des Queensberry-Prozesses gegen
Oscar Wilde (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
NZZ, 30.12.2003
Eva Orthmann
trauert um ein idealtypisches Beispiel
traditionellen Städtebaus, das dem Erdbeben in
Bam zum Opfer fiel. "Die größte Besonderheit des Alten Bam bestand darin, dass wir es mit einer Stadt zu tun hatten, die im 19. Jahrhundert relativ schnell und ohne Zerstörung von ihren Bewohnern verlassen wurde. Es hatte sich somit ein
originales Stadtbild erhalten, das nicht von späteren Überbauungen gestört war. Zusätzlich begünstigt durch das sehr trockene Klima, das einen raschen Zerfall der Lehmbauten verhinderte, blieb die
ursprüngliche Gliederung der Stadt gut erkennbar. Auch die Funktion der einzelnen Gebäude ließ sich vielfach bestimmen, so dass am Beispiel von Bam der traditionelle Aufbau einer islamisch-iranischen Stadt nahezu idealtypisch studiert werden konnte."
Besprochen werden die
Fotoausstellung "
A Clear Vision. Fotografische Werke aus der
Sammlung Gundlach" im
Internationalen Haus der Fotografie in Hamburg,
Christoph Marthalers Inszenierung von "Dantons Tod" am Schauspielhaus Zürich ("Unspektakulärer und
antiheroischer wurde noch nie
geköpft", schreibt Barbara Villiger Heilig.),
Peter Sagers Hommage an "Oxford & Cambridge" und
Boris Schitkows Revolutionsroman "Wiktor Wawitsch" (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FR, 30.12.2003
"Es sind
nicht die Falten, an denen man merkt, dass
man älter wird",
stellt Petra Kohse beim Nachdenken über die hirnliche
"Verwaltung des Gewesenen" fest. Das merke man vielmehr an der "wiederkehrenden Erinnerung an die eigene Kindheit. Im gleichen Maße, in dem sich die Ereignisse des Alltags und des Jahres wiederholen und in dem selbst gravierenden Veränderungen bereits die Erwartung zukünftiger Gewöhnung anhaftet, scheint das Gehirn Zeit zu gewinnen, sich um die Verwaltung dessen zu kümmern, was war. Und das heißt: was prägte. Die
Grundschule etwa kann einem plötzlich ganz räumlich vor Augen treten, während man vor dem Supermarktregal mit den Zwiebacksorten steht. Die
Klassenlehrerin Fräulein Popp mit dem kastanienbraunen Rundschnitt. War sie nett? Mochte man sie?"
Weiteres: Christian Thomas
erinnert anlässlich der
Zerstörung von Ark-e Bam an vergleichbare Katastrophen in Lissabon (1755) oder Kobe (1995). Und in der Kolumne Times mager
lässt Jürgen Roth die
Preisverleihungsvorgänge des auslaufenden Jahre Revue passieren ("recht hart tat sich der Bundesaußenminister. Der musste innert zwölf Monaten
dreimal laudierenderweise ran").
Besprechungen lesen wir von einer
Ausstellung der Berliner Malerin
Cornelia Schleime im
Museum Junge Kunst in Frankfurt an der Oder, einer
CD mit Stücken von
Rio Reiser sowie einem Hommage-Album an den "König von Deutschland" und von zwei Schweizer
Operninszenierungen: "Elektra" in Zürich und "Der Freischütz" in Basel.
TAZ, 30.12.2003
"Wie sieht
die Zukunft des Sexuellen aus? Werden alle Beziehungen Tauschbeziehungen sein?",
fragt sich Günter Amendt (
hier) in einem Essay, in dem es um "Überlegungen zur Zukunft des sexuellen Mainstreams in Zeiten von
Verhandlungsmoral und gleichberechtigten Partnerschaften einerseits, Pornografisierung und globalisierter Prostitution andererseits" geht. "Liegt die mit der Länge der Beziehung nachlassende sexuelle Begierde nicht in der Natur jener 'individuellen Geschlechtsliebe' und der aus ihr abgeleiteten monogamen Paarbeziehung, auf der das
Liebesideal des neuzeitlichen Menschen nach wie vor beruht? Hat nicht Friedrich Schiller bereits zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters die Psychodynamik der Paarbeziehung präzise beschrieben: Die Leidenschaft flieht/ Die Liebe muss bleiben/ Die Blume verblüht/ Die Frucht muss treiben. Wer
Schillers 'Glocke' als sozialhistorisches Dokument liest, erspart sich eine Magisterarbeit von der Art 'Zur Sozial- und Sittengeschichte des bürgerlichen Zeitalters von seinen Anfängen bis heute'".
Weiteres: Kolja Mensing
erklärt anhand des neuen Telecom-Werbespots für
drahtlose Netzkommunikation - WLAN - den "kurzen Weg vom Hausbesetzer zum Mikrosklaven". "Im Berliner Bezirk Friedrichshain hat man bereits vor über einem Jahr begonnen, solche drahtlose Netzwerke 'von unten' einzurichten. Das hatte sowohl strukturelle als auch ganz praktische Gründe." Manfred Hermes
stellt den Film "Ich kenn keinen - allein unter Heteros" vor, in dem Jochen Hick
homosexuelle Biografien in der Provinz porträtiert: "Im besten Fall lassen einen der Witz der Porträtierten und ihre Unerschrockenheit schmunzeln. Im schlechtesten wendet sich der Film gegen seine Figuren, und das kommt nicht selten vor. Denn als Dokumentarist nimmt Hick mit, was er kriegen kann." Und auf der Tagesthemenseite
unterhält sich Steffen Grimberg mit
Jürgen Doetz, der als einer der Wenigen seit Gründung von
Sat.1 den 20. Geburtstag des Privatsenders dort selbst erlebt: "Klar: Wir brauchten Inhalte, und wir mussten aus diesem
Kabelghetto in Ludwigshafen raus."
Und
hier TOM.
Welt, 30.12.2003
Für Liebhaber:
Christoph Schlingensief blickt auf die
Tiefpunkte des Fernsehjahres 2003: "2003 ist am Ende, das Fernsehen auch. Ohne dass man auf die üblichen,
zwischen den Werbepausen versendeten
Weltkriege eingehen muss, fällt die Liste der medialen Kollateralschäden länger aus als in früheren Jahren. Mit
Harald Juhnke, seinem an sich selbst trunkenen Namensvetter
Schmidt und
Jürgen Möllemann haben mich noch vor Jahresschluss drei große Unterhaltungskünstler verlassen, jeder auf seine Weise. Harald Schmidt starb dabei den allgemein meist betrauerten Tod seit
Prinzessin Diana, wobei die überwiegende Mehrheit der Grabredner beweinte, dass Schmidt, von Fachkräften der Theaterszene mittlerweile 'Lucky' genannt, die hochintellektuelle Haltung einnahm, sich eben von nichts und niemandem mehr einnehmen zu lassen - außer von Nescafe, Karstadt und der Deutschen Bahn AG."
FAZ, 30.12.2003
Gerhard Stadelmaier ist nicht recht zufrieden mit
Christoph Marthalers Inszenierung von "Dantons Tod", der in Zürich in ein
Siebziger-Jahre-Ambiente verlegt wurde: "Die Revolution ist längst vorbei. Man hat eine Partei gebildet, die nach
Mief und Muff und altem Papier riecht. Robespierre, St. Just, Danton, Camille Desmoulins, Lacroix und die anderen: ein Ortsverein der Alt- und Müd-Sozis, eine Art SPD-Sektion von Paris mit Abweichlerproblemen. Die Revolution frisst nicht ihre Kinder. Sie
verschnarcht sie. So ungefähr."
Weitere Artikel: Auf einer ganzen Seite wird
Rolf Hochhuths neueste Erzählung präsentiert: Sie handelt von einer kurzen Wiederkehr
Erich Maria Remarques nach Berlin zur Aufführung seines Stücks "Die letzte Station" im Jahr 1956 und von seiner Schwester, die in Plötzensee guillotiniert wurde. Regina Mönch blickt auf die deprimierende
Kulturpolitik der Hauptstadt, konstatiert aber: "Die Stimmung ist schlechter als der Zustand der Stadt." Eduard Beaucamp, den wir lange nicht lesen durften, feiert eine große Retrospektive des Außenseiters der DDR-Kunst
Gerhard Altenbourg in
Düsseldorf.
Herbert Helmrich, ehemals Justizminister in Mecklenburg-Vorpommern, greift in die Debatte um die
Hirnforschung ein und unterstellt uns armen Menschen, anders als zum Beispiel
Gerhard Roth, einen
freien Willen. Jürgen Richter freut sich über die Rettung einer frühgotischen Kirche in
Backnang. Zhou Derong vergleicht die chinesische
Mao-Renaissance mit der Ostalgie-Welle in Deutschlanbd.
Auf der
Medienseite stellt Jens Wendland, ehemals Hörfunkdirektor des
SFB, fest, dass die
Jugendradios zusehends vom
Internet bedroht werden. Heike Hupertz blickt zurück auf das
amerikanische Fernsehjahr, und Michael Hanfeld misst die
Quoten der großen deutschen Sender -
RTL lag 2003 mal wieder vorn.
Auf der letzten Seite werden Auszüge aus einer Umfrage der
Schweizer Monatshefte zur
Rechtschreibreform veröffentlicht. Andreas Kilb
blickt auf ein
französisches Kinojahr zurück, das nicht so doll gelaufen ist. Und Hannes Hintermeier porträtiert den Verleger
Klaus G. Saur, der vom besitzenden Thomson-Gale-Konzern in den Aufsichtsrat seines wissenschaftlichen K. G. Saur -Verlags verwiesen wurde.
Besprochen wird überdies die Filmkomödie "Unzertrennlich".