Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2004. In der taz beschreibt Jacques Attali, wie wir mit der Eurosklerose fertig werden. Die FAZ findet die Katastrophe in Michael Hanekes neuem Film "Wolfszeit" zu vage. Libanon ist das Gastland der nächsten Frankfurter Buchmesse: Die FR prophezeit Streit. Die SZ dagegen fordert mehr Grundvertrauen.

TAZ, 02.01.2004

In einem Interview erklärt der französische Anwalt Jacques Verges (mehr hier), der unter anderem auch Klaus Barbie verteidigt hat, warum er bereit wäre, Saddam Hussein zu vertreten. Was ihn an dem Fall besonders interessiere, sei "ein Kontext, in dem der Westen schuldig ist". Diesen Kontext umreißt Verges so: "Man wirft Herrn Saddam Hussein und seiner Regierung Taten aus einer Epoche vor, als sie Freunde und Alliierte der westlichen Mächte waren. Im März 1988 zum Beispiel haben die USA im Weltsicherheitsrat ihr Veto gegen eine Resolution eingelegt, die die Verwendung von chemischen Waffen im Irak verurteilte. Im September desselben Jahres hat das amerikanische Handelsdepartement den Verkauf von Toxinen für biologische Waffen an den Irak genehmigt. Entweder die Vorwürfe stimmen. Oder sie sind eine zusätzliche Lüge."

Der französische Schriftsteller und ehemalige Mitterand-Berater Jacques Attali beschreibt auf der Meinungsseite einen "Weg aus der Eurosklerose: Die mutigsten Länder schließen sich jenseits der Brüsseler Institutionen zusammen und definieren damit die weltweite geopolitische Ordnung neu."

Auf den Kulturseiten würdigt Georg Baltissen in einem Nachruf den palästinensischen Maler und Poeten Burhan Karkutli. Zwischen den Rillen feiert Cornelius Tittel das "definitiv schönste Album zum aktuellen Trend 'Runterkommen und unten bleiben'", "The Absence Of Blight" des Hamburger Techno-Produzenten Lawrence. Besprochen werden das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker mit der Jazzsängerin Dianne Reeves (homepage) und eine als "psychologisch einfühlsam und nie aufdringlich" gelobte Ossip-Mandelstam-Biografie von Ralph Dutli. (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

FAZ, 02.01.2004

Andreas Kilb stört an der "vagen zivilisatorischen Katastrophe", die Michael Haneke in seinem neuen Film "Wolfszeit" schildert, vor allem ihre Vagheit: "Das Wasser, scheint es, ist vergiftet, später wird man von Versorgungsengpässen hören, Rationierungen, Appellen der Behörden. Aber der Schrecken wird nie konkret, er bleibt ein Gewebe düsterer Andeutungen. Vor zwanzig Jahren, in den späten Kalmen des Kalten Kriegs, hätte das genügt, aber nach allem, was wir inzwischen im Fernsehen gesehen haben oder uns vorstellen können, ist es zuwenig. So weit entrückt ist uns der Ausnahmezustand nicht mehr, dass wir ihn nicht genauer kennen lernen wollen." (Für bildungshungrige Perlentaucher: Unter Kalmen versteht man in der Schifffahrt nahezu windstille Zonen.)

Hussain Al-Mozany beschreibt in einem eindringlichen Hintergrundtext die etwas unheimliche Stille, die durch das autoritäre Regime Ben Alis in Tunesien geschaffen wird - solange es anhält, haben zumindest die Islamisten keine Chance: "Ben Ali, der 1987 seinen Vorgänger Habib Bourguiba wegen Unzurechnungsfähigkeit ablöste, ging schon als Innenminister 1984 so vehement gegen die damals neu formierte, fundamentalistische al-Nahda-Partei vor, dass er selbst Bourguiba beeindruckte. Seitdem kann es kaum eine islamische Bewegung wagen, die Stimme zu erheben. Im Land kursiert nach wie vor die Geschichte jenes zuckerkranken fundamentalistischen Häftlings, der dreimal begraben wurde. Erst begrub man seine amputierten Beine, dann die Hände und zuletzt den Torso."

Weitere Artikel: Gerhard Rohde zeigt sich schon vom logistischen Aufwand beeindruckt, den es bedeutete, die Petersburger Ring-Inszenierung als Gastspiel im russischen Kurort Baden-Baden zu zeigen - das Festspielhaus mit seinen 2.500 Plätzen war ausverkauft. Gudrun Escher stellt die von Michael Wilford und Manuel Schupp für den Baustoffhersteller Sto in Stühlingen entworfenen Fabrikgebäude (Bilder) als Beispiele einer neuen "Corporate Architecture" vor. Wolfgang Sandner schreibt zum sechzigsten Geburtstag des Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös. Dietmar Dath sinniert über den "verborgenen Adressenraum im Internet" ("Webseiten lassen sich nicht abrufen, E-Mails verschwinden, Daten fallen durch den Rost"). Paul Ingendaay freut sich über drei neuerworbene Werke Francisco de Goyas, die zur Zeit im Prado gezeigt werden.

Auf der Medienseite erinnert Michael Hanfeld an die Einführung des Privatfunks vor zwanzig Jahren. Werner d'Inka, einst Redakteur der sanft entschlafenen Tele-FAZ, erinnert sich an die ersten Nachrichtensendungen im Privatfernsehen.. Und Günter Krabbe, seinerzeit Afrika-Korrespondent, berichtete damals über den Putsch in Nigeria.

Auf der letzten Seite schildert Regina Mönch den traurigen Zustand des Naturkundemuseums in Berlin, dessen Kriegsruine von der maroden Stadt kaum mehr gerettet werden kann. Wolfgang Sandner porträtiert Katerina Bochnickova alias Nora Baumberger alias Dolly Buster, die in ihrem Heimatland Tschechien für das Europäische Parlament kandidiert. Und Dirk Schümer berichtet, dass sich die Protestanten der Niederlande nach einem Schisma im 19. Jahrhundert nun wieder zur Protestantse Kerk in Nederland zusammenschließen.

Besprochen werden Fotografien von Bernd und Hilla Becher im Düsseldorfer "K 21".

FR, 02.01.2004

Martin Lüdke beschreibt, wie sich das Gastland Libanon mit der 47. Internationalen arabischen Buchmesse auf die nächste Frankfurter Buchmesse vorbereitet. "Es wird, das lässt sich unschwer vorhersagen, im Zuge der weiteren Vorbereitungen des Schwerpunkts noch zu erheblichen Auseinandersetzungen kommen. Nicht nur zwischen den verschiedenen libanesischen Gruppierungen, die schon darüber streiten, welche Übersetzungen ins deutsche gefördert werden sollten, sondern ebenso zwischen den verschiedenen arabischen Ländern mit ihren höchst unterschiedlichen Vorstellungen von Meinungsfreiheit und Zensur und literarischer Qualität, und nicht zuletzt, zwischen den Arabern und den Veranstaltern der Frankfurter Buchmesse."

Der österreichische Schriftsteller Franzobel (hier) erkundet die Bedeutung des Buchstabens V für "eine gewisse sexuelle Bereitschaft" bei Frauen und für den Skispringsport. Und in Times mager denkt Gunnar Luetzow über "verdächtige" Listen Verdächtiger im Zusammenhang mit den jüngsten Briefbombenanschlägen nach.

Besprochen werden eine Inszenierung des St. Petersburger Mariinsky-Theaters von Wagners "Ring der Nibelungen" in Baden-Baden, Maria Happels "Piaf"-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum und der HipHop-Tanzfilm "Honey" von Bille Woodruff.

SZ, 02.01.2004

Sonia Zekri erklärt, weshalb das neue Jahr und der ersehnte Aufschwung "ohne Grundvertrauen" wohl nicht zu meistern seien. Passend dazu wirft Andrian Kreye in der Reihe "Verblasste Mythen" einen Blick auf die unter der allgemeinen Zukunftsskepsis leidenden Futurologie. Jörg Häntzschel ventiliert das neueste Gerücht, wonach Michael Jackson "eine Marionette radikaler Islamisten" sein soll. Der emeritierte Philosophieprofessor Reinhard Brandt erläutert, was von Kant heute noch zu lernen sei. Fritz Göttler stellt eine Reihe zum französischen Kino der Okkupation im Münchner Filmmuseum vor und informiert über einen Plagiatsprozess, der um Disneys Nemo läuft. Außerdem gibt Bobby Farelly ein kurzes Interview zu seinem neuen Film "Unzertrennlich", und "bch" beschäftigt sich mit der Schönheit von Wertstoffhöfen.

Besprochen werden Michael Hanekes Film "Wolfzeit" und Kurosawas Film "Träume" von 1990, der jetzt wieder in die Kinos kommt, und Bücher, darunter eine Geschichte des Films von Heinz Emigholz, Manuel Vazquez Montalbans letzter Roman "Hof der Lust", ein Roman von Zoran Drvenkar, die wiedergefundene Festschrift von Adolf Harnack über den Reformator Marcion, Thomas Berngards "Ereignisse" als Hörbuch, von ihm selbst gelesen, und Cornelia Essners Studie über die Nürnberger Rassegesetze. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 02.01.2004

Keine NZZ heute. Die Zürcher feiern Berchtoldstag.