Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2004. In der SZ echauffiert sich Hans Mommsen über die Unausgegorenheit der von der Regierung lancierten Elite-Debatte. Die taz weiß: Das islamische Kopftuch ist kein traditionelles Kleidungsstück. Die NZZ annonciert die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft in China. Die FAZ schraubt zu Heiner Müllers 75. Geburtstag eine 25-Watt-Birne in den Berliner Himmel.

FAZ, 12.01.2004

Am Wochenende wurde der 75. Geburtstag Heiner Müllers gefeiert, und in der heutigen FAZ finden sich einige Splitter aus diesen Festivitäten. Niklas Maak begab sich zum Beispiel in die Plattenbausiedlung Lichtenberg, wo auch Müller wohnte, und wo die jetzt verwaltende Gesellschaft eine Plakette an das betreffende Hochhaus anbrachte, die allerdings kleiner ist als das Schild: "Dieses Haus ist videoüberwacht." Das Berliner Winterwetter beschreibt Maak so: "Der Januar ist die traurigste Zeit des Jahres in Berlin; der Himmel sieht auch mittags aus, als habe jemand 25-Watt-Birnen hineingeschraubt."

Den Sommer brachte dann Antonio Negri, der Mit-Autor von "Empire", der bei den Müller-Festivitäten in der Akademie der Künste einen Vortrag hielt. Mark Siemons berichtet: "Anfangs war das Auditorium noch etwas unruhig, doch mit der Zeit erzeugte die sich ausdehnende Stille zwischen den Worten zusammen mit dem unaufgeregten Vortragsstil eine Art meditativer Trance, in die die notorischen Vokabeln von 'Biomacht' und 'Immanenz' wie ein sanfter Sommerregen tropften."

Weitere Artikel: Die FAZ setzt ihre Hirndebatte fort. Der Philosoph Lutz Wingert will nicht einsehen, dass ihn in seiner Verteidigung des freien Willens auch wieder nur die Neuronen lenken. Henning Ritter schreibt zum Tod Norberto Bobbios. Jürgen Kaube fragt in der Leitglosse, warum die Leute die SPD verlassen. Matthias Pabsch würdigt den architektonischen Neokonservatismus des neu eröffneten Beisheim-Zentrums am Potsdamer Platz

Auf der letzten Seite freut sich Tilman Spreckelsen über eine neue Prachtausgabe des Prinzen Eisenherz (nebenbei erfahren wir aus Spreckelsens Artikel, dass das Epos unverdrossen fortgesetzt wird). Und Paul Ingendaay porträtiert den spanischen Schauspieler und Melancholiker Luis Tosar, der in dem Film "Montags in der Sonne" ab Donnerstag auch in deutschen Kinos zu sehen ist. Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld den Filmemacher Manfred Karremann, der sich um Tier- und Kinderschutz verdient macht. Und Zhou Derong berichtet, wie die chinesische Regierung Journalisten zusetzt, die über die Sars-Epidemie schreiben wollen.

Besprochen werden Edward Albees neues Stück "Die Ziege oder Wer ist Sylvia" am Burgtheater, der deutsch-mongolische Film "Die Geschichte vom weinenden Kamel" (in dem eine Kamelmutter mit ihrem Fohlen versöhnt wird), ein Konzert mit einigen exhumierten Punkbands in Düsseldorf, ein Auftritt der jungen Geigerin Julia Fischer (ausführliche Hörproben) mit der Academy of Saint-Martin in the Fields in Frankfurt, Ulrich Mühes Inszenierung von Heiner Müllers "Auftrag" in Berlin (von Irene Bazinger nach Kräften verrissen) und Sachbücher, darunter Klaus Roths "Genealogie des Staates", besprochen von Herfried Münkler.

FR, 12.01.2004

Andrea Breth hat Edward Albees "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?" im Wiener Burgtheater inszeniert, und Stephan Hilpold muss berichten, dass es ihm fast den Boden weggezogen hat angesichts der "verzweifelten Regie". Oder liegt es doch an dem in Amerika schon so erfolgreich gelaufenen Stück selbst? "'Ich mochte es, weil es so leer war', diesen Satz hat Andy Warhol einmal über ein frühes Albee-Stück gesagt. Vielleicht gab es vierzig Jahre später wieder aus einem ähnlichen Grund so viel Applaus in Wien."

Carl Wilhelm Macke trauert um den italienischen Philosophen Norberto Bobbio, der "laizistische Papst", Senator auf Lebenszeit und einer der letzten Vertreter des ehrwürdigen alten bürgerlichen Italiens. Rudolf Walther warnt, dass der eben fertig gestellte französische Gesetzentwurf zu Kopftuch, Kreuz & Co in der Schule den Fanatikern unter den Muslimen Vorschub leistet. Hans Jürgen Linke nutzt Times mager, um sich zusammen mit dem Kuratorium Deutsche Bestattungskultur e.V (mehr) zu fragen, wie sich Trauer anhören sollte. Gemeldet wird, dass Tom Tykwer Regie führen soll bei der Verfilmung des "Parfüms".

Auf der Medienseite erfahren wir, dass der mit jeweils 10 000 Euro dotierte Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien in diesem Jahr an den amerikanischen Kriegsfotografen James Nachtwey, an die Organisation "Journalisten helfen Journalisten" und an die spanische Tageszeitung "La Voz de Galicia" geht.

Zwei Buchrezensionen widmen sich Katajun Amirpurs zu hastig geschriebenem Porträt der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi und Michel Wieviorkas bestechender Studie über "Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten".

TAZ, 12.01.2004

In einem Grundsatzartikel erklärt Daniel Bax im Feuilleton, warum das französische Kopftuchverbot der Integration schadet und die Fixierung auf Äußerlichkeiten für Deutschland der falsche Weg ist. Denn "das moderne Kopftuch ist in diesem Zusammenhang das, was der Historiker Eric Hobsbawm eine 'erfundene Tradition' genannt hat. Als globalisiertes Zeichen für den Islam in der Moderne hat er vielerorts lokale Variationen des traditionellen Schleiers verdrängt. Statt wie das traditionelle Kopftuch etwa in der Türkei, das locker unter dem Hals geknotet wurde und stets ein paar Haarsträhnen frei ließ, rahmt dieses moderne Tuch das Gesicht fast luftdicht ein." Zugleich sei das Kopftuch heute für viele junge Frauen "so etwas wie der Stoff gewordene Kompromiss zwischen eigenen Karriere-Ambitionen und den Erwartungen des familiären Umfelds, mit dem man nicht brechen möchte. Als bedeckte Muslima, die mit ihrem Kopftuch zeigt, dass sie die Prinzipien von Anstand und Tugendhaftigkeit verinnerlicht hat, können muslimische Frauen und Mädchen aus konservativen Elternhäusern ihren Aktionsradius erweitern, an der Universität studieren und öffentlich in Erscheinung treten."

Weitere Artikel: Jan-Hendrik Wulf zweifelt im Feuilleton an der universellen Moral, die Amitai Etzioni (mehr) in Potsdam gegen die multikulturelle Indifferenz in Stellung brachte. Ira Mazzoni unterzieht die nördliche Bannmeile der Architektur in München einer etwas abschätzigen Revision. Andreas Merkel sehnt sich nach seinem Besuch der trostlosen "Hochzeitswelt" nach dem nass-grauen Berliner Schmuddelwetter. Ein einsames Buch wird besprochen, "Das Gesagte kommt vom Gesehenen", eine aufschlussreiche Sammlung von Gesprächen mit Jean-Luc Godard.

Die taz zwei hat einen neuen Trend ausgemacht: die "Landverschickung" von Künstlern und Schriftstellern. Aus diesen "Agronauten" lässt sich natürlich prima eine Serie für die zweite taz machen, wie Helmut Höge zur Einführung erläutert. Um dann im Anschluss den "Agrocineasten" Detlev Buck mit einer Art Monolog über Ernährung und Unterhaltung zu Wort kommen zu lassen. "Während auf einem Dorffest Bauern über Getreide und Schweinepreise reden, reden auf einer gelungenen Premiere alle über mögliche Filmpreise, wirklich! Also da unterscheiden sich diese beiden Branchen gar nicht."

Auf der Meinungsseite fordert der bildungspolitische Publizist Reinhard Kahl mehr Beachtung für Vorschule und Grundschule. Einen Ratgeber für die Globalisierungsdiskussion stellt Hannes Koch anlässlich des Weltsozialforums für die Tagesthemen zusammen. Erster Punkt: "Glauben Sie nicht den Leuten von Attac". Weitere begleitende Artikel zu der Veranstaltung im indischen Bombay sind geplant.

Und schließlich TOM.

NZZ, 12.01.2004

"Atemberaubend und epochal" findet Urs Schoettli die jüngste Entwicklung Chinas und vergleicht sie mit der industriellen Revolution in England im 19. Jahrhundert. Er hat in Schanghai ein Land beobachtet, dass sich nach einer Zeit der Selbstzerstörung auf "seine schöpferischen Fähigkeiten besonnen habe und sogar an der Schwelle zu einer "bürgerlichen Gesellschaft" stehe, "die sich ihre Bewegungsspielräume nicht mehr durch untertänige Parteikader diktieren lässt". China stehe mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern "am Anfang eines der gewaltigsten Experimente des Homo faber, über dessen Ausgang sich heute nur spekulieren lässt", schreibt Schoettli sichtlich beeindruckt von der Geschwindigkeit der "Transformation Chinas zur Werkstätte der Welt". Er kann einem chinesischen Pragmatismus, der Luxus und Armut nebeneinander bestehen lasse, Gutes abgewinnen und meint, dass "eine Nivellierung, ein Krieg der Hütten gegen die Paläste (...) letztlich nicht die Befreiung und Bereicherung der vielen, sondern die Verarmung und Unterdrückung aller" bringe.

Weitere Artikel: Paul Jandl porträtiert den Kurator der Documenta 2007, Roger Martin Buergel: Dieser wolle keinem "Welterklärungswahn" erliegen und empfinde als Auftrag, was schon die erste Documenta des Jahres 1955 versucht habe, "nämlich durch die ästhetische Negativität der Kunst den Zusammenhang zwischen Moderne und Gewalt zu zeigen", fasst Jandl die Gedanken Buergels zusammen. Aldo Keel schreibt über den revolutionären dänischen Romancier Martin Andersen Nexö, der 1922 mit George Grosz nach Russland reiste: "George Grosz, der das kritische Auge und den skeptischen Blick des Satirikers besaß, und der Optimist Nexö schätzten die Lage in Russland grundverschieden ein. Grosz hatte den Eindruck 'direkten körperlichen Hungers'. Nexö schrieb, die Versorgung sei knapp - 'aber die Russen haben dem gefüllten Essnapf in Knechtschaft die Brotrinde in Freiheit vorgezogen, und die Brotrinde ernährt sie und lässt sogar einen kleinen Überschuss für den Frohsinn des Gemüts'."

Besprochen werden eine Werkschau des Architekten Mario Botta im Palazzo della Ragione in Padua und die Aufführung von Edward Albees "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?" im Wiener Akademietheater.

SZ, 12.01.2004

Der Historiker Hans Mommsen (mehr) ärgert sich heftig über ein Ablenkungsmanöver der Regierung, die Debatte über Eliteuniversitäten. "Die Unausgegorenheit und der Mangel an Sachkenntnis, der den Beratungen der SPD-Bildungsexperten anhaftet, ist erschreckend. Die Universitäten benötigen statt ständiger bürokratischer Umstrukturierungen Bestandgarantien und dauerhafte Ausstattungen. Eben das schlägt man ihnen, nicht nur wegen der schwindenden Etats, sondern auch wegen der verhängnisvollen Neigung, um jeden Preis Synergieeffekte zu erzielen, aus den Händen."

Gustav Seibt schreibt einen schönen Nachruf auf den italienischen Philosophen Norberto Bobbio (mehr), der Fanatismus schon aus Geschmacksgründen verachtete. "Italien hat zweimal im 20. Jahrhundert gelehrte Intellektuelle von trockenster Nüchternheit hervorgebracht, denen gleichwohl eine überragende Autorität in ihrer Zeit zugewachsen ist: Benedetto Croce in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Norberto Bobbio in dessen zweiter Hälfte." Ergänzend dazu registriert Henning Klüver die große Anteilnahme, die der Tod des "Neu-Aufklärers" in Italien hervorruft.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld zieht im Aufmacher gegen die Unsitte des Wir-Sagens zu Felde, diesem "Abfallprodukt der historisierenden Hochstapelei". Der Komponist Helmut Lachenmann (mehr, natürlich auf einer verdienstvollen amerikanischen Seite) antwortet auf den Artikel über das "Jammerland der Kultur" vom 2. Januar (haben wir anscheinend übersehen): "Kunst muss nichts, außer einem - an das erinnern, was man Geist nennt." Fritz Göttler lässt uns wissen, dass Martin Scorsese und Robert de Niro ihre Memoiren als Gemeinschaftsprojekt veröffentlichen. Ira Mazzoni berichtet, dass die Diskussion um die zivile Nachnutzung der monströsen Nazi-Ordensburg Vogelsang in der Eifel nun begonnen hat. Ralf Berhorst weiß nach einer Berliner Tagung über "Transnationale Risiken", dass es überall gefährlich ist. Gemeldet wird, dass der Nachlass des früheren deutschen Außenministers Walther Rathenau nun doch in Russland bleiben soll.

Auf der Medienseite besucht Titus Arnu einen Psychotherapeuten, der sich auf die zunehmende Anzahl von Medienopfern spezialisiert hat. Und Hans Hoff legt RTL-Chef Gerhard Zeiler einen ergreifenden Hilferuf in den Mund.

Besprochen werden Ulrich Mühes Inszenierungsversuch von Heiner Müllers Drama "Auftrag" in Berlin, Andrea Breths zu Beginn leider humorfreie Version von Edward Albees Boulevard-Komödie "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?" am Wiener Burgtheater, James Foleys temporeicher Noir-Film Confidence, die eindrückliche Ausstellung "Sehnsucht des Kartografen" im Kunstverein Hannover, und Bücher, darunter ein Hörbuch mit Gedichten von Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa, "mit dem strohhalm trinkst du meine seele", Choderlos de Laclos? Teufelswerk "Gefährliche Liebschaften" in einer neuen Übersetzung sowie Rainer Prätorius' vorbildhafte Untersuchung zum Verhältnis von Religion und Politik in den USA, "In God We Trust" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).