Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2004. In der Zeit weist Götz Aly nach, dass Walter Jens mit seiner Version der Geschichte um seine Parteimitgliedschaft Recht haben könnte. Die FAZ benennt den eigentlichen Schuldigen am Terrorismus der ETA: den baskischen Nationalismus. Die NZZ berichtet über eine Krise im dänischen PEN-Club. Die SZ weiß, warum Eric Hobsbawm nicht zum Weltsozialforum in Bombay fahren wird.Die FR erkennt im französischen Forscherprotest ein europäisches Problem.

Zeit, 15.01.2004

Wieder einmal zeigt sich, dass es sich lohnen kann, wenn man als Journalist die Quellen studiert.

Götz Aly (mehr) hat sich in die Archive begeben, hat sie gründlich examiniert und publiziert das Ergebnis seiner Arbeit in der heutigen Zeit. Walter Jens ist demnach Recht zu geben. Es sprechen einige Quellen dafür, dass Jens in einem unspektakulären, tatsächlich leicht zu vergessenden Akt in die NSDAP aufgenommen wurde: "Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wurde er in einer wenig förmlichen, kollektiven Prozedur ('Leute, unterschreibt da mal') zum NSDAP-Karteimitglied." Aly zitiert auch aus einem Vortrag über Thomas Mann, den Jens 1944 vor Studenten hielt: "Thomas Mann zwingt uns zur Auseinandersetzung mit seiner Anschauung von Künstler und Künstlertum, mit seiner Weltsicht, der auch wir unmittelbar nahe sind, ob wir wollen oder nicht, wir Menschen des 20. Jahrhunderts, er hat uns als Dichter Endgültiges zu sagen." Das musste man sich damals erst mal trauen!

Weitere Artikel: Michael Mönniger kommentiert die Entscheidung des Kindler-Verlags, das Buch "Ich musste auch töten" einer angeblichen Mossad-Agentin zurückzuziehen. Die hellblonde Schriftstellerin Susan Straight, die mit einem Schwarzen verheiratet ist und deren Tochter darum gemischt ist, klagt, dass diese nicht mehr Michael Jackson hören wolle, weil er nicht mehr aussehen will wie sie (dieser schwer wiegenden Angelegenheit gibt die Zeit den Aufmacher). Michael Naumann greift in die Elite-Debatte ein ("Elite gibt es in Deutschland massenhaft. Das ist ja ihr Problem."). Petra Reski klagt über die Zerstörung des Filmfestivals von Venedig durch Silvio Berlusconis Handlanger. Dietmar Polaczek schreibt zum Tod des italienischen Philosophen Norberto Bobbio. Andreas Wang berichtet, dass die Wiener Ausgabe der Werke Ludwig Wittgensteins (die tatsächlich in Cambridge betreut wird) vor dem Aus stehen könnte. Claudia Kniess porträtiert die Kabarettistin Lisa Politt.

Besprochen werden der spanische Erfolgsfilm "Montags in der Sonne" von Fernando Leon, das israelische Familiendrama "Broken Wings" von Nir Bergman, Edward Albees Stück "Die Ziege" in Andrea Breths Inszenierung am Burgtheater und Ulrich Mühes "liebevoll-museale" Inszenierung von Heiner Müllers "Auftrag" in Berlin.

Aufmacher der Literaturseiten ist Wilfried F. Schoellers Besprechung der ersten Bände der Jean-Amery-Werkausgabe. Und Volker Ullrich berichtet, das der 1999 gestorbene Historiker Fritz Fischer den Nazis womöglich näher stand, als er zugegeben hatte.

Im Dossier berichtet Thomas Schmid über "Die letzten Tage von Aristide" in einem ausgepowerten Haiti 200 Jahre nach der Revolution.

FAZ, 15.01.2004

Paul Ingendaay denkt auf der letzten Seite über die letzte virulente Terrorbewegung Europas nach, die ETA. Er freut sich, dass die Öffentlichkeit in Spanien immer schärfer gegen das Phänomen ankämpft, und er benennt das Ursache für seine Dauerhaftigkeit, einen baskischen Nationalismus, der institutionell verankert ist und es keineswegs bei Folklore belässt: "Der Philosoph Fernando Savater hat es mit einem treffenden Bild gesagt: Wenn Eta der Fisch ist, dann ist der baskische Nationalismus das Wasser, in dem der Fisch lebt. Ohne diese im Kern rassistische Ideologie, die mit verklärender Geschichtsmythologie und dem rückwärtsgewandten Traum vom agrarischen Idyll alle Nichtnationalisten (oder 'Konstitutionalisten'", weil sie die spanische Verfassung nicht preisgeben) von der Scholle drängen möchte, wäre der Terrorismus nicht denkbar."

Auf der Aufmacherseite bereitet uns Heinrich Wefing auf eine "Mischung aus Peinlichkeit und Faszination" vor, die uns ab Freitag ins Haus steht: den Michael-Jackson-Prozess: "Jacksons Festnahme hat eine sorgsam choreographierte PR-Operation ungekannten Ausmaßes in Gang gesetzt, die sich allenfalls mit dem Präsidentenwahlkampf vergleichen lässt. Eine Propagandaschlacht um die Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit, in der beide Seiten mit den Fakten spielen, Gerüchte ausstreuen und immer mal wieder, wenn es ihnen dienlich erscheint, vertrauliche Informationen durchsickern lassen."

Weitere Artikel: Verena Lueken legt uns "Osama" ans Herz, den ersten afghanischen Film nach dem Ende der Taliban, ein Film über de Lage der Frauen im Land. Andreas Rossmann schildert im Kommentar die schwierige Lage des NRW-Kulturministers Michael Vesper, der entscheiden muss, welche Stadt - Münster, Bochum oder Köln - sich als Kulturstadt bewerben darf. Zhou Derong berichtet über Taiwan vor den Präsidentschaftswahlen. Josef Oehrlein freut sich über eine neue Opernblüte im an Sängern ohnehin reichen Argentinien und meldet, dass dem etablierten Teatro Colon in Buenos Aires mit dem Verein Buenos Aires Lirica und dem Teatro Avenida eine ernste Konkurrenz erwachst.

Auf der Filmseite stellt Peter Körte die erste Biografie über Jean-Luc Godard vor, "Godard - A Portrait of the Artist at Seventy" von Colin MacCabe. Und Bert Rebhandl denkt anhand eines Bandes über Godards "Videopolitik" über das Verhältnis von Video und Film beim Regissuer nach.

Auf der letzten Seite erzählt Jürg Altwegg eine bizarre Episode aus dem Schweizer Zeitungskrieg, in dem sich die großen Zeitungen Lokalzeitungen abjagen, um neue "Mäntel" zu gewinnen. Und Michael Althen findet, dass Tom Tykwer genau der richtige ist, um Patrick Süßkinds Roman "Das Parfum", dessen Rechte jetzt für 10 Millionen Euro freigegeben worden sein sollen, zu verfilmen.

Besprochen werden eine Ausstellung über Joachim Kaiser im Münchner Literaturhaus, eine Ausstellung über den Orientmaler Leopold Carl Müller in der Wiener Hermes-Villa und die Fotografie-Ausstellung "Cruel and Tender" im Museum Ludwig.

NZZ, 15.01.2004

Aldo Keel berichtet von einer Krise im dänischen PEN. Das Aufnahmegesuch des islamkritischen Historikers und Journalisten Lars Hedegaard wurde vertagt, weil zwei Mitglieder des Vorstandes Bedenken angemeldet hätten. Zu Unrecht? Keel berichtet, Hedegaard habe als Co-Autor des Buches "Im Hause des Krieges. Die islamische Kolonisierung des Westens" behauptet, dass der Islam einen demographischen Eroberungsfeldzug gegen die Bevölkerungen Europas, die dafür auch noch Steuern zahlten, führe. Da überrascht es nicht, dass der Historiker selbst die Haltung des PEN in der Zeitung "Politiken" mit einem "farcenartigen Prozess nach Stalins bzw. McCarthys Muster" vergleicht.

Begeistert äußert sich Roman Hollenstein über ein Gebäude des Tessiner Livio Vacchini (mehr). Im Quartiere Nuovo von Locarno habe der ein Geschäftshaus realisiert,"das die Quintessenz seines rationalistischen Neuklassizismus" darstelle. Das von einem Stahlgitter umhüllte "Ferriera" war auch schon Anlass eines wütenden Protests, wie Hollenstein berichtet: Ein wild gestikulierender Mann habe das Werk des Siebzigjährigen als "Orrore della citta", als Eisenkiste beschimpft. "Vacchini hat mit diesem geschichtsbewussten Bau einen ebenso wichtigen wie innovativen Beitrag zur zeitgenössischen Geschäftshausarchitektur geleistet, die hierzulande seit langem kaum mehr mit interessanten Neuerungen aufwarten konnte", meint Hollenstein abschließend.

Weitere Artikel: Sabine Haupt berichtet von der Gründung eines Verbandes der schweizerischen Theaterautoren (mehr), dem EAT (Ecrivains associes du theâtre). Julian Weber wundert sich in ihrer Besprechung dreier DVD's, auf denen der britische Regisseur Chris Cunningham, sein französischer Kollege Michel Gondry und der amerikanische Filmemacher Spike Jonze sich und ihr neu gegründetes DVD-Label vorstellen, über die boygroupartige Zusammenarbeit der drei Künstler. Außerdem wird ein Erzählungsband von Michael Chabon ("Junge Werwölfe") besprochen. (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

TAZ, 15.01.2004

"Mein einziger Rivale ist Tim", soll der französische Präsident Charles de Gaulle einmal gesagt haben", erfahren wir aus einem Artikel von Daniel Bax. "Doch welches Kind kennt heute noch Charles de Gaulle?" Tim und Struppi kennt dagegen jeder. Zum 75. Geburtstag der beiden berühmten Comicfiguren hat Belgien eine Zehn-Euro-Münze prägen lassen. Die Münzen "gehören zu einer Serie von Sonder-Euros, auf denen bislang schon europäische Monarchen, der Papst und Mozart abgebildet wurden. Womit deutlich wird, dass Tim von seinen belgischen Münz-Paten als europäisches Weltkulturerbe betrachtet wird."

Besprochen werden "Die Abwesenheit der Welt", eine Ausstellung mit Fotografien des französischen Philosophen Jean Baudrillard in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel und Filme: "Faat Kine", der siebte Spielfilm des afrikanischen Regisseurs Ousmane Sembene, Roger Donaldsons  Thriller "Der Einsatz" mit Al Pacino und Colin Farrell und Fernando Leons Film "Montags in der Sonnen" (dazu gibt es ein Interview mit Leon, das Claus Löser geführt hat).

Schließlich TOM.

FR, 15.01.2004

Martina Meister berichtet, dass Frankreichs wissenschaftliche Elite Jacques Chirac kollektiv mit "Brain drain", also Rücktritt droht, sollten die finanziellen Zuwendungen für Forschungseinrichtungen weiter gekürzt werden: "Über Frankreich hinaus alarmierend ist der Protest der Wissenschaftler, weil sich an ihrer Situation letztlich die Lage aller europäischen Kollegen ermessen lässt. Denn die Europäische Union hat schon vor drei Jahren ihre Mitgliedstaaten aufgefordert, das Forschungsbudget auf drei Prozent des Bruttosozialproduktes anwachsen zu lassen, derzeit sind es in Frankreich aber nur 2,2 Prozent. Chirac sicherte zu, die drei Prozent bis 2010 zu erreichen. Deutschland liegt nach einer Statistik der OECD aus dem Jahr 2000 bei 2,5 Prozent."

Harry Nutt befasst sich mit dem "effekthascherischen Rousseauismus" der RTL Dschungel-Show "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus". "In der Stunde des Elends des Privatfernsehens, das alles bis zur Erschöpfung bereits durchgearbeitet zu haben schien, wird ein Personal vorgeführt, das vor der Kamera der Erfahrung sozialer Entwertung ausgesetzt ist. Die Show formuliert eine Erfahrung, die zuletzt den Plot der gesellschaftlichen Erzählung bestimmte. In einer Zeit, in der man beim Arzt die Scheine auf den Tisch legen muss, werden auf bisher nicht gekannte Weise die Modi des Privaten neu verhandelt. Vielleicht schaut man deswegen noch einmal oder schon wieder hin."

Weitere Artikel: Roman Luckscheiter blättert durch Literaturzeitschriften. Thomas Medicus schlendert in Times Mager durch den Berliner Bahnhof Friedrichstraße. Gemeldet wird, dass Wilfried Schulz, Intendant des Schauspiels am Niedersächsischen Staatstheater Hannover, den Vertrag doch noch verlängert hat. Und zwar gleich um fünf Jahre bis 2010.

Besprochen werden die von Martin Kippenberger inspirierte Ausstellung "Künstlerbücher II 1980 - 2002" im Neuen Museum für Kunst und Design in Nürnberg, das neue Album "The Homeland" von Bobby Conn & The Glass Gypsies und Bücher, darunter einen Band über "Hollywoods kritischen Blick" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 15.01.2004

Alex Rühle schreibt einen Abgesang auf den Zivildienstleistenden und stellt fest: "Längst ist klar, dass der Zivildienst die Illusion erzeugt hat, er könne zum Nulltarif eine Versorgungs- und Personallücke im sozialen Bereich schließen, so dass Volkswirtschaftler den Zivildienst als 'trojanisches Pferd' bezeichneten, das einen hohen Standard im Sozialwesen etabliert habe, ohne den realen Preis dafür zu fordern."

Weitere Artikel: Mit einiger Irritation hat Alexander Kissler eine Studie des Innenministeriums zur Kenntnis genommen, die vor der Gewaltbereitschaft junger Muslime in Deutschland warnt. Eric Hobsbawm wird nicht zum Weltsozialforum nach Bombay reisen, teilt uns Franziska Augstein mit: "Die Schwäche der Antiglobalisierungsbewegung sieht Hobsbawm darin, dass sie die Globalisierung als solche ablehne und damit die Realität einer Kraft verkenne, die seit fast fünfhundert Jahren wirkt." Jörg Häntzschel erläutert, wie Michael Arad seinen Mahnmalsentwurf für Ground Zero abgemildert hat. Rolf-Werner Essig war auf dem Bamberger Kurzfilmfestival. Petra Steinberger erklärt, warum warum der Kindler Verlag die Veröffentlichung von "Ich musste auch töten. Agentin für Israel" gestoppt hat.

In einem Interview äußert sich Rolf Bolwin vom deutschen Bühnenverein abschlägig über die Dissertationsthesen des Volkswirts und Finanzwissenschaftlers Stefan Tobias, der behauptet, es gebe bei den Theatern noch 19-prozentige Sparpotentiale. Helmut Schödel erzählt ein neues Kapitel aus Wiener Dauerposse um das Theater an der Josefstadt: fünf Monate nach seiner Ablösung als Intendant durch Hanz Grazer übernimmt das Haus jetzt doch wieder Helmut Lohner. Schützend hat sich außerdem, wie Egbert Tholl aus München meldet, Dieter Dorn vor sein vom Sparwahn bedrohtes Ensemble gestellt und seinen Intendantenvertrag am Bayrischen Staatsschauspiel verlängert. Was SZ-Kritikerin Christine Dössel dazu sagt, lesen Sie hier. Auf der Mediemseite erklärt Hans-Jürgen Jakobs, warum ihn die RTL Schmuddel-Show "Ich bin ein Star - holt mich hier raus" an Lars von Triers Film "Dogville" erinnert.

Besprochen werden Roger Donaldsons Spionagefilm "Der Einsatz" (Al Pacino beweist hier die "magnetisch mephistophelische Kraft seiner Autorität", wie Anke Sterneborg findet), das Buch des amerikanischen Filmjournalisten Peter Biskind "Down and Dirty Pictures - Miramax, Sundance, and the Rise of Independent Film", Siddiq Barmaks Film "Osama", in dem es nicht um Osama Bin Laden geht (hier ein Gespräch mit dem afghanischen Regisseur), und Bücher, darunter ein Band mit nachgelassenen Romanfragmenten von Brigitte Reimann und Gedichte von Alfred Brendel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).