Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2004. Triumph! FAZ und FR liegen Susanne Lothars Blanche zu Füßen. In der SZ erklärt Wolf Lepenies, warum die Amerikaner die wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen nicht stört. Die NZZ porträtiert einen Verleger der alten Schule, den Spanier Jorge Herralde. Und alle Zeitungen erinnern an den zeitlosen Traumliebhaber, das Monument männlicher Schönheit: Cary Grant, der heute 100 geworden wäre.

FAZ, 17.01.2004

"Über das Schreiben, das Sprechen und das Ich", macht sich Schriftsteller Michael Lentz (mehr hier) in einem Essay Gedanken. Das Wissen um die - oder die Furcht vor? - Unwiederholbarkeit des gelungenen Kunstwerks führt ihn dabei irgendwie zum Boxen: "Boxen ist schön, macht aber viel Arbeit. Die Anstrengung soll der Kunst nicht anzumerken sein. Ein folgenreicher Treffer braucht eine gute Vorbereitung. Eine jahrelange, zuweilen. Oder Glück. Der sogenannte 'Lucky Punch' gehört zum Leben. Er kann dazugehofft werden. Jahrelang auf einen sogenannten 'Lucky Punch' hoffen oder jahrelang dieser Hoffnung gegenarbeiten, es zu dieser Hoffnung erst gar nicht kommen lassen. Einen 'Lucky Punch' nicht nötig haben." Richard Kämmerlings lobt dazu Michael Lentz' "rheinischen Zungenschlag", "literarischen Donnerschlag", der auch im Gespräch mit Herbert Grönemeyer auf der DVD "Mensch Live" zu hören ist.

Gerhard Stadelmeier applaudiert der "ersten wirklich großstädtischen Inszenierung, die das Schauspiel Frankfurt seit langer Zeit erlebt: Burkhard C. Kosminskis "Endstation Sehnsucht" mit einer "ungenierten, phatasietollen und wunderbar verlorenen" Susanne Lothar als Blanche DuBois: "Eine Gesellschaft ohne Haftung. Stäubchen ohne Halt. Jedes allein im Eissturm. Unsere Gespenster. Zeitgenossen. Und die Schneekönigin trägt auch Vergewaltigung, Wahnsinn und Klapsmühlenzukunft mit ganzen, hellen, tollen Sinnen, mit langen, strähnigen Haaren, die aber hinreißender als jedes Diadem wirken, als komme sie direkt aus Shakespeares Raumschiff herabgestiegen: Fräulein DuBois als Queen Lear. Ovationen."

Weitere Artikel: "Die Urheber und Interpreten haben unter der zweiten rot-grünen Regierung nichts mehr zu lachen", stellt Martin Vogel, Richter am Bundespatentgericht, fest. Die von Herta Däubler-Gmelin angestrengte Neuregelung hat sich als wirkungslos entpuppt, und Justizministerin Zypries arbeitet schon an einer weiteren "Einschränkung der Rechtsposition der Urheber".Christian Schwägerl hat sich nicht nitreißen lassen vom neuerlichen Innovationsgipfel: "Für diese negative Innovationsleistung, die Revitalisierung von Bündnissen und Kungelritualen samt kollektivem Imponiergehabe der Alphatiere, gibt es im 'Innovatiosbüro Deutschland' einen Eintrag in die Personalakte." Wiebke Hüster würdigt ausführlichst den Choreografen George Balanchine (mehr hier), der vor hundert Jahren geboren wurde. Thomas Wagner gratuliert dem Bildhauer Franz Bernhard (mehr hier) zum Siebzigsten. Auf der Medienseite berichtet Gisa Funck, dass Stefan Raab erwachsen werden und den deutschen Schlager retten will.

Außerdem besprochen werden ein Abend mit "ganz alter und ganz neuer" Musik am Theater Meiningen, Tschaikowskys letzte Oper "Jolanthe" in Amsterdam, Rene Polleschs in Berlin uraufgeführte "Telefavela", Ousmane Sembenes Film "Faat Kine" und Bücher, darunter Adolf Frises Erinnerungen "Wir leben immer mehrere Leben", Olivier Rolins Roman "Die Papiertiger von Paris", ein weiterer Band der Bargfelder Arno-Schmidt-Ausgabe und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der "Schallplatten und Phono"-Seite widmen sich Besprechungen Andras Schiffs Einspielung der Goldberg-Variationen, und neuen Alben von Lamb und Rosie Thomas.

In der Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius Gerhard Falkners Gedicht "Die Götter bei Aldi" vor:

"Jahr für Jahr, wenn ich mich recht erinnere
bildeten wir kurz vor Sonnenaufgang
jene Klasse der Betörten
noch über den Vögeln
zogen unsere Gedanken, wie blinkende Pfeile
und es folgten die Finger
der Entasis der Schenkel
wie Huskies dem Schnee
unsere claims waren abgesteckt
(beide alles!)
und zwar bis zum Erreichen
des Planeten Tuisto
wenn es hell wurde hörten wir
Isoldes Liebestod
(Margaret Price als Isolde)
dann traten wir
mit nichts als Luft zwischen den Ohren
hinaus in die Tagesvorstellung
die Häuser leuchteten voll
selbst bei Aldi
standen die Götter Schlange."

TAZ, 17.01.2004

Von den neuesten Tendenzen der Münchner Literaturszene, von Poetry Slams und durchreisenden Berlinern berichtet Jan Brandt: "Manche Veranstaltungen, wie Europas größter Poetry Slam im 'SubsTanz', sind so beliebt, dass viele Besucher draußen warten müssen, bis einer der 350 Gäste den Raum verlassen hat. Zehn Autoren treten an diesem Sonntag auf. Fünf kommen aus der offenen Liste, fünf sind gesetzt, unter ihnen Matthias Politycki und der Wladimir Kaminer Münchens, Jaromir Konecny. Die Luft ist dünn und verraucht. Polityckis Prosaminiaturen mit Titeln wie 'Der Männerbeauftragte vom Nebentisch genehmigt sich sein Erstes'und 'Der Bierschiss' sind kunstvoll und kurzweilig. Trotzdem wird der gebürtige Tscheche Konecny mit seinem böhmisch-bayrischen Akzent vom grölenden Publikum ins Finale geklatscht. Zum 50. Mal."

Weitere Artikel: Daniel Bax informiert über fundamentalistische Reaktionen der arabischen Welt auf das Kopftuchverbot in Frankreich. Nach den Rücktritten der für sehr unterschiedliche Konzepte stehenden Label-Chefs Tim Renner und Thomas Stein weiß auch Tobias Rapp nicht weiter. Auch nach dem Adorno-Jahr findet noch Adorno statt: Im "Mittelweg 36", der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (hier die Website, aber keine Texte). Jan Süselbeck hat gelesen und insbesondere Jan Philipp Reemtsmas Aufsatz zu Adornos Literaturbegriff für gut befunden. Reemtsmas Lieblingsautor Arno Schmidt ist unterdessen im Schauspiel Hannover zu begutachten - mit einer Dramatisierung seines Romans "Schwarze Spiegel". Katrin Bettina Müller war da. Philipp Bühler stellt in seiner Besprechung des Merchant-Ivory-Films "Eine Affäre in Paris" (mehr) fest: "Das französische Tabu heißt Geld. Das amerikanische Sex."

In der tazzwei porträtiert Barbara Bollwahn Ulrich Peck, den ersten Honda-Händler Ostdeutschlands, dem fristlos gekündigt wurde. Der Grund: "Am 3. Januar hatte Peck in einem seiner zwei Honda-Autohäuser eine Neujahrsfeier veranstaltet. Unter den etwa einhundert Gästen: der Mitte Dezember 2003 vorzeitig aus der Haft entlassene letzte DDR-Regierungschef Egon Krenz, im Zusammenhang mit den Todesschüssen an der Mauer verurteilt und Honda-Kunde."

Das tazmag: Cary Grant wäre morgen hundert Jahre alt geworden. Dirk Schäfer gratuliert mit einer Reise durch Leben und Werk des Schauspielers: "Er blieb eine Art Anzug-tragendes Monument männlicher Schönheit, aber er selbst stürzte diese Statue immer wieder vom Sockel, zog ihr Frauenkleider an oder setzte ihr die Brille eines zerstreuten Professors auf. So sicherte er sich, einzigartig in Hollywood, den Status eines romantischen Liebhabers, ohne den des Clowns je ganz aufzugeben." Adrienne Woltersdorf berichtet von irakischen Flüchtlingen in Berlin, die in ihre Heimat zurückkehren wollten - und doch Bedenken haben angesichts der derzeitigen Lage in ihrem Land. Besprochen werden unter anderem ein Buch über die Segnungen des Neoliberalismus, Hans Joachim Schädlichs neue Erzählung "Anders" und Colum McCanns Roman "Der Tänzer". (Mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr.)

Schließlich Tom.

FR, 17.01.2004

Etwas unentschieden modernisiert findet Peter Michalzik Burkhard C. Kominskis Inszenierung von "Endstation Sehnsucht" in Frankfurt. Aber die Schauspieler! Susanne Lothar verfügt "über so viele Mittel, vom Augenzwinkern bis zum Rauchwegwedeln, die Hysterie in die Norm zurückzubrechen, dass die Überspanntheit am Ende doch nicht in der Affektion stecken bleibt. Das macht den Star. Da wirkt das Artifizielle nackt", schwärmt er. Auch Friedericke Kammer hat ihm sehr gefallen: "Als Stella küsst und schmust sie mit ihrem Stanley handfest. Wird er zum Tier, weiß sie, was sie an ihm hat. Mit ihrer urbanen Selbstsicherheit verträgt sich das aufs Beste. Die Frau ruht im Sex, das gibt ihr Realitätssinn. So hat sie hier die Unterhosen an (oder aus), eine New Frankfurterin, durchsichtig, abgründig, großartig."

Weitere Artikel: Petra Kohse erinnert - in "Anläufen zur Trauer" - an das Theater-Genie Einar Schleef. Er wäre heute 60 Jahre alt geworden. Was die Arbeit am Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) Wert ist, darüber streiten, wie Ulrich Speck berichtet, gerade die Evaluatoren und Meta-Evaluatoren. Aus Frankreich meldet Hella Faust den Verkauf des Traditionsverlags Le Seuil (Website) an den Verlag für illustrierte Bücher La Martiniere (Website) als jüngste Hiobsbotschaft in einer sich rasant ändernden Verlagslandschaft. Universal-Chef Tim Renner geht, weil er deutschen Pop nicht mehr fördern darf, berichtet Silke Hohmann. In ihrer Zimt-Kolumne ärgert sich Renee Zucker über kommerzialisierte Mega-Partys in Goa.

Für die Medienseiten hat Oliver Gehrs einen Mann besucht, der, wie es aussieht, irgendwie am falschen Platz ist - den ARD-Intendanten Jobst Plog: "Man kann sich kaum vorstellen, dass der Intendant viel von seinem eigenen Programm guckt. Dass er nicht abschaltet, wenn Reinhold Beckmann einen irakischen Jungen ohne Arme fragt, wie er sich so fühle. Wenn Sendeplätze dafür freigeschaufelt werden, damit Sabine Christiansen eine Medienpreisverleihung moderieren kann. Wenn das Privatfernseh-Geschöpf Bärbel Schäfer über die Segnungen des Möhreneintopfs spricht. Wenn die Gaudi mit Marianne und Michael losbricht. Und wenn bald wieder die Karnevalsfeiern die Primetime zupflastern. Er liest öfter mal ein Buch, sagt Jobst Plog."

Besprochen werden die Ausstellung mit Werken von Jonathan Meese (mehr) in der Frankfurter Schirn ("Meese relativiert nicht, er wiegelt nicht ab, er behauptet, denn 'Zwischentöne interessieren mich null'", schreibt Sandra Danicke) und ein Don Carlos am Landestheater in Linz.

NZZ, 17.01.2004

Zunächst das Feuilleton: Markus Jakob zeichnet ein Porträt des spanischen Verlegers Jorge Herralde, der sich mit seinem kleinen, aber feinen Anagrama-Verlag gegen die großen Verlagskonzerne behauptet und den sein Autor Enrique Vila-Matas so charakterisiert: "Verleger der alten Schule, alert, intuitiv. Unter Schlaflosigkeit leidend, was er zum Lesen von Manuskripten nützt. Gewohnt, zwischen Haien zu schwimmen, in permanentem Alarmzustand." Joachim Güntner greift die Diskussion um die deutsche Bildungsmisere und die Elite-Unis auf. Cary Grant (mehr hier) wäre dieser Tage hundert Jahre alt geworden - Andreas Maurer feiert noch einmal den "Galan unter den Kinoclowns, "zeitlosen Traumliebhaber" und "Poeten der Körpersprache".

Besprochen werden Bücher, darunter Valentin Groebner Studie zur visuellen Kultur der Gewalt im Mittelalter "Ungestalten", Eduardo Belgrano Rawsons Roman "Feuerland" und Irene Tobbens Lebensbild von Verdis Frau Giuseppina Strepponi "Ich wollte eine neue Frau werden" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Mit einem Strauß bunter Themen präsentiert sich heute Literatur und Kunst: Gerhard Brunner huldigt zum hundertsten Geburtstag dem "größten Choreografen der Ballettgeschichte", George Balanchine. Christian Saehrendt geht der Frage nach, was eigentlich mit den Nazi-Skulpturen rund um das Berliner Olympiastadion passiert. Birgit Sonna sieht eine Menge ernst zu nehmende Performance- Strategen auf den Plan treten, die das Erbe von Chris Burden oder Joseph Beuys antreten können, die sich einst vor versammeltem Publikum in den Arm schossen oder mit einem Kojoten in New Yorker Galerien um die Wette schlichen. Jakob Knaus erinnert an die Uraufführung von Janaceks "Jenufa" vor hundert Jahren.

SZ, 17.01.2004

Der Soziologe Wolf Lepenies sieht in wachsender Armut und Ungleichheit in den USA wohl gute Gründe für die Abwahl von George W. Bush - dazu kommen wird es freilich nicht, meint er, obwohl die oberen fünf Prozent der Haushalte über mehr Vermögen verfügen als die restlichen 95 Prozent der Bevölkerung zusammen. Umfragen belegen, wie groß die Einstellungsunterschiede zwischen den USA und Alt-Europa sind: "71 Prozent der Amerikaner, aber nur 40 Prozent der Europäer glauben, dass Armut durch Eigeninitiative überwindbar ist. 70 Prozent der Deutschen machen die Gesellschaft für individuelle Armut verantwortlich - in Amerika sagen 70 Prozent, wer arm sei, müsse sich dies in erster Linie selbst zuschreiben."

Weitere Artikel: Eine Übersicht über die derzeit etwas unübersichtliche Lage auf dem Intendantenkarussell bietet Christopher Schmidt: Niermeyer von Freiburg nach Düsseldorf, Hartmann von Bochum nach Zürich, Goerden von München nach Bochum. Dieter Dorn aber bleibt in München, für immer und ewig. Robin Detje berichtet vom rasenden Stillstand im postdramatischen Theateruniversum des Rene Pollesch: Dessen "Telefavela" im Prater hat ihm allerdings nicht gefallen. Eine Bonner Ausstellung über Wunderkinder (Website) hat Harald Eggebrecht besucht - jetzt macht er sich Gedanken.

Außerdem: Im Münchner Kunstverein sind Werke von Philippe Parreno und Carey Young zu bewundern. Alex Rühle liefert Impressionen. "Nur Jubel" meldet Wolfgang Schreiber von einem Konzert der br-Symphoniker unter Mariss Jansons. Die Jecken sitzen derzeit im Kölner Stadtrat, erfahren wir von Alexander Menden: Die soeben eingeführte Vergnügungssteuer hat man sogleich wieder (fast) aufgehoben. Gottfried Knapp gratuliert dem Bildhauer Franz Bernhard zum Siebzigsten.

Kino, Kino: Einen kleinen Geburtstagsgruß zum Hundertsten bekommt Cary Grant von Susan Vahabzadeh. Fritz Göttler berichtet, dass die Filmtheater jetzt wirklich gegen die vom neuen Filmförderungsgesetz geplante Erhöhung der Abgaben auf Kinokarten (von 2,3 auf 2,6 Prozent pro Karte) vor Gericht ziehen. Außerdem freut er sich, dass Bernardo Bertoluccis Film "Die Träumer" in den USA ganz ohne Schnitte (wenn auch mit der pornonahen NC-17-Einstufung) in die Kinos kommt. H.G. Pflaum bespricht Fridrik Thor Fridrikssons neuen Film "Islandfalken" .

Literarisches: Rezensionen gibt es unter anderem zum neuen Roman von Stewart O'Nan und zur Autobiografie von Sting. Und Lothar Müller schreibt Arno Schmidt einen kurzen Brief, zum neunzigsten Geburtstag. (Mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

In der SZ am Wochenende beklagt Ulrich Raulff unter Einsatz schweren Geschützes wie Roland Barthes, Georg Simmel und Immanuel Kant das aktuelle Autodesign: "Die verbindlichen, seifigen und kieselglatten Formen der 90er Jahre haben einer agonalen, aggressiven Morphologie von blonden Bestien Platz gemacht, die fauchende Raubtiere auf Athleten mit Menschenfresservisagen hetzt."

Weiteres: Oliver Herwig erzählt die Geschichte der Zigarette in Deutschland und die deutsche West-Nachkriegsgeschichte am Leitfaden der Zigarette. Den sagenumwobenen Modemacher Azzedine Alaia porträtiert Peter Bäldle. Michael Frank singt ein Loblied auf italienische Touristen, denn: "Italiener wissen zu staunen, unverfälscht, direkt." Thomas Ross berichtet von Leben und Tod Gogols - seines Hirtenhundes. Und Rainer Langhans spricht im Interview mit Willi Winkler über sein Lieblingsthema: Frauen im allgemeinen und Uschi Obermeier im besonderen: "Da habe ich mir dann die Uschi gesucht als das A-Rationale, Bewusstlose, Sinnliche. Dieses Waldwesen wäre am liebsten ein schwarzer Panther geworden oder zumindest eine Negerin mit sooo einem Po."