Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2004. Ein Wochenende voller Kunst liegt hinter uns: Die FR schwärmt von der "virtuosen Äquilibristik" der Sopranistin Christine Schäfer. Die FAZ von der "entwaffenenden Ernsthaftigkeit" Jana Schulz' und Robert Stadlobers als Julia und Romeo. Die taz zeigt sich beeindruckt vom Auftritt Arundhati Roys als Pasionara der Globalisierungsgegner in Bombay. Die NZZ berichtet über Walter Kempowskis Gutachten zu einer "Frau in Berlin". Die SZ verabschiedet den Mythos vom verarmten Künstler.

FAZ, 19.01.2004

Irene Bazinger hat in Nils Daniel Finckhs Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg eine Julia und einen Romeo entdeckt, die sie tief zu rühren wussten: "Jana Schulz und Robert Stadlober - sie mit sechsundzwanzig Jahren erst seit letztem Sommer fest im Engagement, er nach einigen gefeierten Filmen mit zweiundzwanzig Jahren nun in seiner zweiten Bühnenrolle - spielen mit entwaffnender Ernsthaftigkeit und Natürlichkeit. Die Inszenierung ist eine Gratwanderung zwischen zarten, manchmal aberwitzigen, nie kitschigen Szenen und harten, aggressiven Einschüben."

Gleich nebenan Andreas Rossmanns Artikel über den bestürzenden Niedergang des Kölner Schauspiels, das offensichtlich von Intendanz und Kulturpolitik gemeinschaftlich heruntergewirtschaftet wurde: "Die viertgrößte deutsche Stadt ist schon lange keine Theatermetropole mehr", schreibt Rossmann, und er resümiert: "Die Schwierigkeit, die Institution gegen ihre Verächter wie auch ihre eigenen Ergebnisse zu verteidigen, wächst, und der Intendant wäre gut beraten, sich als Regisseur zurückzuziehen. Was jetzt nur noch helfen kann, ist ein gründlicher, auf Konsolidierung und Kontinuität setzender Neuaufbau."

Weitere Artikel: Im Aufmacher setzt der Philosoph Thomas Buchheim die Professoren-Debatte um unser Hirn und seinen freien Willen fort, wobei er auf letzteren setzt. Michael Jeismann empfiehlt dringend einen Gang in die raffiniert inszenierte Ausstellung "Bilder, die lügen" im Deutschen Historischen Museum. Tilman Spreckelsen bricht nach Jürgen Kaubes Generalattacke (mehr hier) vor ein paar Tagen eine Lanze für den Autor Arno Schmidt, dessen Aktualität er an den jüngsten Weltall-Besiedlungsprojekten George W. Bushs erweist. Jürg Altwegg schreib in seiner französischen Zeitschriftenschau über die Krise der Presse in Frankreich, die vor allem eine Krise von Le Monde zu sein scheint (Altwegg verweist auch auf ein Internet-Observatorium für die französische Presse namens Acrimed, das den Kapitalismus-Skeptikern von Le Monde diplomatique nahe zu stehen scheint). Eleonore Büning zeigt sich beglückt von Rene Jacobs' Aufführung des Monteverdischen "Orfeo" an der Berliner Staatsoper. Jordan Mejias berichtet über eine Diskussion im Internetmagazin edge.org, in der sich (die inzwischen fast schon wieder vergessenen) Koryphäen der "Dritten Kultur" wie Ray Kurzweil über ihre Entdeckungen äußern. Michael Jeismann gratuliert dem französischen Atlantiker Jean-Francois Revel zum Achtzigsten.

Auf der letzten Seite begleitet Andreas Rosenfelder einen Leverkusener Zivildienstleistenden zur aufopferungsvollen Tätigkeit. Mark Siemons berichtet über eine von der CDU veranstaltete Diskussion zu einem angeblich neuen Typus des Metropolenbewohners, der vor allem eines tun soll: CDU wählen. Und Dirk Schümer porträtiert den neuen Chef der Biennale in Venedig, Davide Croff.

Besprochen werden ein Frankfurter Liederabend mit Christine Schäfer, eine Hamburger Ausstellung mit Seestücken Max Beckmanns, die Ausstellung "Die Sehnsucht des Kartographen" in Hannover, der Film "Don's Plum" aus dem Jahr 1995, in dem man Tobey Maguire und Leornardo di Caprio bei Improvisationsversuchen vor ihrer großen Karriere bewundern kann (Michael Althen scheint nicht überwältigt) und Sachbücher, darunter Schriften von Arnold Gehlen in neuen Ausgaben.

FR, 19.01.2004

Hans-Klaus Jungheinrich hat einen schönes Wochenende verbracht, dank Wolfgang Rihms "Brentano-Phantasie", uraufgeführt in der Alten Oper Frankfurt. "Unter einem Sopranliederabend mit Klavierbegleitung stellt man sich nicht unbedingt etwas Maniakisches vor", gibt Jungheinrich zu, um dann umso begeisterter von Christine Schäfer zu schwärmen. "Fast mehr noch als ihre Mahler-Anthologie bestach zum Abschluss des Frankfurter Abends die Strauss-Auswahl (sie verzichtete konsequent auf die allbeliebten 'Schlager'), deren ornamental virtuose Äquilibristik sich ganz 'natürlich' einer kultiviert-empfindsamen Interpretationsweise fügte. Mischende Feindosierung mit der Tendenz zur Reinigung. Oder etwas paradox gesagt: Strauss als ebenmäßig-sachliche Adolf-Loos-Fassade. Mit solch innerer Gestimmtheit der Sängerin verbündete sich der unfehlbar sichere, wunderbar nuancenreiche Pianist Julien Salemkour aufs Vehementeste."

Weitere Artikel: Harry Nutt verteidigt Florian Gerster und dessen Beraterbedarf, denn "der Verwaltung der Arbeitslosigkeit lag nicht nur ein Vermittlungs-, sondern ein Stilproblem zu Grunde." Jörg Reckmann weiß nach einer Brüsseler Tagung über Flüchtlingspolitik jetzt, wie wenig sich seit 1933 in Europa geändert hat. In Times mager sinniert ein grundsätzlich gestimmter Frank Keil über die Macht des Faktischen, ewiger Feind von Kulturmenschen wie unsereins. Gemeldet wird, dass die Bremer Stadthalle nun doch ihres Daches beraubt wird. Auf der Medienseite empfiehlt Jens Holst einen ARD-Dreiteiler, der Paare an der Macht porträtiert.

Besprochen werden Florian Fiedlers Inszenierung von Nabokovs "Lolita" am Schauspiel Frankfurt, Ulrike Hänschs gut strukturierte Studie über "Individuelle Freiheiten - heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen" sowie Franz Xaver Kaufmanns Analyse "Sozialpolitisches Denken. Die deutsche Tradition" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 19.01.2004

Rainer Hörig gibt - beeindruckt und ein wenig ratlos - den aufsehendenerregenden Auftritt Arundhati Roys (mehr) auf dem Weltsozialforum in Bombay (mehr) wieder. Mehr oder weniger ruft sie zum gewaltsamen Widerstand gegen Bush & Co auf. "Während andere Redner vage 'Schwierigkeiten' und "Dissonanzen" in der globalisierungskritischen Bewegung andeuten, erwähnt die Inderin als Einzige die radikalere Parallelveranstaltung Mumbai Resistance 2004. Sie schlägt vor, den Fokus der gemeinsamen Bewegung auf den Krieg im Irak zu lenken, denn der sei 'die Zuspitzung von Imperialismus und Neoliberalismus'. Die Kritik der Radikalen am Weltsozialforum, es sei eine 'Quatschbude', nimmt sie auf: 'Es reicht nicht, dass wir im Recht sind. Es reicht nicht, zu sagen, wir werden sie vertreiben. Wir müssen hier vorankommen, und daher müssen wir uns auf etwas einigen, und sei es ein noch so kleiner Schritt.' Dann folgt der entscheidende Satz: 'Wenn wir wirklich gegen Imperialismus und Neoliberalismus sind, dann müssen wir nicht nur den Widerstand im Irak unterstützen, wir müssen selbst zum Widerstand im Irak werden.'"

Im Aufmacher des Feuilletons schlägt Tom Holert einen Bogen von den Superstars zur Elite-Debatte, die alle eines veranschaulichen: unser massenkultureller Wildwuchs soll diszipliniert werden. Andreas Merkel freut sich, dass der vollautomatische Traumgestalter aus Japan noch nicht so richtig funktioniert. Reinhard Wolff meldet in der zweiten taz, dass Israels Botschafter Zvi Mazel eine angeblich den Massenmord glorifizierende Installation (Begleittext) auf einer Vernissage in Stockholm kurzerhand zerstört hat. Thilo Knott findet Gefallen daran, sich als Double des IG-Metall-Chefs Jürgen Peters (nach strengen Regeln) zu streiten. Und auf der Medienseite unterhält sich Steffen Grimberg flugs mit der Koch-Krimi-Kommissarin Katharina Thalbach, die höhere Gebühren nicht so arg findet: "Bei den Zigaretten hats die Leute doch auch nicht abgehalten."

Besprechungen widmen sich der deutschsprachigen Erstaufführung von Elias Perrigs zeitgemäßer Version der Shakespeare-Adaption "Romeo und Julia" von Peter Verhelst hat am Stuttgarter Staatsschauspiel, RD Robbs schönem kleinen Film "Dons Plum" mit einem sehr jungen Tobey Maguire und Leonardo DiCaprio, Siddiq Barmaks etwas zu cleverem Afghanistan-Streifen "Osama" sowie Walter Scheiffeles voluminöser und lesenswerter Studie "Bauhaus Junkers Sozialdemokratie" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich TOM.

NZZ, 19.01.2004

Joachim Güntner hat das gestern veröffentlichte Gutachten Walter Kempowskis (mehr) zu der Frage, ob das Buch "Eine Frau in Berlin" (mehr) authentisch sei, gelesen: "Ich weiß gar nicht, was in der Presse los war", urteilt Kempowski. Der nach Ansicht Güntners im Umgang mit Quellen "überaus erfahrene" Kempowski kommt zu folgendem Schluss: "Die in drei Heften niedergelegten und wie in der Buchausgabe datierten handschriftlichen Aufzeichnungen 'tragen alle Merkmale des Authentischen': zum Teil flüchtige, dann wieder ordentliche Schrift, wechselndes Schreibgerät (mal Tinte, mal Blei-, mal Rotstift), vergilbtes Papier und ein 'unverwechselbarer Tagebuchton'."

Weitere Artikel: Thomas Veser betrachtet ein Gesamtkunstwerk Peters des Großen im Norden Russlands, die Stadt Kronstadt inklusive Umgebung. Samuel Herzog meldet die gesicherte Finanzierung eines Berner Museums für Gegenwartskunst. Floriane Azoulay und Claudia von Selle berichten über eine neue Zusammenarbeit der Behörden bei der Rückgabe der von den Nazis enteigneten und geraubten Kunstgegenstände im Zweiten Weltkrieg. Und Irene Binal bespricht den Roman "Drop City" von Tom Coraghessan Boyle (mehr) (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).
Stichwörter: Herzog, Samuel

SZ, 19.01.2004

Ulrich Raulff lässt es sich nicht nehmen, die allgemeine Wehrpflicht in den großen gesellschaftlichen Rahmen einzubetten, bevor er sie beerdigt. Michael Winter warnt den Staat davor, die Haushaltshilfen zu besteuern und damit zu kriminalisieren, denn "wer weiß, ob es nicht an der Zeit ist, dass sie sich einmal wieder ihrer historischen Aufgabe besinnen: den Sturm aufs Parlament."

Weitere Artikel: Der Mythos vom verarmten Künstler wird sich halten, glaubt Dirk Peitz in seinen Reflexionen zum Geniekult, trotz des von Christina Weiss nun angekündigten großen Kulturfinanzberichts. Doch "was freie Künstler wirklich verdienen, lässt sich seriös nicht einmal schätzen." Bch. sinniert über den ewigen Disput zwischen Geist und Kapital, Kreativen und Kaufleuten. Manfred Schwarz streift durch die Festlichkeiten zum anstehenden Hundertsten von Salvador Dali in Spanien. Stefan Koldehoff kolportiert neue Vorwürfe gegen Leichenplastinator Gunther von Hagens (seine Ausstellung) sowie Christie's Fehlgriff mit einem nur angeblich antiken Trajanskopf. Ein wenig gelangweilt resümiert H. G. Pflaum die 25. Verleihung des Bayerischen Filmpreises (die Gewinner). Jby. bedauert die chinesische Lösung für den Palast der Republik. Henning Klüver zweifelt über den Sinn des jetzt in Italien verabschiedeten Kodex Urbani zum Umgang mit Kulturgütern. Flow. empfiehlt einen Aufsatz des Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich übr das "Das unschuldige Auge" in der Neuen Rundschau (im Netz steht bezeichnenderweise noch die alte Ausgabe). Gemeldet wird, dass die Autorin Olivia Goldsmith verstorben ist.

Auf der Medienseite erwähnt Viola Schenz die diffizile Situation der Schwarzenegger-Gattin Maria Shriver, deren Neutralität als Journalistin angezweifelt wird. Lesenswert auch die Reportagen auf der Dritten Seite: Christiane Schlötzer beleuchtet den aufkeimenden Widerstand gegen die traditionellen Ehrenmorde in der Türkei, und Marcus Jauer gibt einen Einblick in die Welt der professionellen Computerspieler.

Besprochen werden die beiden Versionen von "Endstation Sehnsucht" und "Lolita" am Schauspiel Frankfurt, die italienische Erstaufführung von Schuberts "Alfonso und Estrella" in Cagliari, Julie Delpys illusionszerstörende Gesangsdarbietung in Hamburg, Ray D. Robbs jazzartiger Streifen "Don?s Plum", und Bücher, darunter Michael Stollbergs Meilenstein der deutschen Medizingeschichtsschreibung "Homo Patiens" sowie Katrin de Vries und Anke Feuchtenbergers unvergleichliche Bildergeschichte "Die Hure H. zieht ihre Bahnen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).