Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2004. Georg Klein beobachtet für die Welt den Mannesmannprozess und staunt über die vier Zwerge auf der Anklagebank. Gabriele Goettle schreibt in der taz über den Frackspezialisten Josef Teuschler. Die SZ wettert gegen die demente Musikindustrie. Im Tagesspiegel feiert Georg Seeslen die Marsmission als Wiederherstellung der Mythe Zukunft. Für die FAZ leidet Gerhard Stadelmaier im Burgtheater. Und alle trauern um Helmut Newton.

Welt, 26.01.2004

Der Schriftsteller Georg Klein (mehr hierbeobachtet den Düsseldorfer Mannesmann-Prozess gegen Esser, Ackermann und Co.
"Die Hauptangeklagten dieses Prozesses haben mich, nach einem haltbaren Vergleich suchend, zuletzt an die Zwerge Schneewittchens erinnert. Jedoch nicht an die Grimmschen Märchenfiguren, sondern an die Gestalten, wie sie der amerikanische Trickfilm, wie sie die frühmoderne Zeichenfabrik Walt Disneys erschuf. Bis heute marschieren diese auf den ersten Blick drolligen, im zweiten Hinschauen aber grauenhaft automatenhaften Gestalten, singend und die Pickel geschultert, über unsere Bildschirme in ihr Bergwerk. Ähnlich einträchtig müssen Ackermann, Zwickel und Esser zu den Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen des Mannesmann-Konzerns getippelt sein. Dort aber haben sie nicht nach Kupfer und Gold gegraben, sondern mit anderen emsigen Zwerglein dasjenige Metall gefördert, das der unheimlichen Flüssigkeit, der schier unbegrenzten Wandlungsfähigkeit des modernen Kapitals am meisten entspricht. Aus den wundersamen Quecksilberbergwerken der Geldwerterzeugung und Geldwertvernichtung stammen die schlafwandlerischen Gesten, die entrückten Mienen, die man im Düsseldorfer Schwurgerichtssaal bestaunen durfte. Wer gleich ihnen aus nächster Nähe gesehen hat, wie die Milliarden fließend entstehen und vergehen, bleibt vielleicht für den Ernst und die Ansprüche engerer Welten für immer verloren."
Stichwörter: Klein, Georg, Disney, Disney, Walt

TAZ, 26.01.2004

Gabriele Goettle besucht den Wiener Frackspezialisten Josef "Peppino" Teuschler, herausgekommen sind 958 Zeilen zur richtigen Balance des guten Geschmacks. "Das Schwerste ist der Sitz am Frack, also dass er nicht vom Hals geht. Jeder Kunde ist ein bissl anders, der eine ist ein bissl schief z. B. Die Großen gehn gern vorgeneigt, da brauchts einen längeren Rücken. Warum? Weil die immer runterschaun auf die kleinen Leute. Während der Kleine, der geht aufrecht, er schaut nach oben und braucht ein längeres Vorderteil und einen kurzen Rücken. Das sind Wissenschaften."

In der zweiten taz preist Brigitte Werneburg den wunderbar oberflächlichen Helmut Newton (auf OCAIW gibt es ein recht komplettes Werkverzeichnis). "Wer in seinen Bildern Bekenntnisse erwartet statt höchst kunstvoll inszenierter Bagatellen, muss irre sein. Und wer die Wurzeln sucht, muss irre gehen." Dazu noch die dpa-Meldung seines Unfalls. Aus Rom berichtet Michael Braun über den runderneuerten Berlusconi, der sich "selbst an die gefälschten Bilder anzupassen weiß".

Auf der Medienseite spekuliert Steffen Grimberg über den Inhalt des brisanten Untersuchungsberichts zur Kelly-Affäre, der morgen der BBC und übermorgen dem Parlament vorgelegt wird. Und Christoph Schultheis ärgert sich über die langweilige B.Z.

Außerdem gibt es ein Interview mit dem bayerischen Wissenschaftsminister Thomas Goppel (Kurzporträt), der Instant-Elite-Unis für unmöglich und Studiengebühren für wünschenswert hält. Dazu noch eine Meldung zum heute anberaumten Innovationskongress, auf dem die Kommission zur Bestimmung der künftig bevorzugten Hochschulen gewählt wird.

Schließlich Tom.

SZ, 26.01.2004

Furios klagt Karl Bruckmaier über die Krämer und Technokraten des Musikgeschäfts. "Die Liste der Versäumnisse innerhalb dieser dementen Industrie ließe sich seitenweise fortführen, doch keiner würde sie ernst nehmen. Denn Schuld an jedem Unbill ist ja nicht die eigene Unfähigkeit, sondern das von Download-Piraten bevölkerte Internet, eine Weltsicht, die stark an den Hexenwahn des Mittelalters erinnert. Alles lässt sich erklären, nichts kann man machen - das Credo der Renner, Stein, Lange. Keine Träne sei ihnen nachgeweint: Sie haben die Hurerei des Gewerbes eher befördert denn gemildert." Passend dazu denkt Ralf Dombrowski angesichts der Midemnet in Cannes über neue Geschäftsmodelle nach. Sein Fazit. "Die Zukunft der Musikbranche könnte bunt, demokratisch und konsumfreundlich aussehen."

Holger Liebs schildert Helmut Newtons' Leben auf der Rasierklinge, seine Verrücktheit nach Frauen und seine Liebe zu Autos. "Ich bin eine Nutte, eine sehr teure Nutte" soll Newton gesagt haben. Und die SZ hat noch ein paar weitere Zitate gesammelt. Fotografenkollege Stefan Moses trauert kompakt. "Ich bin ihm nicht begegnet. Sein rasanter gnädiger Tod wird länger im Herzen sitzen."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe reflektiert das Sundance-Festival in Utah, erzählt von den Filmen, der Kritik an Gründer Robert Redford und der Kommerzialisierung. Alexander Kissler stimmt uns auf die anstehenden Gesetze zu Gentests an Arbeitnehmern und Präimplantationsdiagnostik ein. Christian Jostmann jubelt über die "Zeithistorischen Forschungen", den neuen Stern am Himmel der publizistischen Organe der Geschichtswissenschaft (Im Netz soll der auch bald aufgehen, ist es aber noch nicht).

Auf der Medienseite verrät Klaus Ott die Probleme des ZDF mit den "Mädchen vom Immenhof". Und Arabella Kiesbauer erzählt im Interview, warum sie nicht aufhört, wenn es am schönsten ist.

Besprochen werden Stephan Kimmigs "gefällig biedermoderne" Inszenierung von Franz Grillparzers Medea-Trilogie "Das goldene Vließ" am Wiener Burgtheater, Hans Neuenfels' "klangprächtige" Version von JanaCeks "Vec Makropulos" an der Stuttgarter Oper, die "eindrucksvolle" Ausstellung des malerischen Werks von Ludwig Richter, die jetzt in der Neuen Pinakothek in München gastiert, und Bücher, darunter Nagib Machfus? "fragwürdig" übersetzter Roman "Der Rausch", Hans-Ulrich Wehlers "hellsichtige" Betrachtungen der "Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts" sowie Lydia Mischkulnigs "Emanzerlprosa" "Umarmung" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 26.01.2004

Auf einige ganz hübsche Gedanken kommt Georg Seeßlen in einem Text über die Marsmissionen, die für ihn nicht nur Wahlkampftrick und Ablenkungsmanöver sind. "Die Marsmission verspricht Reisen an die Grenzen des Staunens. Weit hinaus ins All und tief hinab in die verschütteten Bilder der Kindheit. Eine Sehnsucht, die durch die zehnte Wiederholung von 'Star Trek' nicht gestillt wird. Es ist wirklich Blödsinn, dass Menschen zum Mars fliegen. Aber als Bild und Erzählung, als Wiederherstellung der Mythe Zukunft, als Menschheitstraum macht die Idee Sinn. Und außerdem bietet der neuerliche Aufbruch ins All die Chance, dass 'Amerika' (nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Welt) noch einmal erfunden wird."
Stichwörter: Mars, Seeßlen, Georg, Star Trek

NZZ, 26.01.2004

Christoph Egger nimmt die Preisvergabe auf den Solothurnern Filmtagen zum Anlass, sich Gedanken über den Zustand des Schweizer Films zu machen, zumal des geförderten, und sieht das "Gespenst" des Erfolgs über den Filmtagen schweben: "Es ist wohl schon der erstaunliche Erfolg von 'Achtung, fertig, Charlie!' an den Deutschschweizer Kinokassen, der selbst Spitzenpolitiker dazu brachte, sich eine lichte Zukunft des Schweizer Films auszumalen. Und für diejenigen, die sich beruflich damit abmühen, diesen kargen Acker mit bescheidenen Förderungsmitteln zu bestellen, muss dieser Erfolg wie die endlich erreichte Rechtfertigung ihres Tuns gewirkt haben".

Weitere Artikel: Peter Hagmann bespricht ein Konzert der Bamberger Symphoniker (mehr) in Zürich unter der Leitung des Dirigenten Jonathan Nott, in dem Hagmann einen echten Hoffnungsträger sieht. Claudia Schwartz würdigt das Werk des verunglückten Fotografen Helmut Newton, der "die Modefotografie verändert" habe, "indem er ihr die Unschuld nahm und sie als Kunst der dressierten Körper entlarvte". In einem weiteren Nachruf schreibt Hartmut Fähndrich zum Tod des arabischen Schriftstellers Abdalrachman Munif (mehr). Barbara Villiger Heilig bespricht eine Aufführung von Franz Grillparzers "Das Goldenen Vlies" in Wien.

Nicht frei zugänglich ist ein Report von Saskia Guntermann und Michael Marek
über das gigantische Endlager für hochradioaktiven Atommüll, das die US-Regierung im Yucca Mountain, dem heiligen Berg der Western-Shoshone-Indianer, in Nevada errichten will.

FR, 26.01.2004

Ulf Erdmann Ziegler schreibt den Nachruf auf Helmut Newton (hier noch ein schönes Interview auf Salon.com), verabschiedet einen der "glücklichsten Zyniker unserer Zeit" und wundert sich über dessen Lebenswege. "Der zarte Mutter-Liebling Helmut hätte nach den Regeln des Lebens gut ein homosexueller Dandy werden können. Stattdessen wurde er ein passionierter Ehemann und Playboy, eine seltsame Mischung, die sein Werk beflügelt und zusammengehalten hat." Zusätzlich resümiert Martina Meister Newtons Vita auf der dritten Seite.

Rudolf Walther schimpft über DADAvos, die immer schon sinnlose und jetzt auch noch "volkstümlich-anbiedernde" Show namens Weltwirtschaftsforum. Elke Buhr sinniert in Times mager über das blassgrüne "Kündigungs-ABC: Ein Leitfaden für betriebliche Praktiker zur fehlerfreien Kündigung von Arbeitsverhältnissen", das sie in einer öffentlich-rechtlichen (!) Redaktion abgestaubt hat. Auf der Medienseite freut sich Kathrin Hartmann, dass Klassikradio Fernsehspots mit knackigen Männerhintern schaltet.

Besprochen werden Marc von Hennings "schlichte" Version von Oscar Wildes "Salome" am Schauspiel Frankfurt, Hans Neuenfels' "zahnlose" Inszenierung der "Sache Makropulos" in Stuttgart, und zwei politische Bücher, Marco Carinos "streckenweise spannende" Biografie Fritz Teufels, ein "Who is Who" der alten westdeutschen Linken, sowie Michail Gorbatschows "faktenreiche" Lageeinschätzung und "Manifest für die Erde".

FAZ, 26.01.2004

Gerhard Stadelmaier wollte sich im Burgtheater Grillparzers "Goldenes Vlies" angucken, bekam von Regisseur Stephan Kimmig jedoch nur eine "Antiken-Soap" serviert: "An dieser Medea ist nichts Fremdes, toll Beunruhigendes, faszinierend Abstoßendes, erotisch und sozial Gefährliches, zumal alle großen Monologe und alle Geheimnisse gestrichen sind. An ihr haftet nur etwas unsagbar Hysterisches, Zickiges. Und an diesen Korinthern nichts Hässliches, Fremdenfeindliches, Unmenschliches. Nur etwas unsagbar Banales, Geschlecktes. Überhaupt könnten die sich hier, so schick modern, wie sie sind, doch alle einen Anwalt nehmen und vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg oder Delphi klagen."

Weitere Artikel: In der Reihe über die Lage der Kirchen in Europa meint Dirk Schümer über den Katholizismus in Italien, "gerade die Inkonsequenz und Schmiegsamkeit des gar nicht so unfehlbaren Väterglaubens" mache seine "eigentliche Stärke" aus. Michael Jeismann berichtet von einem internationalen Kolloquium der Förderinitiative der VW-Stiftung in Leipzig, wo über die Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas diskutiert wurde. Mark Siemons analysiert die Studentenproteste in Leipzig und stellt fest: "Es ist eine zur Abstraktion verurteilte Generation, die da den Aufstand probt." Joseph Croitoru wirft einen Blick in die Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, Osteuropa. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Cellisten Rudolf Metzmacher. Gemeldet wird der Tod des Schriftstellers Abdalrachman Munif.

Wilfried Wiegand schreibt den Nachruf auf Helmut Newton, der am Wochenende bei einem Autounfall starb: "Wie Marlene Dietrich hat Newton das Menschenrecht auf Heimweh demonstriert. Beide haben in ihrer Kunst das Berlin zwischen den Kriegen nostalgisch zurückgeholt: mit der verruchten Libertinage jener Jahre, aber auch mit deren Eleganz und Urbanität." Ingeborg Harms kündigt einen Fotoroman von Newton an, der auf der letzten Seite des Feuilletons zu bewundern ist: Ein Fotograf soll eine Frau fotografieren, nackt, an einem Ort, der für Fotografen verboten ist ...

Auf der Medienseite erfahren wir aus einer Meldung, dass drei Viertel aller Russen eine Zensur der Massenmedien für notwendig halten (da werden sie ja gut bedient), Frank Kaspar stellt popXport, das neue Musikmagazin der Deutschen Welle vor, und Christian Deutschmann berichtet von stürmischen Protesten gegen das Häppchenprogramm von Kulturradio, das in Berlin die Klassiksender Radio Kultur und Radio 3 ersetzt.

Besprochen werden Hans Neuenfels' "phantasievolle" Inszenierung von Leos Janaceks Oper "Die Sache Makropulos" in Stuttgart, Oscar Wildes "Salome" im Frankfurter Schauspiel, eine Ausstellung zum Genre des Gruppenporträts im Palazzo Venezia in Rom, die deutsche Erstaufführung von Verdis "Gustavo III.", einer Urfassung des "Maskenballs", John Woos Film "Paycheck" und Bücher, darunter Opritsa D. Popas Studie über den Diebstahl des Hildebrandliedes und Sachbücher, die sich mit Rechtsfragen und Ethnopsychoanalyse befassen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).