Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2004. Die SZ findet, wir sollten uns ein Beispiel an der amerikanischen Philanthropie nehmen. Die NZZ schlägt sich auf die Seite des norwegischen Königshauses. In der taz kritisiert der Politikwissenschaftler Benjamin Barber die Wahlkampfberichterstattung der amerikanischen Medien. Die FAZ feiert die Macht des Internets in China.

SZ, 30.01.2004

Andrian Kreye erinnert alle, die dem amerikanischen Wirtschaftsmodell das Wort reden, dass es seit alters her mit einer Philanthropie einhergeht (während in Europa die Ackermänner höchstens die Essers bedenken). "Sie ist in Amerika bei weitem nicht nur launischer Luxus der Reichen, sondern eine Tradition von gesellschaftlicher und auch volkswirtschaftlicher Bedeutung. Ausgerechnet einer der berüchtigten Räuberbarone des Eisenbahnbooms begründete diese Tradition. Der Stahlmagnat Andrew Carnegie, der zu seiner Zeit als reichster Mann der Welt galt, veröffentlichte 1889 im American Review den grundlegenden Essay 'The Gospel of Wealth'. 'Das Problem unserer Zeit ist die Verteilung des Geldes, damit das Band der brüderlichen Gemeinschaft Arm und Reich in einer harmonischen Beziehung halten möge', schrieb er. Die dekadenten Stände Europas verfluchte er dafür, dass sie ihren Reichtum dem verwöhnten Nachwuchs überließen, der ihn doch nur verplempere. Posthume Stiftungen seien der Unfähigkeit ihrer Verwalter ausgeliefert. 'Wer reich stirbt, hat Schande über sich gebracht', erklärte er später."

Georg M. Oswald (mehr hierkonstatiert im Streit um Enzensberger, Anonyma et al.: "Es geht in diesem Fall nicht um Straftat und Schuld, erst recht nicht um religiöse Glaubensfragen, es drohen keine Freiheitsstrafen und schon gar keine peinlichen Befragungen. Es geht lediglich um Tatsachenbehauptungen, die einen besonderen Wahrheitsgehalt für sich beanspruchen, unters Volk gebracht von einem Verleger und seinem Herausgeber, und da hat zu gelten, was unter freien Bürgern in einem freien Land allgemein gelten sollte, und das wäre: Jeder hat die Tatsachen, auf die er sich beruft, zu beweisen, sobald sie bestritten werden."

Weitere Artikel: Tariq Ali würdigt den verstorbenen Patriarchen der arabischen Literatur, Abdalrahman Munif (mehr hier). Christine Dössel spricht mit dem Intendanten der Münchner Kammerspiele Frank Baumbauer über die angebliche Krise seines Theater. Am Rande begrüßt "zig" freudigst alle versuche, die Ästhetikerziehung von Kindern so früh und nachhaltig wie möglich in gang zu setzen. Nach einem allzu "schwungvoll-wilden" Tschaikowsky-Konzert von Valery Gergiev und dem Petersburger Mariinsky-Orchester in München weiß Joachim Kaiser wieder die "faden Feintuer" zu schätzen. Thomas Steinfeld bedauert, dass Harald Bergmanns Film "Passion Hölderlin" nicht beim heutigen Arte-Themenabend gezeigt wird.

Auf der Medienseite hält Raphael Honigstein fest, dass "alle seriösen Zeitungen" die Einseitigkeit des Berichts von Lordrichter Hutton zum Fall Kelly-Gilligan kritisiert haben. Demnach habe der Richter kein Verständnis für journalistische Arbeitsweisen gezeigt und ignoriert, dass die Regierung in einem Waffendossier von 2003 die Kriegsgründe tatsächlich übertrieben dargestellt hat.

Besprochen werden die Aufführung von Leo Janaceks "Katja Kabanova" in Frankfurt und zwei Studien von Michael Wildt über das Reichssicherheitshauptamt und den Sicherheitsdienst der SS (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 30.01.2004

"Warum abreißen, was funktioniert?", fragt der norwegische Lyriker Jan Erik Vold (mehr hier)und schlägt sich damit wie viele seiner Kollegen auf die Seite des Norwegischen Königshauses, über dessen Zukunft im Frühling in einer Volksabstimmung entschieden werden soll, wie Aldo Keel berichtet. "Zudem hätten sich, so Vold, die Königskinder 'spannende Partner' ausgesucht, der Kronprinz eine alleinerziehende Mutter und die Prinzessin den Schriftsteller Ari Behn. Vold schliesst: 'Lasst die Monarchie in Frieden, und ehrt den Klassenkampf.'"

Weitere Artikel: Angela Schader trauert um die neuseeländische Schriftstellerin Janet Frame (mehr hier), die durch Jane Campions "Ein Engel an meiner Tafel" weithin bekannt wurde. Katharina Holderegger hat eine Wanderausstellung im Gedenken an Peter Kneubühler besucht. Samuel Herzog freut sich über die Wiedereröffnung des Kunsthauses "Filiale" in Basel und Anette Mahro porträtiert den Basler Architekten Roger Diener, ein Teil des Architekturbüros "Diener und Diener".

Auf der Filmseite bespricht Robert Richter den mit dem Golden Globe für den besten nichtenglischsprachigen Beitrag ausgezeichneten Film "Osama" von Siddiq Barmak, der nichts mit Bin Laden, aber sehr viel mit den Taliban zu tun habe. Andreas Maurer hat "21 Grams" von Alejandro Gonzalez Inarritu gesehen, und Werner J. Marti bespricht den neuesten Dokumentarfilm von Richard Dindo ("Ni olvido ni perdon"), der sich mit dem Massaker an demonstrierenden Studenten in Mexico City im Jahr 1968 beschäftigt. Außerdem zeigt sich Andrea Spalinger von dem dritten Dokumentarfilm des französischen Filmemachers Georges Gachot über die Arbeit des Kinderarztes Beat Richner in Kambodscha, "Geld oder Blut", beeindruckt.

Obwohl man schon länger Pop-ups auf dem Bildschirm unterdrücken, gab es äußerst heftige Reaktionen auf die Ankündigung von Microsoft, einen Pop-up-Blocker für den Internet-Explorer anzubieten, berichtet S.B. auf der Medien- und Informatikseite. "Dabei wurde deutlich, dass viele Werbetreibende die Computer mit einem Fernsehgerät verwechseln und glauben, die Kontinuität der Unterbrecherwerbung mit programmiertechnischen Gewaltmaßnahmen sicherstellen zu können." Als Gegenschlag hat die New Yorker Firma Unicast eine neue Form der Online-Werbung entwickelt, die wiederum Werbeblocker blockieren kann - per Video.

Weitere Artikel: "Philips will biegsame Monitore bald in großen Stückzahlen fertigen", meldet ebenfalls S.B. und verspricht: "Bald wird man den Bildschirm, auf dem man die neuesten News konsumiert, auch dazu verwenden können, das Znüni-Brötchen einzuwickeln". (Wir würden gern mehr über diese unbekannte Schweizer Spezialität lesen!). Außerdem lesen wir, dass Peter Gabriel und Brian Eno eine Gewerkschaft gründen wollen: Magnificent Union of Digital Downloading Artists (Mudda): "Mit Hilfe des von ihm mitgegründeten Download-Dienstes OD2 will Gabriel nicht nur Plattenfirmen, sondern auch den Künstlern ermöglichen, über ihre eigene Website Musik zu einem beliebigen Preis direkt an ihre Fans zu verkaufen."

FR, 30.01.2004

Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hat vorgeschlagen, seine Institution in "Stiftung Nationaler Kunstbesitz" umzubenennen, berichtet Ulrich Speck. Offenbar hofft Lehmann so, den Ländern leichter Geld aus der Tasche locken zu können. Ulrike Kolb gratuliert dem israelischen Lyriker und Fotografen Tuvia Rübner (mehr) zum Achtzigsten. Gemeldet wird der Tod der australischen Schriftstellerin Janet Frame ("Ein Engel an meiner Tafel").

Besprochen werden eine Julian Schnabel-Retrospektive in der Frankfurter Schirn, eine Neuinszenierung von Janaceks "Katja Kabanova" in Frankfurt und Andreas Kriegenburgs "Kurz vorm Vergessen" am Hamburger Thalia Theater.

TAZ, 30.01.2004

In einem Interview auf der Meinungsseite kritisiert der Politikwissenschaftler Benjamin Barber ("Imperium der Angst") die Wahlkampfberichterstattung der amerikanischen Medien: Politische Inhalte würden ausgeblendet, statt dessen gehe es nur um Unterhaltung. "TV und Radio haben ein immanentes Interesse, ein aufgeregtes, irrationales Rennen zu fahren, Kandidaten aufzubauen, dann zu Fall zu bringen. All das hat einen unmittelbaren Effekt auf die Wähler ... Bei Inhalten und Charakter, das zeigen Umfragen, bevorzugen die Wähler Dean. Bei der so genannten Wählbarkeit liegt Kerry deutlich vorne. Und dieses Thema ist von den Medien konstruiert." Doch genau aus diesem Grund sagt Barber ein Comeback von Howard Dean voraus: Die Öffentlichkeit "hat es satt, von der Presse gesagt zu bekommen, für wen sie zu stimmen hat. Wenn also Journalisten Dean nun bereits totsagen, könnte ihm das sogar nützen."

Im Feuilleton freut sich Harald Fricke über Amp Fiddlers neue CD: "Wer hat mit dem Album 'Waltz of a Ghetto Fly' für die nächsten Monate die Zukunft des Neo Soul am Start? Und wer wird mit der daraus ausgekoppelten Single 'Superficial' die Leute verrückt machen, bis sie den Refrain auf der Straße blöken, als hätten sie Lachgas inhaliert? Eben, es geht wieder was, schöne Grüße, Ihr Amp Fiddler." Hören Sie selbst!

Weitere Artikel: Daniel Bax berichtet, dass kaum ein Hollywoodschauspieler zur Berlinale kommen wird. Der Grund: Die Oscar-Verleihung wurde auf den 29. Februar vorverlegt, so dass sich die Vorbereitungen mit den Festspielen in Berlin überschneiden. Uh-Young Kim bespricht ein neues Album der Jazz-Koryphäe Roy Ayers (hier was zum Hören).

Der Konflikt zwischen Bundeswirtschaftminister Wolfgang Clement (SPD) und Bundeskartellamtspräsident Ulf Böge über eine Änderung der Fusionskontrolle bei Verlagen spitzt sich zu, berichtet Steffen Grimm auf der Medienseite. "Schon das Anheben der Schwelle, ab der Fusionen beim Kartellamt angemeldet werden müssen, von heute 25 Millionen auf dann 50 Millionen Euro Umsatz wird laut Böge zu einem deutlichen Konzentrationsschub in der Presselandschaft führen ... Doch eine solche Erhöhung der Kartellschwelle sei noch 'harmlos im Vergleich zum Redaktionsmodell', in dem 'Strohmanngeschäfte geradezu angelegt' wären: Theoretisch sei sogar ein komplettes Pressemonopol nicht mehr zu verhindern, solange jeweils Juniorpartner zur Verfügung stünden."

Schließlich Tom.

FAZ, 30.01.2004

Welche Macht das Internet in China trotz Zensur gewinnt, zeigt Zhou Derong an einem Fall der die chinesische Öffentlichkeit erregte: Eine reiche BMW-Fahrerin überfuhr eine Bäuerin und wurde dafür (angeblich weil sie Tochter einer hohen Funktionärin ist) allzu milde bestraft. Es hagelte Proteste und Zeugenaussagen im Netz. Vielleicht wird das Netz den anfänglich in es gesetzten Hoffnungen doch noch gerecht? "Schon gibt es in China knapp achtzig Millionen Nutzer, täglich steigt ihre Zahl um mehr als fünfzigtausend. Nach der jüngsten Untersuchung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften verbringen junge Leute heute nicht nur mehr Zeit mit dem Internet, sie betrachten es mehr und mehr als ihre erste und zuverlässigere Informationsquelle."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier zitiert die Stimmen empörter Schriftsteller, die sich über neuerliche Anläufe zur Rechtschreibreform erregen und eine deutsche Academie francaise fordern, um sich solcher Zumutungen zu erwehren (dann müssen die Damen und Herren aber auch Frack und Degen tragen!) Gina Thomas berichtet über Kritik an Lord Hutton, der in seinem Bericht über die Kelly-Affäre die Regierung schonte und nun von Freunden Blairs zur sofortigen Adelung empfohlen wird. Paul Ingendaay resümiert eine Tagung an der Universität San Pablo, in der sich Opfer von Terrorismus aussprachen und stellt fest, dass der ETA-Terrorismus in Spanien immer einmütiger geächtet wird. Martin Kämpchen berichtet über laue Reaktionen der indischen Presse auf das Weltsozialforum. Joseph Hanimann stellt ein Papier vor, in dem französische Juden (darunter Alain Finkielkraut) und Nichtjuden eine Neudefinition des Verhältnisses der Juden zu Frankreich fordern. Matthias Grünzig klagt, dass in der Stadt Altenburg aufgrund der Finanzmisere, die sie mit so vielen anderen ostdeutschen Städten teilt, immer mehr Altbausubstanz abgerissen wird.

Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld das erfolgreiche Fernsehproduzentenpaar Philip Voges und Mischa Hofmann (company people projects news) und erwartet sich einiges von der heute anlaufenden "Schulmädchen"-Serie. Paul Ingendaay berichtet beeindruckt von einer spanischen Dokumentation über die Arbeit des "Vereins zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses", der die Überreste von Bürgerkriegsopfern exhumiert und zu identifizieren versucht.

Für die letzte Seite besucht Hansgeorg Hermann den bunt geschminkten Palast von Knossos, der Touristen in Kreta als Antike verkauft wird. Andreas Rossmann hat in Wanne (der einen Hälfte von Wanne-Eickel) eine Ruhrpottversion von Romeo und Julia gesehen (die Tragödie spielt hier zwischen Dortmund- und Schalke-Fans). Und Richard Kämmerlings porträtiert die Lyrikerin Marion Poschmann, von der auf Seite 1 des Feuilletons auch ein Gedicht veröffentlicht wird: "Glasuren des Januar, carne vale"

Besprochen werden eine große Julian-Schnabel-Ausstellung in Frankfurt ("eine Bewertung, eine Einrodnung dieses Vierteljahrhunderts raumgreifender Entäußerung gestaltet sich sattsam kompliziert", seufzt die Kritikerin Rose-Maria Gropp), Janaceks "Katja Kabanova" in der Frankfurter Oper, Michel Levinas' Oper "Les negres" nach Genet in Lyon, eine Wiener Ausstellung über den Autor Gerhard Roth und der Hape-Kerkeling-Film "Samba in Mettmann".