Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2004. In der FAZ empfiehlt der Software-Pionier Charles Simonyi, sich bei der Weltraumforschung an die Russen zu halten. Die taz beschreibt die Vogelgrippe als evolutionäre Erfolgsgeschichte. In der FR fordert der Historiker Armin Nolzen eine Neuorientierung der NS-Forschung. Der NZZ tut die deutsche Rechtschreibung sehr leid, beziehungsweise Leid. Die SZ ärgert sich über das tantenhafte Geschnatter des Literaturbetriebs. Die Welt bringt ein Interview mit Thor Kunkel.

FAZ, 04.02.2004

Der Software-Pionier Charles Simonyi, Erfinder von Word und Excel (mehr hier und hier), macht sich Gedanken, wie man die Raumfahrt vorantreiben könnte. Sein Vorschlag: Wissenschaftliche und private Institutionen müssten so zusammen arbeiten, wie sie es auch bei der Genomforschung getan haben. "Die Regierung bestimmte das Ziel, und Wissenschaftler, Privatindustrie und Finanziers kooperierten und wetteiferten, um Geld und Aufmerksamkeit zu erlangen." Immerhin gebe es "ein interessantes Vorbild" für die Erforschung des Weltalls durch eine nationale Akademie. "Während des Wettrennens zum Mond war die Sowjetische Akademie der Wissenschaften nach außen hin zuständig für die Raumfahrt. Doch während die Sowjets ihre politischen Abenteuer in einer wissenschaftlichen Organisation versteckten, könnten wir in den Vereinigten Staaten unsere wissenschaftlichen Abenteuer in einer politischen Organisation verstecken. Wir sollten unsere russischen Freunde nach ihren Erfahrungen fragen."

Verena Lueken hat das Teheraner Theaterfestival besucht und fragt sich, warum es das iranische Theater nicht halb so weit gebracht hat wie der iranische Film: Lauter einfallslose Inszenierungen, und auch das Publikum habe sich verändert. Lueken zitiert den Regisseur Roberto Ciulli, der mit seinem Theater an der Ruhr seit fünf Jahren zu dem Festival reist: "Während in vergangenen Jahren das Publikum und die iranischen Journalisten diskutieren wollten, sich engagierten, neugierig fragten, traut sich heute offenbar niemand, offen zu sprechen. Die Pressekonferenz jedenfalls bezeichnet der Regisseur selbst als 'jämmerliche Veranstaltung', bei der ein paar unbedarfte Nachwuchsjournalisten nur eine Frage stellten: Warum gab es keine Übersetzung des Textes ins Farsi?"

Weitere Artikel: Hpr. meldet, dass die Malewitsch-Erben das Amsterdamer Stedelijk Museum vor einem Washingtoner Gericht auf Rückübereignung von vierzehn Bildern verklagt haben, die kürzlich als Leihgabe in den USA gezeigt wurden. Ob die Klage erfolgreich sein wird, hängt unter anderem davon ab, ob sich die Bilder noch in Amerika befinden. Paul Ingendaay erklärt, wie die spanische Regierung versucht, mit einem neuen Gesetz Andalusien bei der Stammzellforschung auszubremsen. Madrid möchte diese gewinnbringende Forschung gern unter eigener Regie durchgeführt wissen. Gina Thomas schreibt zum Tod des britischen Historikers und ersten Hitler-Biografen Alan Bullock. Monika Osberghaus hat gehört, wie auf einem Kongress in Leipzig mehr musische Bildung in den Schulen gefordert wurde. Jürg Altwegg berichtet von einem revisionistischen Geschichtsbuch in der Schweiz, das der Historiker Peter Stadler mit finanzieller Unterstützung von Christoph Blocher verfasst hat. Gleichzeitig haben sich zehn Mitarbeiter des Schweizer Bundesamts für das Flüchtlingswesen als Sonntagshistoriker betätigt und in einem Buch die Geschichte von zehn prominenten Flüchtlingen - darunter Thomas Mann und Robert Musil - beschrieben, auf das künftig alle Flüchtlinge gleich behandelt werden. Tw. gratuliert der Fotografin Candida Höfer (mehr) zum Sechzigsten. Hans-Dieter Seidel schreibt den Nachruf auf O.W. Fischer.

Auf der Medienseite schildert Jordan Mejias die Aufregung um Janet Jacksons entblößten Busen. Kho. berichtet von einem Bombenanschlag auf die Moskauer Reporterin Jelena Tregubowa, die mit ihrem Buch "Geschichten eines Kreml-Diggers" die Regierung verärgert hatte. Auf der letzten Seite porträtiert Thomas Wilke den Erbauer von Sacre Coeur, Paul Abadie. Oliver Tolmein beschreibt den Fall eines britischen Rollstuhlfahrers, der die Fluggesellschaft Ryanair verklagt hat, weil sie ihm und seinem Rollstuhl keinen kostenlosen Transport ins Flugzeug bot.

Besprochen werden das Festival "Musik der Zeit" beim Westdeutschen Rundfunk, eine Fotoausstellung zur Architektur des Hygiene-Museums in Dresden, Bent Hamers Filmkomödie "Kitchen Stories", ein Konzert der Norwegerin Ane Brun (fast alle ihre Songs "tragen ein Mäntelchen aus Moll", schreibt Andreas Obst, "und es steht ihnen gut") und eine Ausstellung der Fotos von Edmund Kesting in der Technischen Sammlung der Stadt Dresden.

FR, 04.02.2004

Der Zeithistoriker Armin Nolzen greift die Debatte um die NSDAP-Eintritte junger Intellektueller auf und leitet daraus die Forderung nach einer Neuorientierung der gesamten NS-Forschung ab: " Die NS-Forschung sollte die momentane Debatte um die Mitgliedschaft in der NSDAP zum Anlass nehmen, kritisch über ihre bisherigen analytischen Schwerpunkte nachzudenken. Blättert man etwa in den einschlägigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Dritten Reiches, so wird man meist vergeblich nach der NSDAP Ausschau halten. Dort konzentriert man sich fast ausschließlich auf die staatliche Politik. Ähnliches gilt für Hans-Ulrich Wehlers kürzlich publizierte "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" von 1914-1949, in der (wieder einmal) Hitler im Zentrum steht. Eine detailliertere Untersuchung der NSDAP, ihrer Rekrutierungsmuster und Mobilisierungsstrategien nach 1933 hätte tiefere Einblicke in die NS-Gesellschaft ermöglicht, als Wehler sie zu präsentieren vermag."

Weitere Artikel: Claus Lochbihler porträtiert die offensichtlich phänomenale Soul-Hoffnung Joss Stone ("Joss Stone ist hellblond, erst 16, noch dazu vom Land und aus einer wohl behüteten Familie der englischen Mittelschicht, singt aber ... so ergreifend wie eine hart geprüfte Soul-Mama"). Dirk Fuhrig erbringt "zwingende Beweise dafür, dass das Chanson lebt" und nennt etwa Corinne Douarre und Tim Fischer - zum Artikel gehört ein Kasten mit vielen Links. Peter W. Jansen schreibt zum Tod von O. W. Fischer. Peter Michalzik erinnert in Times Mager daran, dass im Casus Kunkel "nicht mehr geschehen (ist), als dass ein Verlag ein Buch nicht veröffentlichen will". Frank Keil besucht die Ausstellung "Die Universität ist eine Fabrik" im Lüneburger Kunstraum, die von Roger M. Bruegel, dem Leiter der nächsten Documenta kuratiert wurde (der machte dann auch gleich klar, dass "die Ausstellung sich dem Thema durch ihre Form zu nähern hätte und damit das Einzelwerk nachrangig sei").

Besprochen werden außerdem zwei neue Romane von Stewart O'Nan.

NZZ, 04.02.2004

Joachim Güntner seufzt über neuerliche Anläufe zur Rechtschreibreform: "Erlaubt ist so beispielsweise neben der Neuschöpfung 'Leid tun' auch die Schreibung 'leidtun' - nicht aber die grammatisch richtige: leid tun."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz stimmt auf das Programm der Berlinale ein. Peter W. Jansen schreibt den Nachruf auf O. W. Fischer. Besprochen werden eine Gerry-Schum-Retrospektive in der Kunsthalle Düsseldorf, ein Bob-Wilson-Spektakel nach La Fontaine in Paris und einige Bücher, darunter Patrick Dondelingers "behutsame" Untersuchung "Die Visionen der Bernadette Soubirous und der Beginn der Wunderheilungen in Lourdes" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 04.02.2004

Cord Riechelmann weist darauf hin, dass der Übersprung von Krankheitserregern vom Tier zum Mensch (Vogelgrippe!) eine evolutionäre Erfolgsgeschichte ist, zumindest vom Viren-Standpunkt aus: "Die Erreger von Tuberkulose, Malaria, Pest, Cholera, Pocken und Masern sind allesamt tierischen Ursprungs und spielen in ihren tierischen Ahnen als Krankheitserreger keine Rolle mehr. Vom Standpunkt der Mikroben aus gesehen, hat sich der Wirtswechsel bezahlt gemacht. Nimmt man nur die Geißel Aids und seinen Erreger, das HI-Virus, dann erreicht das Virus heute ganz andere Gegenden und Wirte, in denen es gedeihen kann, als wenn es in der kleinen Affenkolonie geblieben wäre, in der man den Ursprung des Virus vermutet."

Weiteres: Ira Mazzoni stellt fest, dass das Münchner Haus der Kunst mit Abigail OBriens "Sieben Sakramenten" im "Bereich von naiven und überfrachteten Sinnbildern gelandet" ist. Christian Semler schreibt den Nachruf auf den ersten Hitler-Biografen und "engagierten Intellektuellen" Alan Bullock. Gerrit Bartels fände es einen schönen Nebeneffekt der jüngsten Literatur-Aufwallungen, wenn mal ein Buch von Martin Mosebach auf den Bestsellerlisten landen würde.

Und noch TOM.

Welt, 04.02.2004

Die Welt bringt ein Interview mit Thor Kunkel zu seinem bei Rowohlt nun nicht erscheinenden Roman "Endstufe". Er spricht über Houellebecq, Bio-Forschung und die literarische Intention seines Romans: "Man lernt eine Art jeunesse doree des Dritten Reiches kennen, für die der ganze Horror von Kriegsgeschehen und Holocaust nur als Nebengeräusch im Hintergrund abläuft. Das habe ich ganz bewusst so angelegt, weil es dadurch umso schockierender wirkt. Das ist doch besser, als die Klischees und Allgemeinplätze herunterzubeten. Ich bin Künstler. Ich muss Neues wagen."

Die auffällige Häufung kleinerer Literaturskandale in letzter Zeit wird im Forum von Eckhard Fuhr kommentiert: "Das textkritische Volksvermögen wächst."

SZ, 04.02.2004

"Keine zwei Wochen vergehen jetzt mehr zwischen den Skandalen, und jedes Mal verfällt der literarische Betrieb in Deutschland in ein erregtes, auf unangenehme Weise tantenhaftes, von glühender Neugier durchdrungenes Geschnatter", befindet Thomas Steinfeld zu Anonyma, Asserate und jetzt auch noch Thor Kunkel. Er macht darin eine Krise aus, über die die "kolportierende Literatur" und das "dem Zeitgeist verpflichtete Feuilleton" munter hinwegschreiben. Doch die Aufmerksamkeitsheischerei hat schwere Folgen. "Zuerst für die Literatur. Auf dem Feld, auf dem Kunst und Leben nicht mehr auseinander zu halten sind, verwandelt sie sich in ein Trüffelschwein, das den feuchten Boden nach den Knollen des Obszönen durchwühlt." Schließlich die Frage: "Wie lange schon hat es keine ästhetische Debatte, keine Auseinandersetzung um poetische Formen mehr gegeben?"

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Josef Haslinger ("Das Vaterspiel"erzählt, wie er auf der Autobahn in eine Zollkontrolle geriet. Mit Sympathie, aber Skepsis begegnet Jens Bisky der Initiative der Kulturstiftung der Länder und der Bundeszentrale für politische Bildung, die ästhetische Erziehung von Kindern zu fördern. Thomas Thieringer verabschiedet den "Jahrhundertschauspieler" O.W. Fischer. Alexander Kissler berichtet von neuem Konfliktstoff in der medizinischen Gemeinschaft: "nachgeburtliche Abtreibung", also Tötung, eines schwer behinderten Kindes und die "Eigenverantwortung" des Patienten. Simone Kaempf war beim Berliner Festival Internationale Neue Dramatik.

Francesca Giudice unterhält sich mit dem Sprachforscher und früheren Bildungsminister Tullio de Mauro über Italiens 43 Prozent Analphabeten. Andrian Kreye erklärt, wie das große Haushaltsdefizit in den USA Ausdruck eines Freiheitsgedankens wurde: "Starve the biest" heißt die Maxime, nach der hohe Schulden und geringe Steuern zu weniger Apparat und Sozialprogrammen führen sollen.

Besprochen werden die Paul-Klee-Ausstellung in der Kunsthalle Bremen, Hape Kerkelings neue Komödie "Samba in Mettmann", Len Wisemans Horrorfilm "Underworld", Barbara Beyers "Wozzeck"-Inszenierung in Aachen und Bücher, darunter zwei Bände zu Königin Luise von Preußen und das Tagebuch von Dacia Marainis Mutter "Ein Schiff nach Kobe" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).